Sanierung heisst Gesundmachen: Rainer Graff

Nachruf Rainer Graff geb. 1941

Waldermarstrasse1975

„Als Gymnasiast gilt Rainer als introvertierter Träumer, der es im Leben schwer haben wird. 15 Jahre später schlägt er als freiberuflicher Architekt und Stadtplaner in SO 36, Kreuzberg, auf, im Schatten der Mauer, abgeschrieben, sich selbst überlassen. Viele Probleme, viel Fluktuation. Marode Altbauquartiere aus der Gründerzeit, riesige Fabriketagen, die Gewerke längst verschwunden. Lebensqualität sieht anders aus, wer kann, zeigt dem Quartier den Rücken. Wer hier bleibt, hat keine oder nur diese eine Wahl: Alte, Arme, Lebenskünstler und Migranten.

Wie viele ist auch Rainer ein Zugezogener, aber einer mit Visionen, die er nun umzusetzen versucht: anders wohnen, anders arbeiten, anders denken, anders leben.

Für sich und für andere. Der gelernte Maurer weiß, wo er anzusetzen hat – an der Bausubstanz, die es zu erhalten gilt. Die Mieten sind lächerlich. Mit Monika, Lebensgefährtin und bildende Künstlerin, beziehen sie eine 200 Quadratmeter große Fabriketage in der Naunynstraße, die keine 100 Mark kostet. Dafür ist sie aber im Winter auch nicht beheizbar. Sie suchen Gleichgesinnte mit ähnlichen Problemstellungen und Interessenlagen: „Neues Leben in alten Fabriketagen.“

Schnell spricht sich das im Kiez herum, es herrscht Aufbruchsstimmung. Theaterleute, Freiberufler und andere Wagemutige treffen sich auf Rainers Frühstücksfesten, die alle zusammenbringen. „Geht nicht? Gibt’s nicht!“ – Rainer, längst nicht nur Vordenker, sondern Macher, ist in seinem Element. Er baut eine Zentralheizung um Ölöfen, entwirft Schlafhöhlen aus Wetterballons und Hütten, die der eisigen Kälte in den riesigen Räumen trotzen sollen. Nach der Geburt seiner Kinder entstehen neue, für sie gedachte Räume im Raumsystem.

Die Verbindung von Leben und Arbeiten nimmt Konturen an. Nebenbei schreibt er an seiner Doktorarbeit „Antworten des Körpers auf städtische Räume“, mehr als fünf Jahre lang. Eine Herzensangelegenheit, eher experimentell als empirisch, die ein absurdes und abruptes Ende findet, als er seine handschriftlichen Notizen in einem Karton auf dem Autodach vergisst und losfährt.

Als er nach Kreuzberg zurückrast, fliegen einige Blätter vom Wind bewegt über den Oranienplatz. Den Rest hat die Müllabfuhr beseitigt, eine Rekonstruktion ist unmöglich. Er trägt es mit Fassung. Für die Universität und eine klassische akademische Laufbahn ist der Individualist mit Freiheitsdrang, der Systemen skeptisch gegenübersteht, sowieso nicht geschaffen. Er ist sein eigenes System. Und in Kreuzberg gibt es für ihn genug zu tun.

Die Hausbesetzerbewegung hat sich formiert. Rainer hat mit den heterogenen, oft politisch radikalen Gruppen keine Berührungsängste. Immerhin hat ihn der Geist der 68er ja auch gestreift, auch wenn er politischen Heilsversprechen eher indifferent begegnet. Der kleinste gemeinsame Nenner ist die Bewahrung der heruntergekommenen Altbausubstanz durch die Instandsetzung unter ökologischen Gesichtspunkten. Das ist für alle Neuland. Rainer hetzt von Versammlung zu Versammlung, formuliert Ziele und treibt Fördergelder auf, trifft auf Zustimmung und entschlossene Ablehnung. Er gründet einen Verein und einen alternativen Sanierungsträger, kommuniziert mit allen Parteien und Institutionen und vernetzt die verschiedensten Initiativen. Sein scheinbar autoritäres, zielorientiertes Auftreten macht ihn angreifbar.

Er braucht lange, um Gegenpositionen akzeptieren zu können. Von „Graf Naunyn“ oder „Architektenmafia“ ist die Rede, aber davon lässt er sich nicht beeindrucken, wenn er in weißer Maurerhose auf seiner Solex von Baustelle zu Baustelle fährt. Die Internationale Bauausstellung 1987 hat schon im Vorfeld Gelder in den Kiez gespült, die vieles ermöglichen, was sonst Utopie geblieben wäre. Dachbegrünungen, der freie Kinderladen „Langer Rüssel“, den er auch für seine Kinder mitbegründete, Gewächshäuser und Hofgärten genauso wie sein Abwasserprojekt „Vertikalsumpf“, das seine Gegner als „Rheinfall von Schaffhausen“ verlachen.

An einer Hauswand läuft das Brauchwasser von oben nach unten durch ein ausgeklügeltes, mit Schilf bepflanztes Tonnensystem, um gefiltert als Grauwasser wieder (ver) wendbar zu sein. Auch wenn die Anlage heute nicht mehr in Betrieb ist, die Tonnen an der Hauswand erinnern an die Kühnheit des Versuchs. Andere Spuren seines Wirkens sind aus dem öffentlichen Raum verschwunden. Zum Beispiel das Objekt „Windfühler IV“ auf dem Oranienplatz, ein vertikal gekippter Katamaran, dessen Segel sich nach dem Wind richteten und den gespannten Drähten sphärische Klänge entlockten. Oder die Kletterskulptur „Ost-Geist“ aus Bambus, mehr als drei Meter hoch, gekrönt von einer japanischen Maske.

Nach dem Mauerfall eine berufliche Enttäuschung, ein lang vorbereitetes Projekt erhält den Zuschlag, aber sein Name fehlt. Er verlässt Kreuzberg, ein beruflicher, dann ein privater Neuanfang. Er zieht an den Wannsee. Neue Lebensgefährtin, zwei kleine Kinder, für Jahre ein Verwaltungsjob bei der Landesentwicklungsgesellschaft in Potsdam. Trotzdem behält er seine Fabriketage in Kreuzberg, ein Schauraum für seine Designobjekte wie die Loftbox. Plötzlich eine schwere Krankheit, für die sein wacher Geist keine Problemlösung findet. Eine Trauerfeier, auf der sich viele Kreuzberger einfinden. Ihr Lebensraum sähe ohne ihn grauer aus.“ Erschienen im Tagesspiegel vom Sonnabend, d. 25. Mai 2013 geschrieben von Erik Steffen

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Wirbleibendrinwibleibendrin-2Wandmal By-nc-sa_colorIMG_3013-300x199Fotos von Helmut Schönberger und Jens Meyer. Im Bild (oben) ist Rainer Graff beim Malen zu sehen. (Der Herr mit dem Lockenkopf in der Mitte des Bildes)

Waldemarstrass19756walde2WaldemarstrassePlakatWaldemarstrasse19757milpferd_einauge

5. Mai 1975
Wenn MalerInnen nichts mehr einfällt, dann malen sie die Bilder ab. (Siehe Bild oben und siehe Bild unten)



Abgeschrieben in der Bernhard Nocht Strasse (Parallel Strasse zur St. Pauli Hafenstrasse). Für ALLE ABSCHREIBERINNEN gilt: Man sollte doch darauf achten, das das ABGESCHRIEBENE auch RICHTIG ist. Hier wurde FALSCH abgeschrieben! Die MalerInnen der Hafenstrasse meinten etwas ANDERES, was auch an dem beigefügten Bild (siehe oben) deutlich wird. Regel Nr. 1 beim ABSCHREIBEN lautet: Was frauman nicht im Kopf hat, sollte manfrau auch nicht aus dem Ärmel schütteln!

Stolpersteine für die Reeperbahn Nummer 1

IMG_2702StolpersteinIMG_2709StolpersteinIMG_2712StopersteinnilfpferdkleinBy-nc-sa_colorFotos Jan Johannsen Jens Meyer + Miguel Manzanilla Urich SassStolpersteine vor den Tanzenden Türmen Reeperbahn 1 Foto Jan Johannsen 24. Oktober 2017Fotos Grabsteine Jens Meyer

 

Nachtrag: David Urich Sass und Anita Urich Sass

Peter Offenborn hat es herausgefunden (nach der Kultussteuerkartei der Jüdischen Gemeinde). Der Vater von Hermann Urich Sass war David Urich Sass, geb. am 05. Mai 1861 in Lemberg (Galizien), das damals zu Österreich gehörte. Gestorben ist er am 24. Januar 1922 in Hamburg (Beerdigt auf dem Jüdischen Friedhof in Hamburg Ohlsdorf). David Urich Sass war von Beruf Kaufmann. Sein Sohn Hermann Urich war zeitweise angestellt bei der Firma Max Blancke & Co . Film- Import/Export, Eimsbütteler Chaussee 112, später Dammthorstrasse 27). Später war er Inhaber dieser Firma. Die Familie wohnte zuletzt in der Schlüterstrasse 1. Später – nach der Emigration der Kinder – wohnte Hedwig in der Grindelallee 23 b. Neumark. Seine Mutter war Anita Urich Sass (auch Annita Urich Sass), geb. Italiener, geb. am 17. Juli 1863 in Hamburg. Anita Urich Sass wurde am 15. Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert und am 18.12. 1942 dort ermordet.

Aktuell: Heute am Sonnabend d. 24. Oktober 2020 zwischen 14.00 – 14.30 findet die Verlegung des Stolpersteines für die Mutter von Hermann Urich Sass, Annita Urich Sass, Reeperbahn Nr. 1 statt. Der letzte Wohnort von Annita Urich Sass war in der Schlachterstrasse in Hamburg. Die Schlachterstrasse gibt es nicht mehr. Sie war bis 1946 in Hamburg beim Grossneumarkt. Das ist ganz in der Nähe von der Reeperbahn Nr. 1. (Dem damaligen Standort des Kinos „Schauburg“)

Stolpersteine Urich Sass Besuch aus Berlin und Mexiko im August 2023

Schauburg am Millerntor

Schauburg-am-Millerntor-1927-Foto-St.-Pauli-ArchivDas Kino Schauburg am Millerntor. Eröffnung am 24. Februar 1927. Das Foto kommt vom St. Pauli Archiv. Möglicherweise ist das Foto 1929 entstanden. Wenn mich meine Lupe nicht täuscht, dann ist als Film der Film „Möblierte Zimmer  – der sturmfreie Junggeselle“ mit Hans Albers angekündigt. Der Start dieses Filmes war laut Filmportal.de am 27. März 1929. Architekt der beiden Häuser (Kino und Bierhaus Nagler) war Carl Winand. Das Kino hatte 1932 1.632 Sitzplätze. SchauburgMillerntorgroßSchauburg Millerntor. Innenraum. Repro von Reinhold Sögtrop. Datum der Aufnahme ist uns nicht bekannt. Vermutlich Anfang 1930.

Die Anzahl der Sitzplätze wurde einem Bericht entnommen, den die UFA Revisionsabteilung Berlin zwecks Übernahme dieses Kinos gefertigt hat (datiert auf den 5. Februar 1932). Das Bierhaus Nagler mit 500 Sitzplätzen (links daneben) wurde ebenfalls von Carl Winand entworfen. Eigentümer der Gebäude war der >Henschel Film- und Theaterkonzern< wie er sich nannte. Eine OHG der Herren Hermann Urich Sass und seines Teilhabers Hugo Streit.  Das Grundstück gehörte weiterhin der Stadt Hamburg (Domäne). 1933 drohte die Arisierung, sprich Enteignung. Hermann Urich Sass hat sich am 27. Januar 1933 das Leben genommen und wurde am 30. Januar 1933 auf dem jüdischen Friedhof in Hamburg Ohlsdorf beigesetzt. Am 4. Mai 1942 wurde es von englischen Bombern bombardiert. Der Innenraum brannte aus.

Jetzt erinnern zwei Stolpersteine an die Arbeit von Hermann Urich Sass.                                                                                                                                                          Foto Stolpersteine Jens Meyernilpferd_tumbBy-nc-sa_colorIMG_5791StolpersteineUrichZuschauerraum4.5.1942BritischeBRandbombe

 

Foto Tanzende Türme Jan Johannsen

Stolpersteine vor den Tanzenden Türmen Reeperbahn 1 Foto Jan Johannsen 24. Oktober 2017