Kategorie: Fotoarchiv Jens Meyer
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Sanierung heisst Gesundmachen: Rainer Graff
Nachruf Rainer Graff geb. 1941
„Als Gymnasiast gilt Rainer als introvertierter Träumer, der es im Leben schwer haben wird. 15 Jahre später schlägt er als freiberuflicher Architekt und Stadtplaner in SO 36, Kreuzberg, auf, im Schatten der Mauer, abgeschrieben, sich selbst überlassen. Viele Probleme, viel Fluktuation. Marode Altbauquartiere aus der Gründerzeit, riesige Fabriketagen, die Gewerke längst verschwunden. Lebensqualität sieht anders aus, wer kann, zeigt dem Quartier den Rücken. Wer hier bleibt, hat keine oder nur diese eine Wahl: Alte, Arme, Lebenskünstler und Migranten.
Wie viele ist auch Rainer ein Zugezogener, aber einer mit Visionen, die er nun umzusetzen versucht: anders wohnen, anders arbeiten, anders denken, anders leben.
Für sich und für andere. Der gelernte Maurer weiß, wo er anzusetzen hat – an der Bausubstanz, die es zu erhalten gilt. Die Mieten sind lächerlich. Mit Monika, Lebensgefährtin und bildende Künstlerin, beziehen sie eine 200 Quadratmeter große Fabriketage in der Naunynstraße, die keine 100 Mark kostet. Dafür ist sie aber im Winter auch nicht beheizbar. Sie suchen Gleichgesinnte mit ähnlichen Problemstellungen und Interessenlagen: „Neues Leben in alten Fabriketagen.“
Schnell spricht sich das im Kiez herum, es herrscht Aufbruchsstimmung. Theaterleute, Freiberufler und andere Wagemutige treffen sich auf Rainers Frühstücksfesten, die alle zusammenbringen. „Geht nicht? Gibt’s nicht!“ – Rainer, längst nicht nur Vordenker, sondern Macher, ist in seinem Element. Er baut eine Zentralheizung um Ölöfen, entwirft Schlafhöhlen aus Wetterballons und Hütten, die der eisigen Kälte in den riesigen Räumen trotzen sollen. Nach der Geburt seiner Kinder entstehen neue, für sie gedachte Räume im Raumsystem.
Die Verbindung von Leben und Arbeiten nimmt Konturen an. Nebenbei schreibt er an seiner Doktorarbeit „Antworten des Körpers auf städtische Räume“, mehr als fünf Jahre lang. Eine Herzensangelegenheit, eher experimentell als empirisch, die ein absurdes und abruptes Ende findet, als er seine handschriftlichen Notizen in einem Karton auf dem Autodach vergisst und losfährt.
Als er nach Kreuzberg zurückrast, fliegen einige Blätter vom Wind bewegt über den Oranienplatz. Den Rest hat die Müllabfuhr beseitigt, eine Rekonstruktion ist unmöglich. Er trägt es mit Fassung. Für die Universität und eine klassische akademische Laufbahn ist der Individualist mit Freiheitsdrang, der Systemen skeptisch gegenübersteht, sowieso nicht geschaffen. Er ist sein eigenes System. Und in Kreuzberg gibt es für ihn genug zu tun.
Die Hausbesetzerbewegung hat sich formiert. Rainer hat mit den heterogenen, oft politisch radikalen Gruppen keine Berührungsängste. Immerhin hat ihn der Geist der 68er ja auch gestreift, auch wenn er politischen Heilsversprechen eher indifferent begegnet. Der kleinste gemeinsame Nenner ist die Bewahrung der heruntergekommenen Altbausubstanz durch die Instandsetzung unter ökologischen Gesichtspunkten. Das ist für alle Neuland. Rainer hetzt von Versammlung zu Versammlung, formuliert Ziele und treibt Fördergelder auf, trifft auf Zustimmung und entschlossene Ablehnung. Er gründet einen Verein und einen alternativen Sanierungsträger, kommuniziert mit allen Parteien und Institutionen und vernetzt die verschiedensten Initiativen. Sein scheinbar autoritäres, zielorientiertes Auftreten macht ihn angreifbar.
Er braucht lange, um Gegenpositionen akzeptieren zu können. Von „Graf Naunyn“ oder „Architektenmafia“ ist die Rede, aber davon lässt er sich nicht beeindrucken, wenn er in weißer Maurerhose auf seiner Solex von Baustelle zu Baustelle fährt. Die Internationale Bauausstellung 1987 hat schon im Vorfeld Gelder in den Kiez gespült, die vieles ermöglichen, was sonst Utopie geblieben wäre. Dachbegrünungen, der freie Kinderladen „Langer Rüssel“, den er auch für seine Kinder mitbegründete, Gewächshäuser und Hofgärten genauso wie sein Abwasserprojekt „Vertikalsumpf“, das seine Gegner als „Rheinfall von Schaffhausen“ verlachen.
An einer Hauswand läuft das Brauchwasser von oben nach unten durch ein ausgeklügeltes, mit Schilf bepflanztes Tonnensystem, um gefiltert als Grauwasser wieder (ver) wendbar zu sein. Auch wenn die Anlage heute nicht mehr in Betrieb ist, die Tonnen an der Hauswand erinnern an die Kühnheit des Versuchs. Andere Spuren seines Wirkens sind aus dem öffentlichen Raum verschwunden. Zum Beispiel das Objekt „Windfühler IV“ auf dem Oranienplatz, ein vertikal gekippter Katamaran, dessen Segel sich nach dem Wind richteten und den gespannten Drähten sphärische Klänge entlockten. Oder die Kletterskulptur „Ost-Geist“ aus Bambus, mehr als drei Meter hoch, gekrönt von einer japanischen Maske.
Nach dem Mauerfall eine berufliche Enttäuschung, ein lang vorbereitetes Projekt erhält den Zuschlag, aber sein Name fehlt. Er verlässt Kreuzberg, ein beruflicher, dann ein privater Neuanfang. Er zieht an den Wannsee. Neue Lebensgefährtin, zwei kleine Kinder, für Jahre ein Verwaltungsjob bei der Landesentwicklungsgesellschaft in Potsdam. Trotzdem behält er seine Fabriketage in Kreuzberg, ein Schauraum für seine Designobjekte wie die Loftbox. Plötzlich eine schwere Krankheit, für die sein wacher Geist keine Problemlösung findet. Eine Trauerfeier, auf der sich viele Kreuzberger einfinden. Ihr Lebensraum sähe ohne ihn grauer aus.“ Erschienen im Tagesspiegel vom Sonnabend, d. 25. Mai 2013 geschrieben von Erik Steffen
Fotos von Helmut Schönberger und Jens Meyer. Im Bild (oben) ist Rainer Graff beim Malen zu sehen. (Der Herr mit dem Lockenkopf in der Mitte des Bildes)