Frau Friedrich im Lande der Pandemie

PDF Frau Friedrich im Lande der Pandemie

Grafik Hans Hillmann

Frau Friedrich im Lande der Pandemie. Frau Friedrich von der FFA hat es wirklich schwer. Ihre Arbeit bei der FFA ist: Die Erfassung der Umsatzzahlen der Kinos. Nun finden seit fast 12 Monaten in den Kinos keine Umsätze mehr statt. Das weiß auch Frau Friedrich. Das weiß auch der Chef von Frau Friedrich. Sein Name tut hier nichts zur Sache. Vermutlich ein Mann. Warum sollte es anders sein? Die FFA ist eine Staatsveranstaltung. Sie soll den Bürgern dienen. Den Bürgern dienen ist das eine. Aber wer dauerhaft dienen und dafür auch bezahlt werden will, der muß seine Tätigkeit, wenn sie nicht durch Wirkung in Erscheinung tritt, dokumentieren, präsentieren, legitimieren. Nun sind die Kinos seit 12 Monaten, mit kleinen Unterbrechungen, geschlossen. Umsätze finden nicht statt. Und dennoch gibt es Menschen, deren Tätigkeit darin besteht, die (nicht vorhandenen Umsätze) zu erfassen, zu dokumentieren, zu präsentieren und damit ihre Tätigkeit zu legitimieren. Frau Friedrich von der FFA könnte einfach, wie die Kinobesitzer und Kinoangestellten schön zu Hause sitzen und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen, wären da nicht die Gesetze, in denen eine solche Auszeit nicht vorgesehen ist. Also geht sie täglich an ihren Nichtarbeitsplatz und schickt an die vorhandenen Kinos (geschätzt 3001 und mehr) die Aufforderung zur Nullmeldung. Aktuell für die Monate Januar und Februar 2021. Und keiner in der FFA oder anderswo kann diesen Unsinn stoppen, wollte er oder vielleicht sogar sie, es. Der Präsident oder die Präsidentin von der FFA? Man weiss es nicht. Und so schickt Frau Friedrich von der FFA weiter ihre Aufforderungen zur Umsatzmeldung in die Lande. Man kann sich schließlich nicht nur mit dem Impfen und der Früherkennung der Krankheiten beschäftigen. Es muß auch andere Tätigkeiten im Lande der Pandemie geben! Jawoll! Frau Friedrich von der FFA hat es wirklich schwer. 20. März 2021 Jens Meyer vom 3001 Kino in Hamburg.

In Erinnerung an Renate Holland-Moritz (RHM) (VI) – Filmkritik: JFK-STONE-washed (1992)

JFK – STONE – washed von Renate Holland-Moritz (1992) (Eine Filmkritik)

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Die US-Amerikaner lieben ihr Land. Selbst ihre allmächtige und allgegenwärtige Stasi, die Central Intelligence Agency, lassen sie vertrauensvoll gewähren. Oder haben Sie jemals von einem demonstrierenden Ami den Ruf gehört: »CIA in the Production!« Na bitte. Die Jungs sollen ruhig machen, was sie wirklich können: spionieren, infiltrieren, zersetzen. Und Akten anlegen. Oder auch nicht. Kein Gott und kein Gauck, von den die Bespitzelten ganz zu schweigen, dürfen da reingucken.

Diese Art Umgang mit den amerikanischen Stasiakten hat einen nicht zu unterschätzenden sozialen Aspekt: Sie schafft Arbeit. Eine Menge Leute, z. B. Journalisten, Buchautoren und Filmemacher, können eine ganze Menge Geld damit verdienen.

Greifen wir nur einen Fall heraus: den Kennedy Mord. Die Protokolle, so denn überhaupt noch welche vorhanden sind, werden allerdings veröffentlicht. Wenn auch erst anno 2038, ganz 75 Jahre nach der Tragödie. Aber man hat ja schließlich ein Langzeitgedächtnis.

Unter den Augen Tausender Schaulustiger war der jüngste Präsident der Vereinigten Staaten am 22. November 1963 in Dallas erschossen worden. Der blitzartig gefaßte Täter hieß nicht J. R. Ewing, sondern Lee Harvey Oswald, war 24 Jahre alt, mit einer Russin (!) verheiratet und selbstverständlich Kommunist.

Nachdem er zwei Tage lang seine Unschuld beteuert hatte, wurde auch er vor laufenden Kameras gekillt. Und zwar vom mafiösen Nachtclubbesitzer Jack Ruby, den es kurze Zeit später ebenfalls dahinraffte.

Als das neugierige Volk nach Aufklärung schrie, stellte der neue Prä-sident Lyndon B. Johnson eine Untersuchungskommission unter dem Vorsitz des Obersten Richters der USA Earl Warren zusammen.

Nun dauerte es nur noch zehn Monate, bis jedermann erfahren konnte, wie alles gelaufen war.

Also: Oswald, das Kommunistenschwein, hatte die Tat ganz allein geplant und begangen. Aus einem uralten defekten Gewehr feuerte er innerhalb von acht Sekunden drei Schüsse auf sein 50 Meter entferntes bewegliches Ziel JFK ab. Eine Kugel erwies sich als zauberkräftig. Sie traf Kennedy erst in den Rücken und dann in den Hals. Danach verließ sie den Präsidenten, um den vor ihm sitzenden Gouverneuer Connally durch den Rücken in die Brust zu treffen, im freien Flug einen Speichenknochen seiner linken Hand zu zersplittern, sich anschließend durch seinen rechten Oberschenkel zu bohren und endlich direkt vor die wachsamen Polizisten zu rollen.

So und ähnlich überzeugend argumentierte der Warren Report. Wer sich beim Durchackern der 26 Bände nicht totgelacht hatte, kam unter Umständen auf die Idee, selbst Nachforschungen anzustellen. Es fanden sich Zeugen, die andere Schützen gesehen und drei weitere Schüsse gehört hat-ten. Die Spuren führten in die Unterwelt und ins Pentagon, zu FBI und CIA, und wer was ausgesagt hatte, das auf eine Verschwörung, gar auf einen Staatsstreich deutete, verstummte sehr bald und für immer.

Nun brach die Zeit der Vermarktung an. Mehr als 100 Fernsehsendungen wurden ausgestrahlt und mehr als 600 Bücher erschienen zum Fall Kennedy. Darunter »Auf der Spur der Mörder« von Jim Garrison, Bezirksstaatsanwalt von New Orleans. Er bewies, daß Oswald ein kleiner CIA-Spitzel war, der den tödlichen Schuß gar nicht geführt haben konnte. Er untersetzte auch die Komplott-Theorie durch einleuchtende Fakten.

Und nun wirds leider ein bißchen kriminell. Oliver Stone (»Platoon«) bemächtigte sich nämlich des Garrison-Reports und strickte es zu dem Hollywood Monumentalsschinken »JFK John F. Kennedy – Tatort Dallas« um.

Wieder und wieder zelebriert der manische Filmer den Mordhergang in einer unentwirrbaren Verschlingung von Dokumentaraufnahmen und nachgestellten Szenen. In trommelfeuerartiger Abfolge von Wort und Bild entbietet er jeden Krümel der Garrisonschen Recherchen. Als Lockfett benutzt er dieses spezifische Hollywood-Schmalz, von dem einem so richtig schön schlecht wird. Wenn beispielsweise Sissy Spacek alias Mrs. Garrison gurrt, der tote JFK möge sich ein bißchen gedulden, weil sie dringend mit Mr. Garrison ins Bett will. Oder wenn der eins so nett mit dem Wolf tanzenden Kevin Costner, nunmehr STONE-washed wie ein magenkranker Hauptbuchhalter, als Jim Garrison Tränen vergießt, weil mit dem Mord an Kennedy »der heimliche Mord im Herzen des amerikanischen Traums« stattgefunden habe.

Denn – und das ist das Glaubensbekenntnis des Oliver Stone – JFK war der Messias. Wäre uns der Erlöser nicht schon wieder genommen worden, hätte es keinen Vietnamkrieg gegeben, kein Watergate und keinen Golfkrieg. Frieden wäre auf Erden und den Schwarzen wie den Weißen ein Wohlgefallen. Amen.

Und dann läßt Stone seinen Helden noch einen denkwürdigen Satz sagen: »Wenn das Alte nicht mehr funktioniert, dann geh einen Schritt weiter nach Westen.«

Bis Amerika etwa? Besten Dank! Da sind mir einfach zu viele Spinner. Und vor allem viele zu viele unkontrollierbare Stasileute.

Renate Holland-Moritz (1992)

Ach und Wolfgang Neuss hatte auch noch was zu den Kennedy Mördern gesagt, moment mal ich muss mal nachsehen, nachhören.

Wolfgang Neuss hat seinen Onkel und seine Tante in Treptow besucht. „Ein Glück, sagt er, daß dieser Oswald-Mörder Rubinstein heisst. Stell dir mal vor, der heisst zufällig Müller, Meier oder Schulze? Würden die Leute in der ganzen Welt noch glauben, wäre ein Deutscher gewesen!“ (Das jüngste Gerücht. Von und mit Wolfgang Neuss, LP Fontana 885405 Schallplatte 1964).

Aus dem Buch : Der Totale Neuss, Seite 302. Zitat: „1963 – Zwei Jahre nach dem Mauerbau steckt der Ost-West-Dialog in einer Krise. Nach zähen Verhandlungen zwischen den deutsch-deutschen Behörden kommt es zu einem Passierscheinabkommen, das Westberlinern ermöglicht, ihre Verwandten im Ostteil der Stadt zu besuchen. Im November fällt Kennedy, der noch im Juni vor dem Schöneberger Rathaus die Berliner mit dem Spruch »Ich bin ein Berliner« begeistert hatte, in Dallas einem Attentat zum Opfer. Der mutmaßliche Kennedy-Mörder Lee Harvey Oswald wird – bereits in Polizeigewahrsam – von Jack Rubinstein alias Ruby, einem Barbesitzer von zweifelhaftem Ruf, auf offener Straße erschossen. Die näheren Umstände des Kennedy-Mordes wurden nie aufgeklärt.“

Briefe an Wiebeke (XVII) CinemaScope

Romische Zahlen am BUG

Briefe an Wiebecke (XVII) Hamburg, d. 18. Februar 2021 CinemaScope – Zur Geschichte der Breitwandfilme. Herausgegeben von Helga Belach und Wolfgang Jacobsen, Verlag Volker Spiess 1993, ISBN 3-89166-646-2.

Hallo Wiebecke,

ja durch die Pandemie kommt man viel zum Lesen. Auch von Büchern, die man früher immer nur als Nachschlagewerke benutzt hat. So habe ich vor kurzem ein Buch über die Geschichte der Filme in der Nazizeit gelesen. Geschrieben von zwei Franzosen. Sehr erfrischend das ganze. Und wie unbefangen sie mit den Quellen umgehen. Wie die beiden fröhlich Adolf Hitler zitieren und aus seinem Kampf immer wieder Zitate und Begründungen für bestimmte deutsche Filme finden. Ein Buch, das ich sonst ebenfalls nie komplett gelesen hätte: CinemaScope – Zur Geschichte der Breitwandfilme.

Das Buch ist mehr oder weniger in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil, der sehr informativ ist, werden die Techniken beschrieben, auf welche Weise die Breitbilder hergestellt werden. Der Teil ist von Gert Koshofer und in dem Teil gibt es nichts zu Meckern. So konzentriert und so differenziert habe ich es noch nie beschrieben gefunden. Auch das von ihm erstellte Glossar am Ende des Buches ist rundum gelungen. Es geht von Actionscope bis Wonderama.

Den zweiten Teil kann man Lesen oder es lassen. Interessant die Beiträge von Leuten, die Filme gemacht haben oder daran beteiligt waren. Weniger interessant, die Blähungen, die einige Schreiber und Schreiberinnen hier zu Papier bringen. Kein Verlust beim Auslassen.

Im dritten Teil dann Texte von Leuten, die sie sich mit einzelnen Breitfilmen beschäftigten. Hier gibt es große Qualitätsunterschiede. Auffällig dabei, die Texte von Nurschreibern, die niemals selber Filme gemacht haben, lohnen oft das Lesen nicht. Deshalb ist ein Nachteil dieses Buches, das die Namen der Schreibenden erst am Ende der Artikel erscheinen. Aber mit einiger Übung gelingt es nach einiger Zeit, immer erst den Namen des Schreibenden herauszufinden, um dann mit dem Lesen eines Artikels zu beginnen, oder ihn zu überblättern.

Ich habe zum Beispiel eine Abneigung gegen Texte von Menschen, die Doppelnamen haben, zumeist verheiratete Frauen, die sich nicht recht entscheiden können, ob sie lieber ihren alten oder den neuen Namen ihres neuen Partners übernehmen wollen. Diese Eigenschaft des Nicht-Entscheiden-Könnens führt auch meist in den abgelieferten Texten zu den Sowohlalsauch Texten, die meist von sehr langweilig sind.

Und nicht nur das. Komplettiert werden die Texte meist auch noch mit falsch verwendeten Fremdworten. Sie haben meist die Funktion haben, dass die heisse Luft, die sich Autor und Autorin aus dem Ärmel geschüttelt haben, mit der Aura des Wissens zu umgeben. Wir sollen vor so viel vorgetäuschtem Sachverstand zur Salzsäule erstarren. Und wie so oft, gibt es auch hier Ausnahmen von der Regel: Die Texte von Helma Sanders-Brahms lohnen sich alle. Besonders gelungen finde ich den Text von Neun Leben hat die Katze und den Text von Pierrot le fou die in dem Buch abgedruckt sind. Besser kann man diese Filme und im besonderen diesen Film von Herrn Godard und das dahinter steckende Lebensmodell nicht beschreiben. Die vorhandenen Qualitätsunterschiede merkt der geübte Leser (und ich eben auch) schnell. Ich habe mir deshalb die Namen dieser Autoren und Autorinnen gemerkt. Und das ist ein guter Hinweis. Zwei Texte gelesen und man hat schon herausgefunden, ob es sich wirklich lohnen würde diesen Beitrag zu lesen oder besser nicht. Meine Liste verrate ich hier natürlich nicht. Jens

In Erinnerung an Renate Holland Moritz (II) Interview mit Andreas Kurtz

Renate Holland-Moritz (R.H.M.) schreibt seit 50 Jahren in der Satire-Zeitschrift Eulenspiegel ihre Filmkritiken. Sie waren zu DDR-Zeiten Kult: Die Kinoeule. Interview mit Andreas Kurtz (A.K.)

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Zur Person: Renate Holland-Moritz (R.H.M.) wurde in Berlin-Wedding geboren, wuchs aber in Südthüringen auf. Nach nicht abgeschlossenem Oberschulbesuch begann sie als Volontärin und Assistentin bei verschiedenen Berliner Tageszeitungen. Seit 1956 ist sie freiberufliche Mitarbeiterin der Satirezeitschrift „Eulenspiegel“. Seit 1960 veröffentlicht sie dort unter dem Titel „Kino-Eule“ Filmkritiken. Sie hat eine Vielzahl satirischer Erzählungen im „Eulenspiegel“ und in Büchern veröffentlicht, von denen zwei vom DDR-Fernsehen und der Defa auch verfilmt wurden.

(A.K.): Vor fünfzig Jahren erschien im Satiremagazin Eulenspiegel zum ersten Mal die Autorenzeile Renate Holland-Moritz. Wie kam es dazu? (R.H.M.): Die Phase des Ausprobierens hatte ich damals mit einundzwanzig schon hinter mir. Das war wie Heimkehr. Das war genau der Ort, an den ich wollte, ohne begründete Hoffnung, dass die Eulen-Leute auch mich wollten. Ich hätte denen von mir aus nichts angeboten. A.K Wer hat Sie dazu angestiftet? (R.H.M.) Mein väterlicher Freund Rudolf Hirsch, der legendäre Gerichtsreporter der Wochenpost. Der war dabei, als ich am Stammtisch der Gerichtsreporter erzählte, wie ich dauernd mit anderen jungen Mädchen verwechselt wurde und dadurch in die peinlichsten Situationen geriet. „Schreib das auf!“ sagte er, und nachdem er meine allererste Geschichte „Ich habe ein Dutzendgesicht“ gelesen hatte, wollte er, dass ich sie dem Eulenspiegel schicke. Eigentlich habe ich mich immer wie ein Preuße benommen, der Befehle ausführt. Es mussten nur Befehlsgeber sein, die ich mochte und ernst nehmen konnte. (A.K.) Sind Sie es noch? (R.H.M.) Ich werde immer preußischer. Zum Beispiel bei Lieferterminen. Mittlerweile ist für mich pünktlich, wenn ich überpünktlich liefere, ein oder zwei Tage vorher. Es wird schlimmer. Im Alter verschärfen sich eben alle Wesenszüge. Besonders die unangenehmen. (A.K.) Das mit den Gerichtsreportagen war ein Umweg? (R.H.M.) Gewissermaßen. Ich hatte im Schweinsgalopp eine zweijährige Lehrzeit in verschiedenen Ost-Berliner Redaktionen durchlaufen. Das fing bei der Vierteljahreszeitschrift „Sowjetwissenschaft“ an. Also, da war ich so was von falsch! Ich konnte ja noch nicht einmal ordentlich russisch. Dann kam ich in die Monatszeitschrift „Neue Gesellschaft“, danach in die „Friedenspost“ und von dort zur „BZ am Abend“, heute der Berliner Kurier. Aus der „BZ am Abend“ bin ich rausgeschmissen worden. (A.K.) Wie kam es dazu? (R.H.M.) Der stellvertretende Chefredakteur war hinter mir her. Aber der war mir hochgradig unsympathisch. Als er mitkriegte, dass ich einen anderen Kollegen favorisierte, hat er mich fristlos entlassen. Wegen unmoralischen Verhaltens. Eine typische Nummer aus den 1950er- Jahren: Verhältnisse am Arbeitsplatz waren unerwünscht, und das Verdikt traf immer die Frau. (A.K.) Hat Sie das aus der Bahn geworfen? (R.H.M.) Nee. Ich kannte ja genügend Leute in anderen Redaktionen, die alle sagten: Kommste eben zu uns. Sobald sie aber meine Kaderakte gelesen hatten, gab es plötzlich keine Vakanz mehr. Ich war 19 und habe keine Festanstellung mehr gekriegt. Musste also zusehen, wie ich mich freiberuflich durchschlage. (A.K.) So gerieten Sie unter die Gerichtsreporter? (R.H.M.) Genau. Rudolf Hirsch sagte: „Schreib Gerichtsberichte, das kann nämlich jeder. Aber sag’s nicht weiter.“ Später fand er, ich sei bei den Satirikern doch besser aufgehoben. (A.K.) Hat nie wieder eine Festanstellung gelockt? (R.H.M.) Im Eulenspiegel musste ich mal zwei Jahre als Humor-Redakteurin arbeiten, weil mein Freund John Stave gekündigt hatte. Erst wollte ich nicht, weil die ja schon um acht Uhr anfingen. Um die Zeit kann ich noch nicht klar denken. Also bin ich so gegen zehne, elfe eingetrudelt. Nach einem Riesenkrach mit Chefredakteur Peter Nelken kam ich dann pünktlich, hängte allerdings ein „Bitte nicht stören“-Schild an die Türklinke und packte mich erst mal für zwei Stündchen auf die Couch. Da hatte der Chef ein Einsehen und ließ mich zu Hause ausschlafen, zumal ich die gesamte Post in der S-Bahn zwischen Grünau und Friedrichstraße erledigte. Nelken sagte immer: „Ich bezahle meine Leute nicht für ihren Hintern, sondern für geleistete Arbeit.“ (A.K.) Haben Sie eigentlich jemals ihre Kaderakte zu Gesicht bekommen? (R.H.M.) Beim Eulenspiegel hatten wir eine Kader-Instrukteurin, eine ungeheuer nette, junge Frau. Wir haben immer mal in ihrem Zimmer zusammengesessen und Kaffee getrunken. Eines Tages stand der Safe offen, und ich fragte: „Was sind denn da für furchtbar geheime Dinger drin?“ – Darauf sie: „Zum Beispiel die Kaderakten. Willste mal in deine reinschauen?“(A.K.) Sie wollten natürlich? (R.H.M.) Na klar! Und ich fand die Aktennotiz von diesem stellvertretenden Chefredakteur der BZA, in der stand, meine fristlose Entlassung erfolge wegen politischer Unreife und zweifelhafter Moral. Die zweifelhafte Moral hat mich nicht um weitere Festanstellungen gebracht, nur die politische Unreife! Mit solchen denunziatorischen Eintragungen konnte man einem Menschen die Zukunft versauen. Mir ist es allerdings zum Segen ausgeschlagen. (A.K.) Ihre Klatschgeschichten, die 1986 unter dem Titel „Die tote Else – Ein wahrhaftiges Klatschbuch“ erschienen, sind eine geschickt getarnte Autobiografie. Wie kam es dazu? (R.H.M.) 1974 hatte ich eine Einladung von der Reichsbahn in West-Berlin zu einer Lesung. Ich habe mich natürlich wahnsinnig gefreut. Den Pass dafür durfte ich mir im Büro des Schriftstellerverbandes abholen. Ein paar Wochen später kriegte ich wieder eine Einladung zur West-Berliner Reichsbahn. Als ich mir erneut den Pass abholte, kam ich mit der zuständigen Kollegin ins Gespräch. Sie sagte, sie habe den schönsten Posten im ganzen Schriftstellerverband, denn zu ihr kämen nur gut gelaunte Leute. Wegen der bevorstehenden Westreisen. (A.K.) Kamen denn viele? (R.H.M.) Mehr und mehr, behauptete die Verbands-Kollegin. Dann gab sie mir den Tipp mit dem Vierteljahresvisum. Für den Antrag brauchte ich nur eine halbwegs glaubwürdige Recherche-Idee. Nach einem Blick in meine Unterlagen sagte sie: „Mensch, du bist ja in West-Berlin geboren! Für eine Autobiografie musst du an Ort und Stelle nach deinen Wurzeln suchen!“ (A.K.) Damals waren Sie noch nicht einmal 40. Bisschen früh für eine Autobiografie, oder? (R.H.M.) Das war auch mein Einwand. Den ließ sie aber nicht gelten: „Mit dem Suchen kann man gar nicht früh genug anfangen!“ So kam ich zu meinem ersten Vierteljahresvisum. Ab 1975 durfte ich dann auch jedes Jahr zur Berlinale. Klatsch galt in der DDR als besonders unappetitliche Erscheinungsform der bürgerlichen Publizistik. (A.K.) Wieso durften Sie trotzdem ein Klatschbuch schreiben? (R.H.M.) Erzählt habe ich Klatschgeschichten ja schon immer. Und irgendwann sagte Wolfgang Sellin, der damalige Chef vom Eulenspiegel-Buchverlag: „Du solltest das langsam mal aufschreiben! Damit man sagen kann: Steht auf Seite soundso, hast du schon erzählt!“ (A.K.) In diesen Geschichten geht es vordergründig immer um nationale und internationale Prominente. (A.K.) Wie viele Klatschbücher haben sich verkauft? (R.H.M.) In zwei Jahren erschienen drei Auflagen mit jeweils 20 000 Exemplaren. So schnell konnte man gar nicht gucken, wie die weg waren. Aber dann war die DDR weg und vorübergehend auch das Interesse an hausgemachten Büchern. Als es wieder erwachte, druckte der Eulenspiegel Verlag die Fortsetzung „Die tote Else lebt“, wovon es bereits die 4. Auflage gibt. (A.K.) Verkauften sich zu DDR-Zeiten alle Ihre Bücher so schnell? (R.H.M.) Ich hatte da mal ein Schockerlebnis. „Die Eule im Kino“, meine allererste Sammlung von Filmkritiken aus den Jahren 1960 bis 1980, stand drei Wochen in den Regalen der Buchhandlungen. Ich hatte das Gefühl: Nun ist alles vorbei! Eines meiner Bücher oberhalb des Ladentisches heißt: Kein Mensch will mehr etwas von mir wissen! Inzwischen gibt es „Die Eule im Kino“ Band I und Band II (1980-1990) nur noch antiquarisch, während Band III (1991-2005) im Handel ist. (A.K.) Warum durften Sie sich in der DDR mehr als andere Filmkritiker erlauben? Weil Sie bei einem Satireblatt waren? (R.H.M.) Das war nur am Anfang so. Da hat man gesagt, Satire braucht eine etwas längere Leine, sonst funktioniert sie nicht. Dann hatte dieser entsetzliche Joachim Herrmann als SED-Agitationschef den Ehrgeiz, aus Fernsehen und Defa eine Firma zu machen, die er zu leiten gedachte. Das wiederum hat SED-Kulturchef Kurt Hager nicht zugelassen, denn für ihn, den hochgebildeten Zyniker, war Joachim Herrmann ein indiskutabler Emporkömmling. Von da an war es dem Herrmann egal, wie mit der Defa in den Medien umgegangen wurde, folglich waren auch die Kritiken schärfer. (A.K.) Heutzutage gibt es Pressevorführungen, wenn neue Filme herauskommen. Wie war das damals? (R.H.M.) Da gab es die natürlich auch, und nach den Vorführungen der Defa-Filme zusätzlich Pressekonferenzen, bei denen sich die Schöpfer den Fragen und nicht seltenen Zornesausbrüchen der Kritiker stellen mussten. Da wurde wirklich mit harten Bandagen gearbeitet. Am meisten gefürchtet waren übrigens meine Kolleginnen Rosemarie Rehahn von der Wochenpost und Margit Voß vom Berliner Rundfunk. Die eine kämpfte mit dem Florett, die andere mit dem Degen, während ich die Dampframme bevorzugte. (A.K.) Stimmt es, dass ein Regisseur Ihnen mal Prügel angedroht hat? (R.H.M.) Ja, aber den Namen sage ich nicht. Schließlich lebt der Mann noch. Für welche Filmkritik? (R.H.M.) Das weiß ich nicht mehr. Aber seine Filme habe ich alle verrissen. Er konnte also zuschlagen, wann immer er wollte, er hätte immer recht gehabt. Dankenswerterweise verzichtete er darauf. (A.K.) In den 1960ern hat für anderthalb Jahre jemand anderes die Kino-Eule geschrieben. Warum? (R.H.M.) Weil ich einen Riesenknatsch mit der Redaktion hatte und ungeheuer stur war. So entkam ich der auch für Filmkritiker entsetzlichen Zeit des 11. ZK-Plenums, dem fast eine ganze Jahresproduktion der Defa zum Opfer fiel. Und ich hätte ohne diese Pause möglicherweise nie „Das Durchgangszimmer“ geschrieben. (A.K.) Wie fanden Sie den Film „Florentiner 73“, den das DDR-Fernsehen daraus gemacht hat? (R.H.M.) Ganz nett, aber Agnes Kraus war hervorragend. (A.K.) Haben Sie das auch geschrieben? (R.H.M.) Nein, das war ja ein Fernsehfilm. Aber auch über den Kinofilm „Der Mann der nach der Oma kam“ nach meiner Erzählung „Graffunda räumt auf“ habe ich nicht geschrieben. Das hat ein Kollege gemacht, nicht ganz so kritisch, wie ich es getan hätte. Trotzdem war es einer der erfolgreichsten Defa-Filme aller Zeiten. (A.K.) Ist Ihnen oft in Ihre Filmauswahl reingeredet worden? (A.K.) Von der Redaktion nie, weder damals noch heute. Im Jahre 1984 wünschte sich die ZK-Abteilung Agitation und Propaganda Lob für den misslungenen Clara-Zetkin-Film „Wo andere schweigen“ und Tadel für den sehr kritischen Gegenwartsfilm „Erscheinen Pflicht“. In beiden Fällen war ich anderer Meinung, und die durfte ich dann für mich behalten. (A.K.) Einmal haben Sie ein Bestechungsgeschenk angenommen. (R.H.M.) Eine sehr dekorative Eule für Ihre große Eulensammlung. (A.K.) Von Dean Reed, dessen Filme Sie bis dahin immer verrissen hatten. Und als Gegenleistung verlangte er eine positive Kritik für seinen nächsten Film. (R.H.M.) Weil es sich dabei um „Sing, Cowboy, sing“ handelte, konnte ich mich nicht an den Deal halten. Deshalb bat ich Freunde, die im Kulturmagazin des DDR-Fernsehens arbeiteten, mich unter irgendeinem Vorwand zu interviewen, um bei der Gelegenheit auf meine Eulensammlung zu sprechen zu kommen und die Herkunft des Prachtstücks zu erklären. Da habe ich dann eingeräumt, mich als korrupt erwiesen zu haben, aber nicht als korrumpierbar. Selbstverständlich könne Dean sein Eigentum wieder abholen – wenn er das Gesicht verlieren wolle. Dieser Halbsatz hat mir die Eule gerettet. (A.K.) Sie wohnen mit Ihrem Mann, Tausenden von Büchern und ungezählten Eulen aus allen denkbaren Materialien in einer großen Wohnung in der Leipziger Straße. Hatten Sie nie Lust, diese Hochhauswohnung gegen ein Häuschen im Grünen zu tauschen? (R.H.M.) Das lief genau umgekehrt. Wir haben in Bohnsdorf gewohnt, am südlichsten Zipfel Berlins in einem Reihenhaus der über 100 Jahre alten Arbeiterbaugenossenschaft Paradies. Wir hatten so ein Eckgrundstück, mit Garten dran und Garage drauf. Uns hat die Entfernung zur Stadt genervt. Mein Mann fuhr jeden Tag eine halbe Stunde rein und ein halbe Stunde wieder heim. Und ich musste wegen Zeitmangels dauernd Taxis nehmen. Vor dem endgültigen finanziellen Ruin haben wir lieber getauscht. (A.K.) Wann haben Sie sich zuletzt richtig über einen Film geärgert?(R.H.M.) Dauernd. Jedenfalls mehrmals wöchentlich. Zu DDR-Zeiten dachte ich oft, alle Schrecken, die ein Mensch im Kino erleben könnte, hätte ich bereits erlebt. Das war ein Irrtum. (A.K.) Über welchen Film haben Sie sich zuletzt gefreut? (R.H.M.) Über den wunderbaren „Volver“ des Spaniers Pedro Almodóvar. Und über die deutschen Produktionen „Wer früher stirbt, ist länger tot“ und „Die Könige der Nutzholzgewinnung“. Und wer immer noch nicht meine Lieblingsfilme „Alles auf Zucker“ von Dani Levy und „Sommer vorm Balkon“ von Andreas Dresen gesehen hat, der schere sich gefälligst hin. Darum möchte ich höflichst bitten. (A.K.) Was bereuen Sie im Rückblick auf Ihre Arbeit? (R.H.M.) Dass ich einen Rat von Friedrich Luft zu spät erhalten habe. Der sagte, Kritiker dürften mit den zu Kritisierenden nicht auf dem Duzfuß stehen. (A.K.) Hat Sie das schon mal in die Bredouille gebracht? (R.H.M.) Einmal. Es ging um Werner Bergmann, den langjährigen Kameramann von Konrad Wolf. Sein erster eigener, also von ihm auch geschriebener und inszenierter Film hieß „Nachtspiele“. Ich fand ihn misslungen und wollte eigentlich den Mantel des Schweigens darüber breiten. Aber dann hätten die bei der Defa mit Fug und Recht sagen können, mit der Eule muss man sich nur anfreunden, dann hält sie im Zweifelsfall die Klappe. Und deshalb habe ich geschrieben. Unter Qualen. Mit Tränenergüssen. Reichlich zwei Wochen später kam ein Brief von Werner Bergmann. Darin schrieb er, er habe die Zeit gebraucht, um mit dem Schlag in die Magengrube fertig zu werden. Nun aber wolle er sagen, was wäre Freundschaft, wenn sie Wahrheit nicht vertrüge. Das fand ich groß. (A.K.) Haben Sie verstanden, warum Ihre Rubrik im Eulenspiegel nach Jahrzehnten vom sehr markanten „Kino-Eule“ in ein nichts sagendes „Kino“ umbenannt wurde? Nein. (A.K.) Was raten Sie jungen Filmkritikern? (R.H.M.) „Immer deutlich sein. Die Anzahl der Fremdwörter auf ein vertretbares Maß reduzieren. Die Leser, unter denen es ja auch Nichtakademiker geben soll, müssen erkennen können, ob ihnen der Film empfohlen oder ob vor ihm gewarnt wird. Ein Kritiker muss von wiedererkennbarer Gesinnung sein. Früher kriegte ich manchmal Briefe, in denen stand: Wir gehen in jeden Film, den Sie verreißen, und es war noch immer ein gelungener Abend. Auch so entsteht Verlässlichkeit.“ Renate Holland Moritz. Vielleicht sollten wir uns ein paar Scheiben davon abschneiden,. meint Wessi J.

In Erinnerung an Renate Holland-Moritz (III)

Auszug aus Die tote Else“ Renate Holland-Moritz: “Aus ihnen wird wohl nichts werden, es sei denn, Sie gingen zum Film oder zur Presse.“ Dieser Stoßseufzer eines geplagten Studienrates, den meine geringen Kenntnisse im Fach Chemie tief erschüttert hatten, war als Beleidigung gedacht; ich aber hielt ihn für eine Art vernünftiger Berufsberatung. Also kündigte ich meiner Köpenicker Oberschule unmittelbar nach Absolvierung der 10. Klasse und begab mich auf Stellungssuche. Der Verlag Kultur und Fortschritt leistete sich Mai 1952 den Luxus, einen ahnungslosen 17 jährigen Teenager als Redaktionsvolontär einzustellen. Ich begann in einer wissenschaftlichen Vierteljahreszeitschrift und wurde mangels andrer Fähigkeiten mit der Zusammenstellung des Sachregisters für ein enzyklopädisches Werk betraut. “Das Alphabet werden Sie ja wohl beherrschen“, sagte der Chefredakteur. Damit irrte er. Zumindest war mir nicht geläufig, daß auch die jeweils nächstfolgenden Buchstaben der alphabetischen Ordnung bedurften. Als nach wenigen Wochen ruchbar wurde, daß bei mir “Arbeiterklasse“ den Vorrang vor “Akademie der Wissenschaften“ hatte, mußte ein fünfköpfiges Team von Slawistikstudenten engagiert werden, um die von mir gestiftete Konfusion zu entwirren. Einige der inzwischen gestandenen Professoren und Doktoren erinnern sich noch heute gern der so unverhofften wie beträchtlichen Nebeneinnahme.

Nach diesem Desaster übernahm mich Harald Hauser, Chefredakteur der im selben Verlag erscheinenden populärwissenschaftlichen Monatszeitschrift “Die neue Gesellschaft“. Hauser war ein guter Journalist und ein großer Mutmacher. Junge Leute, die viel lasen und respektvoll mit der Muttersprache umgingen, hatten seine Symphatie. Die allerdings verscherzte ich mir weitgehend, als ich eines Tages daranging, Gorki zu redigieren. Der Satz “Ein Mensch – wie stolz das klingt“, kam mir doch ein wenig dürftig vor, so daß ich änderte: “Ein Mensch zu sein – wie stolz das klingt!“ Danach gab mich Hauser ohne erkennbares Herzdrücken an die Wochenzeitschrift “Friedenspost“ weiter.

Hier stand ich unter der Obhut des stellvertretenden Chefredakteurs Heinz Stern, später langjähriger Chefreporter des “Neuen Deutschland“ und der mit Recht so beliebten Gazette “Das Magazin“. An die “Friedenspost“ werden sich heute höchstens noch einige ältere Mitglieder der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft erinnern, deren Zentralorgan das Blättchen darstellte. Eine gewisse dogmatische Kopflastigkeit und der für damalige Zeiten charakteristische hölzerne Stil hielten die Verkaufszahlen in Grenzen. Ich erinnere mich, daß vor allem die Zehnerkassierer der Freundschaftsgesellschaft hartnäckigen Beitragsschuldnern die Zeitschrift als eine Art Ablaßbrief aufschwatzten. Mir wurde die ehrenvolle Aufgabe zuteil, die letzte Seite redaktionell zu betreuen.Sie war zu zwei Dritteln dem Sport vorbehalten, während der sogenannte Keller dem Rätsel gehörte. Vom Sport verstand ich nun nachweisbar weniger als nichts. Das fiel zunächst gar nicht auf, denn mein ständiger Mitarbeiter Heinz Machatschek, der sich inzwischen einen Namen als populärwissenschaftlicher Autor seiner Hobbygebiete Schach, Weltraumfahrt und Heraldik gemacht hat, lieferte jede Woche druckreife Artikel zum Thema Sowjet-Sport. Aber eines unvergeßlichen Tages im Oktober 1953 kam die Wahrheit über mein sportliches Unvermögen an den Tag.

Ein großes internationales Fußballspiel war angesagt, nämlich das Freundschaftstreffen “Torpedo Moskau–ZSK Vorwärts. “Vorwärts“, die Mannschaft der Kasernierten Volkspolizei, gehörte, wie ich dem Agenturmaterial entnahm, der Liga an. “Torpedo“ hingegen stellte die drittbeste Mannschaft der Sowjetunion. Und das erschien mir nun mehr als ein Frevel. Also schrieb ich einen Brand-Artikel, in dem die Organisatoren des Spiels beschimpfte, weil sie den sowjetischen Meistern einen minderen Gegner zumuteten. Er endete mit den apodiktischen Worten: “Das Publikum erwartet mit Recht ein Spiel gleichwertiger Mannschaften, und dazu müßte man “Torpedo“ eine DDR Auswahl gegenüberstellen. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht“. Leider vermochte ich trotz aller Empörung nicht mehr als eine Druckspalte zu füllen. Deshalb besorgte ich mir die Fotos der elf sowjetischen Spieler und plazierte sie schön groß auf der Seite. Die ungenügenden “Vorwärts“ Kicker mußten sich mit einer namentlichen Aufstellung begnügen. Am 29. Oktober 1953 marschierte ich wie Zehntausende andere Berliner ins Walter-Ulbricht-Stadion. Zu meinem Entzücken sah ich, daß viele Fußballfans die “Friedenspost“ in der Hand hielten und mit weit aufgerissenen Augen meinen Beitrag lasen.

Zum erstenmal stand ich dem Phänomen gegenüber, gelesen und – wie mir schien – verstanden zu werden. Ich fieberte dem Beginn des Spiels vor allem seinem unvermeidlichem Ausgang entgegen. Plötzlich kam einer der gestandenen Sportjournalisten auf mich zu und sagte väterlich: “Also Kleene, am besten, du jehst janz schnell nach Hause. Wenns sein muß, schieß ick dir den Weg frei!“ Obwohl ich der dunklen Rede Sinn nicht verstand, gehorchte ich aufs Wort. Beim Verlassen des Stadions befragte ich immerhin noch den Zeitungsverkäufer am Kiosk, womit denn der sensationelle Verkaufserfolg der “Friedenspost“ zu erklären sei. Der Mann kicherte. “Es war wejen die Fotos von die Russen. Dafür hatten die richtijen Zeitungen wohl keenen Platz“. Zu Hause kroch ich fast ins Radio, wie später nur noch zu Zeiten der Friedensfahrt-Berichterstattung. Aber meine Niederlage war so total wie die der sowjetischen Gäste “Torpedo“ Moskau verlor gegen ZSK “Vorwärts“ mit 4:2 Toren. Ein Grund für mich, an dem viel zitierten Satz “Von der Sowjetion lernen, heißt siegen lernen“zu zweifeln. Ich weiß nicht, ob ein kausaler Zusammenhang zwischen meiner journalistischen Fehlleistung und dem Ableben der “Friedenspost“ bestand, jedenfalls wurde das Blättchen noch im November 1953 eingestellt“ .

Renate Holland-Moritz, in “Die tote Else – Ein wahrhaftiges Klatschbuch“, Eulenspiegel Verlag Berlin. 2. Auflage 1988.

Briefe an Wiebeke (IV) Der Traum von einer Sache

Romische Zahlen am BUG

Hallo Wiebeke, Du willst wissen, wie das damals war? Zu Zentral Film Zeiten? Na, am besten schreib ich den Text, der damals in Medium, der Zeitschrift der Evangelen (Das waren die vom Gemeinschaftswerk GEP – der evangelischen Kirche) veröffentlicht wurde, noch mal ab. (Ich hatte den geschrieben). Hier kommt er, in Originallänge, vermutlich habe ich, trotz mehrfachem Gegenlesen, noch ein paar neue Schreibfehler untergebracht. Damit meine ich, die, die vorher noch nicht drin waren, J.

Abschrift aus: Medium 6. Juni 1982. 12. Jahrgang Der Traum von einer Sache Für einen neuen Zentral Film Verleih von Jens Meyer (Seite 35 -38)

Die Beteiligten des Konfliktes trafen sich am 14. April 1982 vor dem Landgericht Hamburg um Viertel vor 12 Uhr. Der Vorsitzende C. des Vereins Zentral Film Verleih Hamburg e. V. wollte mithilfe des Landgerichts Hamburg eine Mitgliederversammlung verbieten lassen, zu der ein Viertel der Mitglieder eingeladen hatte. Er befürchtete, daß er auf dieser Mitgliederversammlung nicht wieder gewählt werden würde. Eine Stunde wurde verhandelt. Der Richter genoß sichtlich die Vorstellung: Linke, die mithilfe der Klassenjustiz ihre Konflikte klären lassen. Nebenbei: das gleiche Gebäude, in dem auch der Film von Axel Engstfeld Von Richtern und anderen Sympathisanten spielt.

Gerichtskosten nach einer Stunde: 1.250 DM. Dazu: Die Kosten für zwei Rechtsanwwälte, vor dem Landgericht darf sich niemand selber vertreten. Insgesamt der Monatslohn eines Mitarbeiters in dem finanzschwachen Betrieb Zentral Film Verleih (ZFV) gegen die anderen beiden Vorstandsmitglieder als Privatpersonen. Das Gericht soll eine einstweilige Verfügung gegen eine Mitgliederversammlung am 18. 4. (1982) aussprechen.

Wie jeder Verein hat auch dieser Organe. Manche Organe sind meistens nicht wichtig. Höchstes Organ: Die Mitgliederversammlung, hier hat der Vorsitzende eine unsichere Mehrheit. Diese unsichere Mehrheit möchte er mithilfe von Neuaufnahmen gerne sicher machen. Doch im Vorstand ist der Vorsitzende in einer Minderheit. So macht er einen Fehler: In einer Vorstandssitzung werden nicht seine Kandidaten aufgenommen, sondern die der anderen beiden Vorstandsmitglieder. Werner Koch + Elfriede Schmitt. Ein langjähriger Machtkampf dreht sich. Erstmals ist der Vorsitzende Christian Lehmann dabei, einen Machtkampf zu verlieren. Was macht er? Wir lasen es schon.

Auch ich bin nicht unbeteiligt. Einmal habe ich von 1976 bis 1980 dort gearbeitet – im Anfang als „freier“ Mitarbeiter, wie alle anderen auch für 650,00 DM netto gleich brutto. Das ist bitter, wie schnell auf dem Landgericht drei Monatslöhne vom Vorsitzenden verbraten wurden. Auch menschlich bitter, wenn es sich um jemanden handelt, der über lange Zeit in seinen Worten immer die Sache obenan gestellt hat, der immer Gegner der Klassenjustiz gewesen ist.

Der Hintergrund

Fünf Personen stehen derzeit auf der Lohnliste des Verleihs, davon leben vier ausschließlich vom Verleih – keine Nebeneinkünfte. Vier Personen weigern sich, mit dieser fünften Person weiter zusammenzuarbeiten. Das hat viele verschiedene Gründe. Einer ist jedenfalls der: Die vier verstehen unter Zusammenarbeit etwas anderes als die fünfte Person. Sie wollen wirklich zusammen arbeiten. Und sie wissen, wovon sie reden, denn seit dem letzten großen Mitarbeiterwechsel im August 1980 haben sie ihre Versuche unternommen, mit der fünften Person zusammen zu arbeiten. Sie möchten nicht noch einmal ähnliche Versuche wie in den letzten zwei Jahren machen.

Viel Papier wird beschrieben: Grundsatzpapiere, persönliche Erklärungen. Man trifft sich mit früheren Mitarbeitern des ZFV, befragt sie nach ihren Erfahrungen, gründet einen Beraterkreis, der stellvertretend auch die Konflikte innen klären soll. Die Glaubwürdigkeit von bedrucktem Papier nimmt immer mehr ab. Der Konflikt mit C. bindet immer mehr Kräfte. C. will den Verleih nicht verlassen, bringt seinerseits auch immer Papiere ein, auf denen er erklärt, auf welche Weise die anderen mit ihm zusammenarbeiten sollen. Im Mai 1981 kommt es zur ersten harten Auseinandersetzung.

Anlaß der Film Gorleben – Der Traum von einer Sache. Sichtveranstaltungen finden statt. Immer wieder Diskussionen: Ist das ein Film für den ZFV? C kategorisch: „Noch nie habe ich der Aufnahme eines Filmes in den ZFV zugestimmt, wenn ich schwerwiegende politische Bedenken hatte.“ Die Ausschließlichkeit, mit der ein einzelner hier seine Meinung den anderen Verleihmitarbeitern aufdrücken will, bringt viele andere Sachen ebenfalls zum Ausbruch. Kein anderer von ihnen nimmt sich das Recht heraus, keine Fehler zu machen, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben. C. hat dafür eine andere Wortwahl. Es gibt auch Unterschiede in der Bewertung des Verleihs: Vier sehen in der Verleiharbeit eine Hilfstätigkeit für die (linke, aufgeschlossene) Öffentlichkeit. C. hat eher die Vorstellung: das Verleihprogramm als politisches Glaubenbekenntnis.

Dazu kommen die Probleme der Arbeitsteilung, die es mit C. gibt. Seit 1980 konzentriert sich C. auf den Bereich Filmverkäufe an andere Verleiher und Fernsehanstalten. Mit den Routine-Verleiharbeiten hat er nur noch wenig zu tun. Auch dieser mangelnde Kontakt mit den eigentlichen „Kunden“ macht ihn in den Augen der anderen unglaubwürdig. Er ist leider auch der einzige, der behauptet, dennoch gut informiert zur sein. Die Begründung für diese Selbstüberschätzung findet er in seiner zehnjährigen Erfahrung.

Erinnerung an 1978

Es war keine schlechte Zeit, wir hatten viel Spaß an der Arbeit, sonst hätten wir es nicht für so wenig Geld gemacht. Für eine Stunde vorm Landgericht mußte ich drei Monate arbeiten. Mehr Geld war nicht da. Glaubenssatz aus dieser Zeit: Der Verleih ist politisch enorm wichtig. Deswegen: Nicht jeden Konflikt ausfechten, nicht alles zu Ende diskutieren. Viele Sachen zudecken, verdrängen.

Erinnerungen an 1970

Nicht meine. Die Filmemacher Cooperative gab es. Einer, der heute nicht mehr dabei ist (Alfred Hilsberg), machte einen Sonderverleih auf: mit den wenigen Filmen, die ausdrücklich politisch sein solten. Man könnte auch sagen, er hat sie geklaut. Die Prügelei geistert noch heute durch die öffentlichen Erinnerungen. 1971 die Sozialistische Film Coop, 1972 dann der Zentral Film Verleih. Mit vielen Filmen, die heute niemand mehr kennt. Die industrielle Reservearmee von Helma Sanders. Dann später, vielleicht 1973/74, die Frage, die alle linken Akademiker bewegt. Woher kommt die Revolution? Aus den Stadtteilen oder aus den Betrieben? Wer hat recht?

Auch im Verleih zwei Meinungen: mal gewinnt der Film aus dem Kalletal für die Arbeitsplätze bei Demag, mal der Rockerfilm aus Frankfurt. Ökonomische Grundlage des Verleihs auch in dieser Zeit eher die Filme, die C. nicht liebt. Das erfahre ich erst viel später. Ich habe losen Kontakt zu diesem Verleih. Bin selber auf der Arbeiterwelle in die dffb (Deutsche Film- und Fernsehakdamie Berlin) geschwappt. Lerne viel und bin wißbegierig. Zusammen mit anderen aus dem Medienzentrum in Berlin mache ich einen Filmkatalog, zwei verschiedene Umschläge: „Film im Klassenkampf“ und „Filme der Arbeiterbewegung“. Unterschiedliche Titel, aber sie meinen das gleiche. Die Jusos und die Falken kaufen den Katalog mit dem zweiten Umschlag. Wir schicken den Katalog nach Hamburg. Sie haben am Karl Muck Platz 9 (heute Johannes Brahms Platz 9) viel zu kritisieren. Vor allem, daß viele wichtige Filme aus dem ZFV fehlen. Sie wollen für die nächste Auflage viele Verbesserungsvorschläge machen. Wir warten vergeblich.

Die Zeit der selbsternannten kommunistischen Arbeiterparteien. Aus dieser Zeit auch meine Parteifeindlichkeit. Der Verleih hat mit diesen Parteien auch wenig am Hut. Das macht ihn mir sympathisch. Dennoch treten sie nach außen immer geschlossen auf. Innere Widersprüche werden rausgehalten, dringen nicht an die Öffentlichkeit. Sie sprechen mit einer Stimme.

Sie sind ein Kollektiv, es gibt keinen Chef, sie entscheiden alles gemeinsam, sagen sie. Sie erledigen die anfallenden Arbeiten gemeinsam, eine Arbeitsteilung im klassischen Sinne gibt es nicht, sagen sie. Sie sind weder von Bonzen noch von Parteien abhängig. Der Verleih zeigt in seinen Filmen ein widersprüchliches Bild. Es ist bunt. Daß dieses bunte Bild nur auf unterschiedliche Gewinner verschiedener Machtkämpfe zurückgeht, weiß ich nicht. Sie machen viele Versprechungen.

Das Kollektiv 1976 in Berlin bei den Festspielen: Vier Personen wollen mich anwerben. Ich sage zu im Herbst nach Hamburg zu kommen. Erst später wird mir klar, warum sie alle wollen, daß ich nach Hamburg zum Verleih komme. Sie wollen mich als Bündnispartner für ihren internen Konflikt benutzen.

Ich denke, man kann als Filmemacher von den Verleihen nicht immer nur fordern, man muß auch selber mit zufassen, wenn es nicht vorangeht. Im Oktober bin ich da, drei Leute (Alfred Hilsberg, Uwe Emmenthal und Nobert Huhn) sind schon weg. Verwirrung bei mir. Fragen an die Dagebliebenen. (C., + K. J.)

„Wir haben uns aus inhaltlichen Gründen getrennt“, ist die einzige Erklärung.

Das erklärt nicht viel. Aber was solls, von der alten Crew ist nur noch einer da. Die anderen sind nicht mehr wichtig für mich, sie haben aufgehört – erledigt. Eins macht mich stutzig: Es sind genau die Leute weg, mit denen man immer zu tun hatte, wenn man einen Film bestellt hat, der dann auch den Lieferschein unterschrieben hatte. Der Mitarbeiter für „übergeordnete“ Anfragen war noch da. Einer von den Ausgeschiedenen hat morgens immer nur Zeitung gelesen, wollte sich hier selbst verwirklichen, höre ich. Später höre ich auch die andere Version. Mir ist das eigentlich ziemlich egal. Sie haben aufgehört, also sind sie nicht mehr wichtig.

1976 habe ich von diesem Verleih auch noch ein anderes Bild:

Die klopfen immer viel Sprüche, müssen ungefragt überall was sagen, und wenn man dann einen Film bestellt hat, dann kommt er nicht rechtzeitig. Schuld sind sie niemals sie selber, sondern immer „unsolidarische Vorspieler“. Oder noch schlimmer. Es kommt etwas, das hat mit Film nicht mehr viel zu tun – das Bild kann man vor lauter Kratzern nicht erkennen, der Ton ist kaum zu verstehen. Das, denke ich, ist meine erste Aufgabe in Hamburg, das zu ändern. Ich denke, Unzuverlässigkeit, hat mit links nichts zu tun. Ich denke, schlechte Kopien ebenfalls nicht. Ich versuche zu ändern und ernte viel Beifall, aber wenig praktische Unterstützung.

Die anderen sagen: Zeitmangel. Aber täglich werden nur ca. vier Filme verschickt und vier entgegen genommen. Keine ‚Schwierigkeit für drei Leute, da die Arbeiten auf dem laufenden zu halten, Filme zu reparieren, Klammerteile zu bestellen.

Einen Film habe ich mitgebracht von der dffb. (Meinen Abschlußfilm von der dffb Mit uns nicht mehr). Über Arbeit und eigene Erfahrungen in meinem ehemaligen Beruf als Maschinenschlosser.

Das frühere Kollektiv hatte, so lese ich, diesen Film schon einmal abgelehnt. Ich erinnere nur, daß er einige Wochen in Hamburg lag und dann nur nach bösen Drohungen zurückgeschickt wurde. Kommentarlos.

C., immer noch Germanistikstudent, ohne eigene Berufserfahrung außerhalb des Verleihs, erklärt mir seine Haltung in der Gewerkschaftsfrage. Auf welche Weise das ZFV-Kollektiv bisher Gewerkschaftsfunktionäre kritisiert habe.

Ich mache einfach Druck, keine langen Diskussionen. Das ist meine politische Haltung, die in diesem Film ausgedrückt wird, und wenn die hier nichts zu suchen hat, dann habe ich hier auch nichts verloren. Der Film kommt in den Verleih. Nach vier Jahren habe ich genug. 1980 verschwinde ich von der Lohnliste des ZFV. Dazwischen viele Versuche einer guten Zusammenarbeit. Viele Versuche sich wenigstens nicht ins Gehege zu geraten.

Viele Fehler, die ich mitgemacht habe oder nicht entschieden genug bekämpft habe. Viele gute Leute, die im Verleih enttäuscht worden sind, die ich stärker hätte stützen können in ihren Konflikten mit C.. Aber oft lag eben die Wahrheit dazwischen. Der Hauptfehler aus meiner ZFV Zeit sicher: so eine Art unbewußtes Zentral Komitee für die Bewegung zu sein. immer wieder Entscheidungen darüber zu fällen, welche Filme notwendig und wichtig seien und dabei nur auf sich selbst, aber niemals auf die Kraft der sogenannten Benutzer unserer Filme zu vertrauen.

Andere Verleiher redeten oft davon, daß dieser und jener Film oft ausgeliehen wird, wir mit unserer befangenen Ideologie hatten dafür nur immer einen Spruch parat: „Ihr seid ja nur auf die Kohle scharf.“ Und die „Branche“ Film ist korrupt genug. Da wird ständig über Geld geredet. Inhalte außer ihren eigenen Kontoauszügen haben die kaum noch im Kopf. Alois Brummer ist da ein gutes Beispiel. Es gibt allerdings auch vornehme Leute im Geschäft. Wenn sie über wichtige Inhalte reden, über das, was sie den Leuten als Botschaft bringen wollen, dann denke ich oft: Klappern gehört zum Geschäft. Oder auch vornehmer mit Godard:

Die Kunst der Massen ist eine Idee der Kapitalisten.“

Dieses Jahr in Oberhausen bei der Diskussion „20 Jahre Oberhausener Manifest“ habe ich das auch wieder gedacht. Die Gefahr in diesem Bereich, entweder reich zu werden und alles zu vergessen oder Konkurs zu machen oder aber zum Heiligen zu verkommen, ist besonders groß. Wir bekommen einen Brief von der Verleihgenossenschaft in München. Da steht etwas von den Gralshütern der richtigen Verleihpolitik. Sie haben recht gehabt. Doch damals bin ich sauer auf diesen Brief.

Inzwischen ist aus dem Popelverein von 1972, in der jeder Mitarbeiter 60 DM pro Monat einzahlen mußte, ein Betrieb mit einem Jahresumsatz von 400.000 DM geworden. 40 Jahre unter- und unbezahlter Arbeit stecken drin. Vier von Alfred Hilsberg und A.R. und A. K., vier von mir (Jens Meyer)., drei von Klaus Jötten. (?), zwei von T. (Thomas Thielemann), zehn von C.. Wenn man sich jetzt von C. trennt, so wie man sich von 20 anderen getrennt hat, aus „inhaltlichen“ Gründen, warum sollte man sich nun nach so vielen Jahren privatrechtlich trennen?

Haben wir nicht viele Jahre diesen Verleih als „Instrument der Bewegung“ bezeichnet? Der Verleih ist schließlich niemals eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für frustrierte Akademiker gewesen. Oder etwa doch? Wer hat mich solange so gut täuschen können? Fragen, die zur Zeit nicht beantwortet werden können. Ein Brief von Arbeit und Film (Gernot Steinweg-Frankfurt): Sie warnen vor zwei Konkurrenzverleihen, sie haben recht. Der „Markt“ ist nicht groß genug. Aber sie meinen es anders. Wir sollen C. den Verleih überlassen, wie immer.

Es beginnt im November 81 eine Grundsatzdiskussion. Ich breche fast zusammen. Lese von mir akzeptierte Definitionen in unserem „1978-Hauptkatalog“. Das steht als Definition für Frauenfilme folgendes: „Arbeiterinnen und Angestellte in der BRD und in anderen Ländern, ihre Arbeitsbedingungen, Leichtlohngruppen, Abtreibungsverbot, und Abhängigkeit von Männern, ihr Kampf für die Stärkung der Arbeiterklasse.“ Mir wird übel vor mir selber. Vier Filme sind aufgeführt. Frauen existieren in einem linken Verleih vor allem: 1. entweder als ausgebeutete Arbeiterin am Fließband mit der Doppelbelastung oder 2. als arme Frau, die mit der Klassenjustiz-und dem § 218-in Konflikt kommt.

Ein Film wird uns angeboten. Ohne Liebe ist man höchstens geschickt. (vergleiche Medium 2/82; d. Red.) – ein Dokumentarfilm über die Arbeit einer Hebamme. C. fordert eine Grundsatzdiskussion, er findet den Film zwar auch gut, aber er gehöre wohl „eher in einen bürgerlichen Verleih“. Der Film kommt trotz erheblicher Widerstände in den Verleih. Eine Grundsatzdiskussion soll trotzdem kommen. Alle „Hauptamtlichen“ sollen dabei sein. Schon damit sie sich später nicht rausreden können, da bin ich nicht dabei gewesen, das müssen wir noch mal diskutieren. Schließlich ist das ein Filmverleih und kein Diskussionsclub, der mit Diskussionen die ökonomische Grundlage des Verleihs stabil erhält. Frist 31. März 82 (1982).

Bis dahin wollen wir alle Schwerpunktbereiche des ZFV ausführlich diskutieren und für die nächste Zeit festlegen. Kein Festivalbesuch, keine Filmanschaffungen, keine Reisen – vor allem keine Reiseprotokolle. Alle halten sich daran. Nur C. hat schon nach 14 Tagen drei Reisen fest abgemacht und fährt auch trotz Drohungen und Verwünschungen der anderen nach Berlin, Finnland und in die Schweiz.

Sachzwänge lassen sich immer schaffen, sagen seine Gegner. Seine Lober dagegen: Das war notwendig, hätte er diese Reisen nicht gemacht, hätte er damit dem ZFV schweren Schaden zugefügt. Ich erinnere mich: die alte Diskussion: Die Sache ist wichtig und nicht, auf welche Weise man zum Ziel kommt. Ich dagegen und auch die Lohnlistenmitarbeiter: „Eine Sache, die innen falsch ist, kann nicht außen richtig sein“, oder anders: „Beides ist wichtig – das Ziel und auch der Weg.“

Das wird, wenn das zwischen dem weißen medium-Karton gedruckt ist und gelesen wird, sicher Schnee von gestern sein. Ein Bericht aus dem Innern des Wals.

Das war Vergangenheit und nun

Wie wird der neue Zentral Film Verleih arbeiten? Wie wird er innen aussehen? Welche Filme wird er in Zukunft verleihen wollen? Auf welche Weise will er mit anderen Filmverleihen und den Benutzern der Filme besser zusammenarbeiten als in der Vergangenheit? Da haben viele Leute Wünsche und Hoffnungen, aber auch: schon eine Praxis, die sich in Teilen bewährt hat. Was gut war in der Vergangenheit, soll auch in Zukunft so bleiben: Eine Verleih, der partei- und bonzenunabhängig arbeitet. Auch die 15 Bereiche sollen weitgehend erhalten bleiben.

Die dogmatische Ausgrenzung sogenannter „unpolitischer“ Filme wird in Zukunft unterbleiben. Es wird im zukünftigen Verleih auch viele Filme geben, die nicht nur zu Schulungskursen oder Seminaren verwandt werden können, sondern Filme, in denen das Leben dieser Menschen auch vorkommt. Filme, in denen Menschen auftauchen und nicht nur Funktionen.

Einige dieser Filme sind schon im Verleih. Zu nennen sind z. B. Das höchste Gut einer Frau ist ihr Schweigen, Ohne Liebe ist man höchstens geschickt, Geschichten von Flüsterpferd, Der Traum von einer Sache.

Das „De-Facto-ZK-des ZVF“ ist als aufgelöst zu betrachten. Wir entscheiden in Zukunft nicht mehr alleine, ob ein Film notwendig ist oder nicht. Benutzer und Filmemacher sollen sich an den Entscheidungen beteiligen und auch die Möglichkeit bekommen, ihre Entscheidungen durchzusetzen. Sollte es bei der bisherigen Rechtsform des Vereins bleiben, dann ist das mit einer entsprechenden Satzung und Zusatzverträgen auch möglich.

Einige Filmemacher haben wir dafür auch schon begeistern können. Sie arbeiten bereits jetzt am neuen Konzept und der neuen Praxis mit. Auch mit einigen Spielstellen haben wir schon gesprochen. Es wäre schön, wenn nach dem Abdruck dieses Artikels noch mehr Filmemacher und Benutzer/Spielstellen ihre Bereitschaft zur Mitarbeit erklären würden.

Das hört sich nun zwar ziemlich groß nach Bundeskonferenz an, soll es aber nicht werden. Ganz neu sind wird auch nicht. Da genügt oft schon ein Hinweis: „Wir brauchen einen Film für unsere Veranstaltungen, der so und so aussehen soll. Es wäre gut, wenn ihr so was mal anschaffen könntet.“

Oder mehrere Spielstellen wenden sich an den Verleih, um einen Film aus dem Ausland in die BRD zu holen. Damit werden wir in Zukunft anders als in der Vergangenheit umzugehen wissen. Wir wissen in Zukunft nicht mehr alles, und vorrangig auch nicht mehr alles besser. Wir geben in Zukunft Hilfestellungen, wir wollen Kraft und Mut geben, wer das braucht. Aber wir wollen auch beides zurück. Wir wollen Instrument sein und selber dabei leben. Wir lassen uns nicht einteilen: hier Politik, da Leben in zwei getrennten Bereichen.

Wir wollen keine damit Zeit verschwenden, indem wir so lange reden, bis ihr der gleichen Meinung seid wie wir. Wir wollen euch nicht überreden. Unterschiedliche Meinungen in verschiedenen Filmen bleiben unterschiedlich. Wir sprechen darüber, aber nicht mit einer Stimme. In der Vielfalt liegt unsere Kraft. Wir wollen nicht auf fahrende Züge aufspringen und immer in verschiedene Richtungen ein Zeitlang mitfahren, mit Lokomotivführern, die die Fahrpläne auch nicht besser kennen, als wir selber. Manchmal wissen wir selber, was zu tun ist, manchmal wissen es andere.

Aber ihr und wir – wir machen unterschiedliche Erfahrungen, und die Summe unserer und eurer Erfahrungen wird der neue Verleih sein. Wir wollen keine Satzungsänderungen, um mit Leuten zu kämpfen. Wir sind manchmal ratlos.

Aber wir geben unsere Köpfe nicht an der Garderobe ab, und unseren Bauch haben wir auch immer dabei. Denn was soll das nutzen, wenn wir nichts zu fressen haben? Wir sind keine Ersatzkirche und auch keine Ersatzkirchenvertreter. Wir wollen das alles mit euch zusammen erreichen.

Mit euch, die ihr euch morgens um fünf aus dem Bett quält, und mit euch, die ihr euch an Fernsehredakteuren abarbeiten müßt, mit euch, die ihr um 9 Uhr die Auseinandersetzung mit dem Arbeits/Sozialamt führt, mit euch, die ihr um 10 Uhr in eurem Unisemiar sitzt.

Auch mit euch Filmemachern, die ihr euer Leben mit „Anträge-Formulieren“, „Geld-Besorgen“ verbringt. Auch mit euch, die ihr eure Filme vor zehn Leuten zeigen müßt, weil nebenan ein Fußballspiel läuft. Es gibt allerdings auch welche, mit denen wir nicht zusammenarbeiten wollen. Aber die wissen das selber, brauchen auch keine Filme und lesen diese Zeitschrift sowieso nicht.

Laßt uns zusammen anfangen. Wir wissen noch nicht alles. Aber wir haben nicht nur Wünsche und Hoffnungen, sondern auch eine Praxis. in den theoretischen Schriften stand jedenfalls nicht . . . laßt euch vereinigen.

Wie wir das nun innen konkret laufen? Wie wird der neue Verleih arbeiten? Der Verleih hat zunächst drei Mitarbeiter, die ökonomisch vom Verleih abhängig sind: W.K., E. S., A.R.

Dann einen weiter Mitarbeiter, der noch anderswoher Geld bekommt: Schorsch (K.G.W.). Falls der Verleih seine Rechtsform behalte) n sollte, dann wird durch zusätzliche Verträge eine derartige Machtzusammenballung wie bei C. vorgekommen, aus-geschlossen. Die Rechte der unterschiedlichen Interessengruppen wie Verleihmitarbeiter, Filmemacher, Spielstellen werden in einem Statut berücksichtigt. Falls es zu Interessenkonflikten kommen sollte. werden diese mithilfe von unabhhängigen Schiedskommissionen geklärt: nicht wie in der Vergangenheit mit Machtzusammenballung, ökonomischen Machtmitteln oder Landgerichtsurteilen. In Konfliktfällen bei Filmanschaffungen sollen Minderheiten nicht Filme verhindern können, sondern nur umgekehrt Minderheiten sollen ebenfalls die Möglichkeit bekommen, bestimmte Filme anzuschaffen. Nicht Ausgrenzung, sondern Vielfalt. Nicht Landgericht.

Zu den Organen des Verleihs

Oberstes Organ: Mitgliederversammlung, Genossenschafterversammlung, Anteilseignerversammlung oder wie immer auch das Kind heissen wird.

Zweimal im Jahr findet eine solche Versammlung statt. In ihr wird von den Verleihmitarbeitern und dem Kassenmenschen Rechenschaft über das vergangene Halbjahr abgegeben. Hier wied die gemeinsame Richtung für das nächste Halbjahr angegeben. Die MV beauftragt einen Vorstand. Der Vorstand vertritt in Rechtsgeschäften den Verleih nach außen. Außen kann sein: Postscheckamt, Bank u. a. . Dies ist seine einzige Funktion. Diese Tatsache führt nicht dazu , daß die übrigen Mitglieder oder Mitarbeiter mit dem Argument erpresst werden, der Vorstand hafte etc. . Seine Wählbarkeit wird zeitlich begrenzt. Mindestens ein fester Verleihmitarbeiter soll Mitglied des Vorstandes sein.

Verleihbesprechung. Diese VB ist das entscheidende Organ für Entscheidungen zwischen den halbjährlich stattfindenden Versammlungen aller Mitglieder/arbeiter. Dieses Organ gibt sich eine Geschäftsordnung, in dem der Teilnehmerkreis beschrieben ist.

Das sollten sein: der Vorstand, die festangestellten Mitarbeiter, die Teilzeitmitarbeiter sowie jene unbezahlten Mitarbeiter, die zeitlich begrenzt bestimmte Projekte des Verleihs betreuen. Kein Teilnehmer dieser Besprechung beansprucht für sich oder andere ein Vetorecht bei Entscheidungen. Es gilt das Konsensprinzip. Können wir auf diesem Weg zu keiner Entscheidung kommen, so stimmen wir ab. Stimmberechtigt ist der in der Geschäftsordnung genannte Teilnehmerkreis. Die Sitzungen finden wöchentlich statt.a Das sollten sein: der Vorstand, die festangestellten Mitarbeiter, die Teilzeitmitarbeiter sowie jene unbezahlten Mitarbeiter, die zeitlich begrenzt bestimmte Projekte des Verleihs betreuen. Kein Teilnehmer dieser Besprechung beansprucht für sich oder andere ein Vetorecht bei Entscheidungen. Es gilt das Konsensprinzip. Können wir auf diesem Weg zu keiner Entscheidung kommen, so stimmen wir ab. Stimmberechtigt ist der in der Geschäftsordnung genannte Teilnehmerkreis. Die Sitzungen finden wöchentlich statt.

Alle vier Wochen (jeden 4. Sonntag) finden Beraterversammlungen statt. Welche genaue Funktion diese Beraterversammlung haben könnte, darüber solltet ihr euch den Kopf zerbrechen.

Einige von uns denken, es sollte eine Meinungsbörse sein für Gespräche zwischen Verleihern, Benutzern der Filme und Filmemachern. Andere von uns haben die Vorstellung, daß man diesem Beratergremium die Auswahl der neuanzuschaffenden Filme übertragen sollte. Was wir gemeinsam verhindern wollen, sind Abstimmungsmaschinen. Vor allem keine Verwaltungsbürokratie. Und die Sache soll auch nicht zu einem Diskutier Verein verkommen, in dem Leute die Finger heben, deren Fingerheben in jeder Hinsicht für sie folgenlos bleibt.

Bisher alles noch veränderbar. Diskussionsansätze. Aber wir können auch nicht zwei Jahre mit der Umsetzung unserer Vorstellungen warten.. Der Büroalltag des neuen Verleihs wird folgendermaßen praktiziert. (jetzt auch schon teilweise):

Alle Verleihmitarbeiter sollen in gleicher, praktischer Weise Zugang zu allen Informationen des Verleihs haben. Um dieses Ziel zu verwirklichen, müssen künftige Informationsvorsprünge/Machtansammlungen verhindert werden. Dazu werden zunächst die sogenannten Routinearbeiten wie Filmberatung und Disposition der Filme (telefonisch/schriftlich), Versand und Kontrolle der Kopien, Katalogbestellungen, Anschriftenkartei u. a. auf alle anwesenden Mitarbeiter in einem wöchentlichen Rythmus gleichmäßig verteilt (Rotationsprinzip). Auch die restlichen anfallenden Arbeiten, die weniger termingebunden sind, wie Filmabrechnungen, Erstellung und Versand von Informationsmaterial, Sichtvorführungen und Filmbegleitungen, Einsatzstatistiken u. a. werden wöchentlich gleichmäßig verteilt. Im dritten Bereich sind die Arbeiten zu verteilen, die über längere Zeiträume zu bearbeiten sind, wie Kontoführung, Rechnungsabbuchung, Lohnbuchhaltung, Steuererklärung u. a.. Diese Arbeiten werden im viertel-jährlichen Rythmus auf alle Mitarbeiter gleichmäßig verteilt. Außer den genannten Arbeiten wird der Verleih unentgeltlich arbeitende „Projektmitarbeiter“ (wie in der Vergangenheit auch) für einzelne Aufgaben haben.

Das sind beispielweise Herstellung deutscher Tonfassungen ausländischer Filme, Rundreisen mit neuen Filmen, Herstellung von Hintergrundmaterialien für bestimmte Einsatzbereiche, Verbesserung des dezentralen Beratungsnetzes zusammen mit ähnlich arbeitenden Verleihgruppen in der BRD. Auch in diesem Bereich sind wir für Anregungen offen und für Angebote dankbar. Und im Gegensatz zu früher werden wir sie nicht jahrelang wohlwollend prüfen, bis niemand mehr davon weiß.

Im Verlauf unserer Auseinandersetzungen sind wir immer wieder auf ähnliche Fälle von Privatisierungsversuchen innerhalb des linken Ökonomie Bereiches gestoßen. Der Witz, in dem ein Kollektivmitglied ruft:

Chef, kannste ma kommen, hier will jemand was über unser Kollektiv wissen“, gehört für den Zentral Film Verleih Hamburg e. V. jedenfalls der Vergangenheit an.

Text: Jens Meyer Mai 1982/neu abgeschrieben im Februar 2021

Foto Henning Scholz

Die Sache war damit natürlich noch nicht zu Ende. Siehe Bemerkungen 2021. Nach fast 40 Jahren sollten auch die Namen der damals Beteiligten genannt werden: A. H. = Alfred Hilsberg; A. K. = Anne Kubina; A. R. = Andrea Rudolphi; C. L. = Christian Lehmann (Ehemals Vorsitzender der ZFV e.V.), K. J. = Klaus Jötten; D. L. = Detlev Lehmann; E. S. = Elfriede Schmitt; S. F. = Sabine Fischötter, J. M. = Jens Meyer; K. G. W. = Klaus Georg Wolf; N. H. = Norbert Huhn; T. T. = Thomas Thielemann; U. E. = Uwe Emmental; W. M. = Wolfgang Morell; W. K. = Werner Koch

In Erinnerung an Renate Holland-Moritz (I)

Leseproben aus dem Büchlein Ossis, rettet die Bundesrepublik!

“Irgendeiner dieser farblosen schwarzen Politker ließ die staunenende Noch-DDR-Öffentlichkeit des Jahres 1990 wissen, er habe sich seit dem 17. Juni 1953 – da war er grade dreizehn – im inneren Widerstand gegen das herrschende SED-Regime befunden. Gottlob war es ihm gelungen, den Tatbestand so konspirativ zu behandeln, daß nie eine Menschenseele von seinem zur Faust geballten Innenleben erfuhr.“ So beginnt der Text: “Mein 17. Juni und die literarischen Folgen“ von Renate Holland-Mortiz, die leider vor einigen Jahren gestorben ist. Hier kommt noch mal eine kleine Erinnerung an sie. Das Buch ist im Dietz Verlag, Berlin erschienen. Die 5. Auflage ist 1996 erschienen und hat die ISBN 3-320-01827-2- In Corona Zeiten ist der Buchkauf etwas schwieriger als sonst, deswegen hier zwei kleine Ausschnitte zur Leseprobe.

Renate Holland-Moritz Abschrift aus dem Buch: Ossis, rettet die Bundesrepublik! Dietz Verlag Berlin. 5. Auflage 1996, Seite 21-30 “Stasi-Kontakt mit Happy-End“

“Infolge ihrer eklatanten Überflüssigkeit wurde die »Friedenspost«, Zentralorgan der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, im Herbst 1953 des sozialistischen Blätterwaldes verwiesen. Ich konnte meine journalistische Ausbildung in der »BZ am Abend« fortsetzen, die sich selbstbewußt als das »Herzblatt des Berliners« offerierte. Mir allerdings beschwerte es allmorgendlich das Herz, denn ich schaffte es fast nie, pünktlich um 6.30 Uhr (sonnabends und montags gar um 5.30 Uhr) in der Redaktion einzutreffen. Eines griesegrauen Wintermorgends im Jahre 1954 hatte ich mich wieder einmal erheblich verspätet und hoffte inständig, der Allmächtige möge mich ungesehen an meinen Schreibtisch gelangen lassen. Doch schon auf dem ersten Treppenabsatz erwartete mich das Strafgericht in Person unseres Chefredakteurs Ernst Hansch. Er war totenbleich, zitterte am ganzen Leib und fragte mit tonloser Stimme: »Was haben sie getan?« »Verschlafen«, gestand ich kleinlaut, »aber es soll nie wieder vorkommen.« »Lenken Sie nicht ab«, unterbrach er mich schroff, »sagen sie frei heraus, was Sie wieder angestellt haben. Wenn, wie so oft, Ihre Kodderschnauze mit Ihnen durchgegangen ist, kann ich mich vielleicht für Sie verwenden.« Nun verstand ich überhaupt nichts mehr. »Wovon reden Sie eigentlich?« »Wovon ich rede?« Ernst Hansch kiekste wie ein hysterischer Countertenor. »Ich rede davon, daß Sie zum Ministerium für Staatssicherheit bestellt sind. Der Genosse Ernst Wollweber will Sie sprechen, und zwar sofort!« Mir viel eine Zentnerlast vom Herzen. Also kein Trouble mit meinem Chef! Der Chef der Staatssicherheit interessierte mich überhaupt nicht. Seine Klientel bestand doch wohl vorrangig aus Diversanten und Umstürzlern, und nichts dergleichen traf auf mich zu. »Bin schon auf dem Wege«, sagte ich munter, »wo residiert denn seine Heiligkeit?« »Um Gottes Willen, Kindchen« flüsterte Ernst Hansch, »nehmen Sie das nicht auf die leichte Schulter. Auf jeden Fall erstatten Sie mir sofort nach Ihrer Rückkehr Bericht. Falls Sie zurückkommen«, fügt er noch leiser hinzu. Auf dem kurzen Weg vom Berliner Verlag in der Otto-Nuschke-Straße bis zum Ministerium für Staatssicherheit in der Glinkastrasse bemächtigte sich meiner doch eine gewisse Nervosität. Konnte es sein, daß mich irgend jemand wegen Verbreitung des einen oder anderen politischen Witzes denunziert hatte? Und wenn schon, dachte ich trotzig. Wegen solcher Delikte hatte man sich in der Nazizeit zu fürchten gehabt. Daß auch Opfer der Nazis in der gleichen Weise reagieren würden, hielt ich für üble feindliche Nachrede. Am Portal wurde ich von einem Wachtposten im Empfang genommen und im barschen Ton an den nächsten weitergereicht. Die Prozedur wieder-holte sich noch einigemal, bis ich endlich einen riesigen Raum betreten durfte. Am Horizont machte ich einen ebenfalls riesigen Schreibtisch aus, hinter dem ein unscheinbares Männchen trohnte: Ernst Wollweber. Etwa zwei Meter entfernt von ihm hockte auf einem Stuhl ein in sich zusammengerutschtes Menschenbündel. Als sich unsere Blicke trafen, erkannte ich den Mann. Ich wollte spontan auf ihn zugehen, aber Wollweber befahl mit schneidender Stimme: »Stehenbleiben!« Ich verstand nicht, warum ich den Besetzer des Armsünderstuhls nicht wenigstens begrüßen durfte. Er hieß Günther Hoffmann, wohnte in Strausberg und war ein Freund eines mir befreundeten Kollegen . Vor zwei Tagen waren wir bei ihm und seiner Frau Karin zu Gast gewesen. Die mir bis dato unbekannten Hoffmanns hatten auch mich herzlich aufgenommen. Es wurde ein ausgesprochen angenehmer Abend. Wir schwatzten über Gott und die Welt und zogen feixend prominente Politiker und Künstler durch den Kakao. Da die Hoffmanns regelmäßige Leser der »BZ am Abend« waren, interessierten sie sich besonders für die Art meiner Tätigkeit. Ich berichtete, daß ich – genau wie die anderen Volontäre und Assistenten der Lokalredaktion – mit einer ebenso langweiligen wie unnützen Arbeit betraut sei. In den damals noch gar nicht existierenden Mauern unserer Stadt wurde das Außenministertreffen der alliierten Siegermächte vorbereitet, und wir sollten die Bürger befragen, was sie sich von dieser historischen Viererkonferenz versprächen. Es war nicht das erstemal, daß wir die Volksmundpropaganda erforschen mußten, und es war nicht das letztemal, daß wir es auf die für uns am wenigsten peinliche Weise taten. Indem wir nämlich in der Redaktion blieben und uns die höheren Orts gewünschten positiven Lesermeinungen samt Namen und Adressen einfach ausdachten. »Was haltet ihr eigentlich von der Konferenz?« fragte ich unsere Gastgeber. »Meint ihr, da kommt wirklich was Vernünftiges für die Deutschen heraus?« »Glaub ich nicht«, sagte Günter Hoffmann, »sie wird vermutlich ausgehen wie alle diese Treffen, nämlich wie das Hornberger Schießen.« Die Formulierung gefiel mir, und ich beschloß, endlich einmal eine echte, noch dazu kritische Leserstimme ins Blatt zu bringen. Am nächsten Morgen tippte ich den Satz vom Hornberger Schießen, und ab mittags um 12. Uhr konnten sich die Leser vom Skeptizismus irgendeines Günter Hoffmann aus Strausberg überzeugen. Minister Wollweber hielt eine Exemplar der »BZ am Abend« in der rechten Hand. Mit der Linken zeigte er auf das vor mir sitzende Häufchen Unglück und fragte mich in inquisitorischem Ton: »Kennen sie diesen Mann?« Ich war zwar ein reichlich naiver Teenager, hatte aber doch genügend Krimis gelesen, um zu wissen, daß man sich nicht in allzu offenkundige Widersprüche verwickeln dürfe. Wollweber mußte bemerkt haben, daß ich Günter Hoffmann kannte, seine Frage war also rein rhetorischer Natur. »Ich habe Herrn Hoffmann und seine Frau vorgestern kennengelernt«, antwortete ich wahrheitsgemäß, »er ist ein Freund meines derzeitigen Freundes. Was hat der denn gemacht?« Wollweber lief dunkelrot an. »Hier stelle ich die Fragen«, donnerte er. »Also, worüber haben sie gesprochen?« Ich sah zu Günter Hoffmann und glaubte, in seinen glanzlosen Augen ein flehentliches Blinzeln zu bemerken. »Über alles Mögliche und nichts Besonderes«, sagte ich leichthin. »In erster Linie habe ich mich mit Frau Hoffmann unterhalten. Sie ist ein Handarbeitsgenie und will mir aus Wollresten einen Pullover stricken. Außerdem . . . « Wollweber fiel mir gereizt ins Wort. »Ich präzisiere: Haben sie mit Hoffmann über die Berliner Vierkonferenz gesprochen?« »Aber nein«, sagte ich mit Nachdruck. »Gleich am Anfang des Abends hatte sich Frau Hoffmann nämlich ausgebeten, daß die Themenbereiche Politik und Arbeit ausgespart werden sollten. Ich fand das, ehrlich gesagt, ein bißchen kleinbürgerlich.« Wollweber drosch mit einem Lineal auf die »BZ am Abend« ein. »Und wie kam es dann zu dieser Veröffentlichung?« Ich tat, als bemerke ich das Corpus delicti erst jetzt. »Ach das meinen Sie«, sagte ich mit gespielter Betretenheit, »das ist nun wirklich ein bißchen peinlich. Natürlich kann ich Ihnen alles erklären, aber Sie müßten mir versprechen, die Angelegenheit unbedingt vertraulich zu behandeln. Kann ich mich auf Ihre Verschwiegenheit verlassen?« Die oberste Sicherheitsnadel wurde ganz spitz im Gesicht. Doch dem fälligen Wutausbruch kam ich zuvor, indem ich detailliert über die Plage des kampagneartiken Stimmensammelns berichtete. Ich verriet Wollweber sogar, daß es durchaus nicht ungefährlich sei, Bürger zu politischen Ereignissen zu befragen. Nicht selten bekäme man anstelle einer Antwort Ohrfeigen angeboten. Bekanntermaßen gehöre es doch aber nicht zu den Aufgaben der sozialistischen Presse, den Unmut des Volkes öffentlich zu machen. Also seien wir dazu übergegangen, den Fragen gleich die politisch richtigen Antworten beizufügen. »Leider« fuhr ich fort, »ist da das Problem mit den Namen. Sie sollen nicht zu gewöhnlich sein. Müller, Meier, Schulze und Lehmann nimmt mir mein Ressortleiter Klaus Poche schon seit Tagen nicht mehr ab. Absonderlich oder gar lächerlich dürfen sie aber auch nicht sein. Allein aus diesem Grunde konnte eine äußerst positive Meinungsäußerung eines gewissen Gustav Niedergesäß aus Oberschöneweide nicht erscheinen.« »Schluß mit dem Blödsinn«, brüllte Wollweber, kalt vor Wut. »Ich will auf der Stelle wissen, ob diese defätistische Bemerkung über die Viererkonferenz von unserem Genossen Hoffmann stammt!« Erst jetzt wurde mir klar, daß Günter Hoffman auch zur Firma gehörte. Diese Erkenntnis berührte mich irgend wie seltsam, denn unter einem »Kundschafter« hatte ich mir immer etwas Heldenhaftes, vielleicht Dämonisches, auf jeden Fall Geheimnisvolleres als diesen netten Mann vorgestellt. »Natürlich nicht«, wehrte ich entschieden ab, »wir haben ja überhaupt nicht über die Viererkonferenz gesprochen. Es verhielt sich nur so, daß mein Chef Klaus Poche auch einmal eine kritische Stimme abdrucken wollte, der Ausgewogenheit halber. Als ich den Auftrag ausgeführt hatte, stand ich wieder vor dem Namenproblem. Und das muß mir das mit Günter Hoffmann, Straußberg, einfach unterlaufen sein. Weil die Adresse so schön allgemein und doch nicht fiktiv war. Wenn ich allerdings geahnt hätte, daß ich Herrn Hoffmann damit in Schwierigkeiten bringe . . . « »Sie behaupten also«, resümierte Wollweber, »sich den Satz selbst ausgedacht und den Namen Hoffmann mißbräuchlich benutzt zu haben. Ist das so?« Ich nickte heftig. Wollweber sah mich lange und durchdringend an. Offenbar wurde er sich nicht klar darüber, ob er es hier mit blanker Dreistigkeit oder mit echter jugendlicher Naivität zu tun hatte. Schließlich forderte er mich in scharfem Ton zum Gehen auf. Ich stand noch einen Moment unschlüssig in dem kahlen Raum herum und versuchte, mit Günter Hoffmann einen Blick zu wechseln. Aber er stierte verbissen auf seine Schuhspitzen. »Sie sollen gehen«, raunzte Wollweber. Wenig später umarmte mich Chefredakteur Ernst Hansch wie den verloren geglaubten Sohn, zeigte sich nach meiner Berichterstattung aber keineswegs beruhigt. Noch tagelang wagte er sich kaum aus seinem Zimmer, immer in Erwartung des gefürchteten Anrufs. Der kam übrigens nie. Im Frühjahr 1984 war ich von den Mitarbeitern der Studiotechnik zu einer Lesung ins Café des DDR Fernsehens eingeladen worden. Dem literarischen Horsd’œuvre folgte eine mittleres Gelage, das als sogenanntes geselliges Beisammensein ebenfalls aus dem Kultur- und Sozialfonds des Betriebes finanziert wurde. Ich saß mit einigen Studiotechnikern am Tisch und gab bereitwillig Auskunft über Möglichkeiten und Grenzen der Satire unter gerontokratischen Zensurbedingungen. Ein Mann im besten Vorruhestandsalter bat Platz nehmen zu dürfen und drückte mir ein Glas Sekt in die Hand. »Was sagst du nun?« fragte er strahlend. »Danke« antwortete ich verwirrt, denn ich hatte nicht die Spur einer Ahnung, wer der edle Spender sein könnte. »Zugegeben, es ist lange her« räumte er ein,»aber meine Adresse lautet noch immer: Günter Hoffmann, Strausberg.« Ich erlitt fast einen Schock. In all den Jahren hatte ich die Erinnerung an meinen einzigen Direktkontakt mit der Stasi zu verdrängen versucht. Doch das Bild des gebrochenen Mannes vor dem Schreibtisch des damals ranghöchsten Schnüfflers (Ernst Wollweber wurde 1958 zusammen mit Karl Schirdewan wegen »Fraktionsbildung« entmachtet und aus dem Zentralkomitee ausgeschlossen) verlor sich nie ganz aus meinem Gedächtnis. Immer wieder belastete mich der Gedanke, einem Menschen aus Unüberlegtheit Schaden zugefügt zu haben. Dann wieder beruhigte ich mein Gewissen mit der Harmlosigkeit des Tatbestandes. Wenn dieser Günter Hoffmann Zweifel in die Effektivität der Viererkonferenz gesetzt hatte, so war das sein verbrieftes Grundrecht, nachzulesen in der Verfassung der DDR. Daß diese für die amtlich bestallten Schützer des Staates nur wertloses Papier darstellte, lag im Zynismus des Sicherheitssystems begründet. Nun aber saß mir der einst so jämmerlich Gedemütigte lächelnd gegenüber und erzählte mir seine Geschichte. Günter Hoffmann war das Kind ermordeter Antifaschisten. Nach 1945 ersetzte ihm die Partei die Familie, und als sie beschloß ihn im Bereich der Staatssicherheit als Nachrichteningenieur ausbilden zu lassen, wäre er nie auf die Idee gekommen, Widerspruch einzulegen. Doch spätestens seit den Ereignissen vom 17. Juni 1953 fühlte er sich nicht mehr in Übereinstimmung mit den politischen Idealen seiner Eltern und empfand seine Tätigkeit mehr und mehr als drückende Last. Allerdings sah er nicht die geringste Chance, aus der Verpflichtung entlassen zu werden, ohne sich der Republikflucht schuldig zu machen. Das aber stand für ihn nicht zur Debatte. Als Günter Hoffman nach seinem unfreiwilligen Leserbrief von Minister Wollweber hochnotpeinlich in die Zange genommen wurde, bestritt er zwar nicht, mich zu kennen, leugnete aber die Urheberschaft an der kritischen Bemerkung in der »BZ am Abend«. Mein Erscheinen vor dem Allerhöchsten machte seine vage Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang der Sache endgültig zunichte. Natürlich war er überzeugt davon, Wollweber würde mich einschüchtern und so die Wahrheit ans Licht befördern. Allein meine grenzenlose Naivität und der mir innewohnende Spieltrieb retteten Günter Hoffman. Selbstverständlich wurde er fristlos aus dem Staatssicherheitsdienst entlassen, doch mangels Beweises immerhin in Ehren. Das erschloß sich ihm im Jahre 1954 die unschätzbare Möglichkeit einer bürgerlichen Existenz. Ob Günter Hoffmann allerdings nach fast vierzigjähriger Stasi-Abstinenz mit der Absolution des gottesfürchtigen Hexenjägers Gauck rechnen kann, darf bezweifelt werden.1991 Renate Holland Moritz. Am 14. Juni 2017 ist Renate Holland-Moritz gestorben. Ich habe, wie vermutlich die meisten Hamburger, erst von Ihrer Existenz erfahren, als der Eulenspiegel dann auch bei uns am Zeitungskiosk zu erwerben war. Leider konnten wir sie nicht ins 3001 Kino nach Hamburg locken. Aber wir haben es versucht.

Aus Wikipedia gemeinfrei

Inschrift auf dem Stadtbrunnen Hornberg, Baden Württemberg Jedwedes Kind auf der weiten Erd v.
Hornberger Schiessen schon hat
gehört, das Pulver ging aus zur
schönsten Stund, so dass man nicht
mehr schiessen kunnt!
Anno 1564

Seite aus Berlin Buchplan Umschlag Rückseite. (VEB Tourist Verlag) 8. Auflage 1989. ca. 1:25 000 Besonderheit dieses Planes: Der Westteil von Berlin ist weiss.

Renate Holland-Moritz

Abschrift von Mein 17. Juni und die literarischen Folgen

Aus: Ossis, rettet die Bundesrepublik Seite 16 -20

Renate Holland-Moritz schreibt seit 50 Jahren in der Satire-Zeitschrift Eulenspiegel ihre Filmkritiken,. Sie waren zu DDR-Zeiten Kult: Die Kinoeule. Interview mit Andreas Kurtz. Irgendeiner dieser farblosen schwarzen Politiker ließ die staunende Noch-DDR-Öffentlichkeit des Jahres 1990 wissen, er habe sich seit dem 17. Juni 1953 – da war er grade dreizehn – in innerem Widerstand gegen das herrschende SED-Regime befunden. Gottlob war es ihm gelungen, den Tatbestand so konspirativ zu behandeln, daß nie eine Menschenseele von seinem zur Faust geballten Innenleben erfuhr. Ähnlich heldenhaft habe ich mich leider nicht betragen. Meine Einwände gegen eine antifaschistische, den Sozialismus anvisierende Gesellschaftsordnung waren allerdings auch nicht derart gravierend. Genau genommen beschränkten sie sich auf dogmatische Auswüchse und so lächerliche Behauptungen, Ringelsocken, Schuhe mit Kreppsohlen und Jazz seien die Insignien der Dekadenz und gäben Zeugnis vom verfaulenden, demnächst untergehenden Kapitalismus. Um zu beweisen, wie gut sich westliche Mode und Musik mit östlicher Weltanschauung vertrugen, marschierte ich auf den Kreppsohlen der Firma Leineweber und ließ mich während des sogenannten Selbststudiums der marxistischen Klassiker von den Klängen des amerikanischen Soldatensenders AFN berieseln. Das hatte gar manche Aussprache mit anschließender Strafaktion zur Folge, deren angenehmste war, daß ich nie mit einer Funktion im Jugendverband betraut wurde. 1953 arbeitete ich, gerade 18 Jahre alt geworden, als Volontärin einer unsäglich langweiligen Wochenzeitschrift namens »Friedenspost«. Die Redaktion befand sich in der 6. Etage des Zentralvorstandes der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft auf dem Berliner Thälmannplatz. Hier teilte ich das Zimmer mit meiner Kollegin Hilde Linden, die später unter dem Pseudonym Hiltrud Lind vielgelesene Kinderbücher schrieb. An einem schönen sonnigen Junitag sah Hilde aus dem Fenster auf die Wihelmstraße und fragte mich: »Kannst du mir sagen, vor welcher Demonstration wir uns heute mal wieder gedrückt haben?« Ich konnte es nicht, überzeugte mich aber davon, daß sich ein langer Zug in Richtung Haus der Ministerien bewegte. Der Thälmannplatz war von erregten, teilweise wild gestikulierenden Menschen besetzt. Hilde bekam es mit der Angst zu tun, ich hingegen war nur neugierig. Deshalb beschloß ich, mich der geheimnisvollen Veranstaltung beizugesellen, um ihr auf den Grund zu kommen. Vor dem Haus, in unmittelbarer Nähe des U-Bahn-Einganges, geriet ich in einen Kreis wütend diskutierender Männer. Als sie mich sahen, verstummten sie. Dann allerdings war ich einem Schwall wüster Beschimpfungen und Drohungen ausgesetzt, die sich nur in der Rüdigkeit von denen meiner empörten FDJ-Funktionäre unterschieden. Wie diese nahmen die Demonstranten Anstoß an meinem Outfit. Aber nicht die eindeutig westliche Herkunft meines Kord-Lumberjacks störte sie, sondern die an der linken Jackenseite zweireihig befestigten Blechsymbole. Da prangte neben dem FDJ-Abzeichen das des Komsomol, eingetauscht beim organisierten und streng bewachten Freundschaftstreffen mit Sowjetsoldaten. Ferner erglänzten die Anstecker der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, der Gesellschaft für Sport und Technik, des Deutschen Turn- und Sportbundes sowie in der Reihenfolge des persönlichen Erwerbs die Abzeichen »Für gutes Wissen« in Bronze, Silber und Gold. »Runter mit det Lametta«, brüllten die staatsverdrossenen Aufrührer. Ich weigerte mich standhaft, beharrte gar auf meinem demokratischen Recht, mich mit allem zu schmücken, was nicht Krieg oder Nazismus verherrlichte. Das war Öl aufs Feuer. Wenn ich provozieren wolle, könne man auch anders. Ein Männerarm erhob sich schlagfertig. Doch ehe mir die Arbeiterfaust an die Wäsche konnte, wurde der Kreis um mich von einem energischen kleinen Mann zerteilt. Mit befehlsgewohnter Stimme fragte er, ob man sich nicht schäme, seinen Zorn an Unschuldigen abzureagieren, sein Mütchen gar an halben Kindern zu kühlen. Gehorsam traten die Leute einen Schritt zurück, so daß dem kleinen Mann Gelegenheit wurde, mich mit festem Griff aus der Gefahrenzone zu ziehen. »Räum deinen Klempnerladen ab«, schnauzte er mich an. Und ich, die ich eben noch bereit gewesen war, der vermeintlichen Konterrevolution zu trotzen, tat wie geheißen. Dann fragte der Mann noch, wo ich arbeite und wer mein Chef sei, und stieß mich schließlich unsanft durch die Tür meines Redaktionshauses. Der Lift war wieder mal kaputt, und ich mußte die sechs Etagen zu Fuß erklimmen. Auf dem Gang kam mir mein Chefredakteur Rudi Wetzel in heller Aufregung entgegen. Er hatte gerade eine telefonische Abreibung erfahren wegen »Vernachlässigung der Aufsichtspflicht gegenüber einer jugendlichen Spinnerin«. Der Anrufer war niemand anders als mein kleiner Retter. Er hieß Wilhelm Girnus und befehligte die Abteilung Kultur in der Redaktion des SED-Zentralorgans »Neues Deutschland«. Da ich Girnus nur dieses eine Mal getroffen habe, weiß ich nicht, ob er an jenem denkwürdigen 17. Juni 1953 noch eine weitere schicksalhafte Begegnung mit einem jungen Mädchen auf dem Thälmannplatz hatte. Sollte das nicht der Fall gewesen sein, so hat das Erlebnis mit mir eine äußerst seltsame Metamorphose in seinem Gedächtnis durchgemacht. In seinem autobiographischen Buch »Aus den Papieren des Germain Tawordschus« (erschienen 1982 in Hinstorff Verlag Rostock) schrieb Wilhelm Girnus: »Germain ging zum U-Bahn-Eingang. Dort stand ein Mädchen, etwa fünfzehn Jahre alt, im blauen Hemd der Freien Deutschen Jugend, blickte auf die zerstörten U-Bahn-Schilder und weinte. Germain trat an sie heran, legte den Arm um sie und blickte ihr in die verweinten Augen. Zum ersten Mal seit vielen, vielen Jahren empfand er Mitleid mit einem deutschen Menschen, eine zarten, leidenden Wesen, das nicht um den Tod von Vater und Mutter weinte, nicht um einen verlorenen Geliebten, sondern darum, das etwas vernichtet wurden, was sie als das ihrige empfand, weil sie es selbst mitgeschaffen hatte. Germain wußte natürlich, warum sie weinte, aber er wollte es aus ihrem Munde hören, er kannte, wie wohl es tat, von seinem Schmerz zu einem anderen zu sprechen. Er hatte sie in diesem Augenblick wirklich gern, er drückte sie an sich und fragte: ›Warum weinst du?‹ Schluchzend sagte sie: ›Da haben wir jahrelang aufgebaut, und jetzt kommen die und machen alles wieder kaputt.‹ Ein Strom von Tränen und Schluchzen brach aus ihr hervor, und gebrochen lehnte sie sich an Germain.« In nämlichen Jahr 1953 schrieb Wilhelm Girnus, später Professor für Literaturtheorie und langjähriger Chefredakteur der Literaturzeitschrift »Sinn und Form«, seine Doktorarbeit. Sie trug den Titel: »Goethe, der größte Realist der deutschen Sprache.« Ob Girnus auch seiner heimlichen Ahnfrau Hedwig Courths-Mahler würdigend gedachte, ist nicht überliefert. Renate Holland-Moritz (1990)

Minister Ernst Wollweber
Helene Pohling 31.03.1959
Fotos von Wikipedia gemeinfrei Fotografen sind auf der Seite nicht angegeben

Briefe an Wiebeke (II) Apropos Alexander Platz (Berlin)

Apropos Alexanderplatz (Nach wem ist er benannt, der Berliner Alexanderplatz?)

Romische Zahlen am BUG

Hallo Wiebeke, das muss eine Nacht im Januar oder Februar gewesen sein. Wir, die Deutschen waren damals noch zu zweit, (bzw. nach einer anderen Theorie auch zu dritt. Wolfgang Neuss, der Stern meiner Jugend und Tucholskyleser (Gripsholm), hat daraus gemacht: Eine typische Tucholsky Sauerei, was solln wir hier denn zu Dritt? Ich hatte jedenfalls gerade mein Stipendium von meinem Konto bei der Sparkasse der Stadt Berlin West abgeholt (440,– DM) und ueber den Bahnhof Friedrichstrasse die Stadt in Richtung des Ostteils verlassen, der sich damals laecherlicherweise Hauptstadt der DDR nannte. Ich weiss nicht mehr wie, aber mein letzter Aufenthalt war in der Muenzstrasse in einer Kneipe gewesen. (Mit einer Toilette im Keller). Als ich dann kurz vor Ladenschluss (24.00 Uhr) wieder im Traenenpalast war, um die Rueckreise anzutreten, stellte ich zu meinem Entsetzen fest, dass mein Pass, mein Visum und mein Stipendium in einem unbeachteten Augenblick (ich war zum Pinkeln in der Toilette im Keller) den Besitzer gewechselt hatten. Die Geschichte ist natuerlich noch laenger, aber hier kuerze ich sie jetzt ab.

Auf diesem Wege gelangte ich jedenfalls in das sagenumwobene Polizeipreaesidium am Alexanderplatz und hatte genuegend Zeit, ueber alles nachzudenken. Den ueberaus freundlichen Polizeibeamten (Sie nannten sich damals Volkspolizei – VP) habe ich mehrfach gebeten, mich in eine Zelle zu stecken, weil es auf dem Flur so schweinekalt war. Hat er nicht gemacht, mit dem Hinweis, ich wuerde morgen zur Bildzeitung laufen und dort schildern, wie man mich im Arbeiter- und Bauernparadies misshandelt haette. (Der VP hatte das Paradies in seinem Redebeitrag anders genannt, hab ich aber vergessen wie.) Obwohl ich versicherte, dieses nicht zu tun, hat er mich lieber weiter im Flur frieren lassen.

Jedenfalls haben wir zusammen die Nacht verbracht, nicht wie Du jetzt denkst. Wir sind mit seinem Trabant durch die naechtliche Hauptstadt der DDR gefahren, haben den Kneipenwirt aus dem Schlaf geholt und gefragt, ob er vielleicht zufaellig meinen Pass und mein Geld gefunden haette, hatte er aber nicht, wie er aus dem Fenster rief. Und, meine Hauptsorge, es war noch niemand auf meinem Pass in den Westteil der Stadt gelangt, was ich ueberaus freundlich von dem Dieb fand. Es haette sonst leicht so aussehen koennen, als dass ich meinen Pass an einen ausreisewilligen DDR Buerger verkauft haette, der die Absicht gehabt hatte, das Paradies der Arbeiter und Bauern lieber zu verlassen, und was der Gedanken der Klassenfeinde sonst noch so gewesen sein koennten. Nicht so ungeduldig sein. Deine Frage wird schon noch gestellt und auch beantwortet werden.

Jedenfalls, als mein Repertoire erschoepft war, habe ich dem VP genau diese Frage gestellt. Die, die Du mir auch gestellt hast. Die, nach wem ist der Alexanderplatz in Berlin genannt. Und da der Mann hochgebildet war, wusste er auch gleich eine Antwort. Der Alexanderplatz ist nach dem russischen Zaren Alexander, ich glaub es war der I., benannt worden. Ob das nun aber ein Vorname oder ein Nachname dieses Zaren war, habe ich damals nicht gefragt.

Offensichtlich waren die Russen mit ihren Peinigern immer auf Du, sonst waere ja Iwan, der Schreckliche auch ein Herr namens Herr Iwan gewesen. Ich weiss, das wolltest Du jetzt gar nicht alles wissen, aber so ist das nun mal. Das Leben ist kein Zuckerschlecken. Das Buch ist (falls Du noch nicht alles ueber den Stalinismus und die verfickte deutsche Revolution der Matrosen weisst) eine spannende Lektuere. Fehlt noch, wie es zu dem englischen Ausdruck kam: A little drink in the morning time, ist better, als den ganzen Tag gorkeinen, aber das ist eine andere Geschichte.

Achja, das Buch das ich Dir empfehlen wollte. Es hat den nicht gerade verkaufskraeftigen Titel: Von Kiel bis Leningrad. Bei der Nennung der Stadt Kiel kommt bei mir sofort die Idee der Langeweile und bei der Nennung der Stadt Leningrad kommt mir auch irgend was Langweiliges ueber die verlorene Diktatur des Proletariats in den Sinn. Jedenfalls kein Grund fuer eine Geldausgabe. Ohne langweilige Buecher kann man sich auch gut langweilen. Dieses Buch jedoch, man wuerde es nicht denken, ist tatsaechlich spannend. Und auch noch lieferbar. Erschienen im Berliner Basis Druck Verlag, und auch nicht ganz billig. Und mit vielen Worterklaerungen, 311 an der Zahl. Nur das Wort Sledowatel (auch Sledovatel), das mir zuerst auf Seite 263 aufgefallen ist, wird leider nicht erklaert. Doch die Suchmaschine Metager.org hat es gefunden: Sledovatel = Ermittler, Vernehmungsbeamter!

Das sollte der Basis Druck Verlag bei einer Neuauflage als Nummer 312 noch hinzufuegen. Achso: Das Buch heisst: Von Kiel bis Leningrad. (Untertitel: Erinnerungen eines revolutionaeren Matrosen 1917 – 1930) Autor ist Hermann Knüfken, ISBN : 978-3-86163-110-1, hat 474 Seiten und kostet 28,00 Euro in der gebundenen Ausgabe. Verlag: BasisDruck Verlag. Schliemannstr. 23 10437 Berlin, 030 44576 80. www. basisdruck.de

Buchumschlag

Brief an einen Freund (II)

Brief an meinen Freund Dietrich. Über ein Buch: Die Geschichte des Films im Dritten Reich von Francis Courtade / Pierre Cadars, Hamburg 25. Januar 2021

Hallo Dietrich, hier kommt nun die positive Seite der Pandemie zum Vorschein. Ich lese viel. Erst habe ich mit Vergnügen das Buch, das Du mir geschickt hast (David Wittenberg) gelesen, und jetzt habe aus der Bürosammlung ein Buch mitgenommen, das ich noch nie gelesen hatte. Und das mit gutem Grund. Wer liest schon Bücher über die Filmgeschichte? Ich jedenfalls habe alle Filmgeschichtsbücher (Gregor Patalas und was es sonst noch so alles gibt) immer nur zum Nachschlagen benutzt, aber niemals von vorn nach hinten durchgelesen. Jetzt bin ich bereits auf Seite 181 in der deutschen Übersetzung von Francis Courtade und Pierre Cadars „Geschichte des Films im Dritten Reich“, von 1976 von der Büchergilde Gutenberg herausgebracht, übersetzt hat das Buch Florian Hopf. Ich finde das Buch, die Nazis aus der Sicht der Franzosen, richtig charmant. Was mir gut gefällt sind die Beschreibungen der Nazi Filme. Kein deutscher Buchautor (den ich kenne) traut sich aus Mein Kampf wörtlich zu zitieren, was der Führer aller Nazis da so gemeint haben könnte. Auch bestimmte Worte, die es scheint, das es sie im Französischen nicht gibt, kommen manchmal vor. (Der schreibt nie von einer Kamerafahrt, sondern nimmt immer das englische Wort). Auch das macht die Sache flott. Damit Du das Buch in Deinem Regal schnell findest, habe ich den Umschlag auf den Scanner gelegt. Das Nachwort von Gerd Albrecht werde ich vermutlich auslassen. Ich hatte ein Seminar in der dffb mit ihm, das nannte sich „Vorurteilsminderung“ – ich habe so in Erinnerung, das ich der einzige Student war, der damals sein Seminar besucht hat, die anderen Studenten und Studentinnen (bei uns gab es einen Frauenüberschuss) haben gesagt, es gehe ihnen nicht um Vorurteilsminderung, sondern es gehe um die Revolution. Das konnte ich damals gar nicht glauben, ich kam ja direkt von der Werft zu Ihnen und hatte mir nur gemerkt: Nicht schnell laufen, weil, wer schnell läuft, das hatten mir die Werftkollegen beigebracht, wird erschossen. Und das wollte ich auf jeden Fall vermeiden. Ich war schon immer mehr füt Daumendrücken (Siehe: Sein oder Nichtsein von Lubitsch), Jens

Vor 50 Jahren: DIE WIRKLICH WAHRE GESCHICHTE DER WALDE 81

Vor 50 Jahren: Die wirklich, wirklich, wahre Geschichte der Walde 81

Ich hatte nicht viel Zeit. An jenem Freitag im Februar. Februar 2020. Ein kurzes Foto und schnell wieder zurück. Zu Hause habe ich mir dann die Sache genauer angesehen. Erst war ich erschrocken. Dann erbost. Und dann habe gedacht: Sie haben es nicht verstanden. Sie dachten, sie haben die Fassade restauriert. Aber sie haben das Bild nur zerstört. Nach 45 Jahren. Nur ein Missverständnis? Wie kann das sein? Woher kommt es? Vielleicht kennen sie nur die Kurzversion: Ein besetztes Haus? Vielleicht verstehen sie mehr, wenn sie sich die Zeit nehmen für die lange Version? Wenn sie das Besondere verstehen. Das, was uns unterscheidet von ihnen heute. Und das alles nur, weil mich einer, der am Anfang nicht dabei war, einer aus dritten Walde Generation, gefragt hat, ob die erste Generation nicht was zum 50. Geburtstag der Walde 81 machen will. Der 50. Geburtstag wäre dann irgendwann im Sommer 2022.

Aus der Walde: Ein tragbares Bierfass (10 Liter), umgearbeitet zu einem Papierkorb. Gefunden im Juli 1972 im Haus Hotel Stadt Görlitz in der Waldemarstrasse 81 in SO 36, Berlin Kreuzberg. Als der Behälter noch als tragbares Bier Fass benutzt wurde, hatte die Waldemarstrasse eine andere Nummerierung. Hotel Stadt Görlitz, Waldemarstrasse 20, Telefon 66 65 11. Als Inhaber wird Otto Sauer genannt, was Sinn macht.

Korrektur 2022. Nein, eine andere Nummerierung hat es nicht gegeben: Waldemarstr. 20 war Waldemarstr. 20. Und Nummer 81 war Nummer 81.

Dieser Link hat uns den Weg zur Waldemarstr. 20 gezeigt: http://www.zwangsarbeit-forschung.de/Lagerstandorte/Kreuzberg/kreuzberg.html

Wenn man diesem Link Glauben schenkt, dann ist der gefundene Biereimer tatsächlich aus dem Hotel Stadt Görlitz, Waldemarstr. 20. Inhaber (1942-45): Otto Sauer. Damals genannt: Ausländerheim Hotel Stadt Görlitz, von AEG-AT gemietetes Hotel frühester Beleg 1.1.1942 bei einem Luftangriff am 14. April 1945 zerstört.

Dieser Otto Sauer hat vermutlich das Haus in der Waldemarstrasse 81 gekauft oder gemietet und hatte seine Habe u. a. auch den Biertransportbehälter mitgenommen.

Aber gibt es nach diesem offensichtlichen Missverständnis: Wir bleiben drin und wir bleiben alle, noch einen Grund sich zu treffen? Gibt es wirklich irgendwas zu Feiern? Vielleicht haben sie mit ihrer angeblichen >Restaurierung< alles verbockt? Vielleicht haben wir es auch verbockt, weil nicht alles in die Gegenwart gekommen ist, von dem, was damals so passiert ist. Vielleicht hilft ihnen die wirklich wahre Geschichte der Walde 81 weiter. Ihnen und letztlich auch uns. Damit wir einen Grund zum Feiern finden! Wie einfach wäre das Leben gewesen, wenn es so gewesen wäre, wie es übermittelt wurde. Einmal besetzen und fertig. Nein, so ist es nicht gewesen. So leicht hatten wir es nicht. Vielleicht wird es klarer, wenn wir die Mühen ausführlich schildern, die wir bei der Umsetzung hatten. Vielleicht macht es denen Mut, die heute vor einer ähnlichen Mühe stehen und sie noch scheuen.

Also kommt jetzt die wirklich wahre Geschichte der Walde 81. Ein Haus. Gemietet. Nicht besetzt. Ein Mietvertrag, der nach zwei Jahren endet, ausläuft. Ein Untermietvertrag. Ein Untermietvertrag, den man, mit dem Hauptvermieter gerne verlängern würde. Der aber nicht will. Der keine Mieter will. Der nur ein leeres Haus will. Ein Haus, dass man schnell abreißen kann. Ein Vermieter, der sich weigert zu vermieten. Sich weigert, weil hier mit dem Abriss das große Geld zu machen ist. Jeder Abriss, der ein paar Tage dauert, spült 300 TDM in die Kassen des Hauptvermieters. Einem Vermieter, dem man einen großen Brief auf die Hauswand schreibt, nachdem man schon so viele Briefe geschrieben hat, die nicht oder nur mit Nein beantwortet wurden. Ein Brief, damit es alle sehen können. Mit der einzigen Botschaft, die man hat: WIR BLEIBEN DRIN. Und jetzt heute. 2020. Fünfundvierzig Jahre später stellt sich die Frage: Wieso ist das damals gelungen? Das mit dem DRIN BLEIBEN?

Block 100 haben sie es genannt. Und den Block weg gehauen. Die Herren der Kugelbagger und der Wasserspritzen. Mit Kugelbagger und Wasserspritzen haben sie sich die Freiflächen vergoldet. Jede Lücke ist bares GELD für sie, so hatten sie und wir später auch, herausgefunden. Wieso konnte es dennoch gelingen, das Haus in der Walde 81 den Abrisskugeln zu entreißen?

Oft hatte der Gegner doch schon gezeigt, wie übermächtig er war! Damals in Kreuzberg. Mit Prämien wurden die Mieter ins Märkische Viertel gelockt: Weg von der Toilette, eine halbe Treppe tiefer. Weg von der Ofenheizung, mit den Briketts und Eierkohlen im Keller oder auf dem Dachboden.

Dann die >Zwischenmieter< ohne Rechte. Die Mieter zum Kaputtwohnen der Häuser: Studenten und Migranten. Die selten zueinander fanden. Und es manchmal dann doch gelang, dass gemeinsam an einem Strang gezogen wurde. Und auch noch in die gleiche Richtung. Nicht einfach so was. Nur mit Pinseln allein nicht zu schaffen.

Der Gegner, der Nicht-Vermieter, der sich über die wahren Machtverhältnisse von uns täuschen liess, die vor Ort herrschten. Hätten sie auch nur geahnt, wie kurz unsere Arme doch waren. Unsere Plakate kamen gut an. Ein einziges, gut gemachtes, hatte eine große Wirkung. Täuschend ähnlich den offiziellen Plakaten. Nur in wenigen Exemplaren fanden sie aufmerksame Beobachter. Und immer wieder gab es Richtigstellungen der Gegner. Nein, so sei es nicht. Es wäre so und so. Hätten sie geahnt, wie wenig aktive Menschen diese Plakat Fälschungen in die Öffentlichkeit gebracht haben. Sie wären mit ihren Gegendarstellungen nicht darauf eingegangen. Und erst diese Gegendarstellungen machten unsere Forderungen tatsächlich populär. Hätten sie gewußt, das da nur kleiner Haufen aktiv war, dann wären unsere Drohungen glatt verpufft. Und es waren ja auch keine ernsten Drohungen.

In Wahrheit hatten wir gar nichts zum Drohen, wenn wir am Telefon behaupteten, es würde etwas passieren, wenn nicht in 15 Minuten das Wasser in dem Haus gegenüber wieder angestellt wird, das sie im Auftrage gerade hatte abstellen lassen. Wir hatten nichts zum Drohen. Sie wußten nur, die Leute mögen uns und sie nicht. Aber die, bei denen das Wasser dann nach 15 Minuten wieder aus dem Hahn lief, die wurden unsere Freunde. Oder wenn sie mal wieder heimlich den Strom abgestellt hatten und die Mieter plötzlich im Dunkeln saßen und der entsprechende Anruf bei Ihnen ankam. Wenn nicht . . . dann. Ich kann es nur wiederholen. Eigentlich hatten wir nichts zum Drohen. Aber die Leute, denen wir auf diese Weise geholfen haben, zeigen sich dankbar.

Sie kommen und gewinnen Vertrauen. Zeigen Verständnis, Sympathie und was man ihnen zur Unterschrift vorgelegt hat. Oft, ohne jede gesetzliche Grundlage. Das solche Texte in die Öffentlichkeit gelangen, das wollen sie auf jeden Fall verhindern. Und weil ein seriöses Auftreten die halbe Miete ist, werden auch die ungesetzlichen Texte in den Mietverträgen immer seltener. So merken die Herren von der städtischen Gesellschaft BEWOGE, auf der anderen Seite wird ihr Handeln genau beobachtet. Beachten plötzlich Gesetze, von denen sie früher behauptet hatten, es gäbe sie gar nicht. Ersatzwohnraum muß nicht nachgewiesen werden. Solche Sätze werden jetzt vermieden.

Als sich das bei den Verantwortlichen herumgesprochen hatte, wurden unsere Anrufe oft sofort bis nach oben durchgestellt. Zu den Herren an der Spitze. Zwingelberg und Könnecke und wie sie alle hiessen, die sich da eine goldene Nase, natürlich nicht für sie selbst, verdient haben.

Und sieht man sich heute ihre >Hinterlassenschaften< an, ihre verfallenen Neubauten und vergleicht sie mit der unseren, so schneidet >unser Haus<, die Walde 81, nicht schlecht ab.

Unser Vertrag war im November 1974 ausgelaufen. Es gab einen Menschen in der Baubehörde, der fand unsere Gemeinschaft glaubwürdig. Und unterstützte uns. Er ist zwischenzeitlich verstorben und soll deshalb hier auch namentlich genannt werden: Hermann Hucke, Mitarbeiter in mittlerer Ebene der Wohnungsverwaltung. (Wir hatten ihm viel zu verdanken). Im Februar 1975 der vertragslose Zustand. Wir blieben drin. Nun war das Haus tatsächlich besetzt. Das Haus war verkauft worden. An wen, das wußten wir nicht. Und wir bekamen Unterstützung. Von vielen und einem, der sich mit den geltenden Gesetzen gut aus kannte.

Auch er, schon verstorben: Rainer Graff. Architekturstudent. Er und einige andere haben den Baum, der dann am 1. Mai 1975 auf die Hauswand gepinselt wurde, entworfen und sich auch darüber Gedanken gemacht, wie man die Bemalung ohne teures Gerüst hinbekommen kann. Mit Kreide wurden die Umrisse der Zeichnung auf die Fassade gebracht. 250,00 DM kosteten die Farben (gelb, grün, weiss) und einige Stunden bis das Bild fertig war und 45 Jahre seine Propagandawirkung verbreitete. Dreissig Leute aus dem Haus und der Nachbarschaft waren beteiligt.

Ich war befreit wegen Höhenangst und durfte mit der Kamera Aufnahmen machen. Es ist natürlich nur meine Wahrheit, die in diesem Text untergebracht ist. Aber vielleicht auch unsere Wahrheit. Das werde ich wissen, sobald ich diesen Text unter denen verbreitet habe, die damals dabei waren. Wer alt ist und rückwärts schaut, so wie wir, ahnt noch, das der Weg, der jetzt so klar hinter uns liegt, kein gerader Weg war. Als gerader Weg wäre er sicher nicht möglich gewesen. Er war ein Weg voller Zweifel. Mit Schrecken, die wir noch nicht ahnten. Doch auch mit viel Glück, für das wir nichts konnten. Das zwar erhofft war, aber dann doch mit Wucht auf uns nieder prallte. Im Ergebnis meist, rückwärts schauend, viel Bestätigung und Zuneigung.

Nein, ich hätte es nicht anders machen wollen und dahinter auch der Zweifel, dass der Weg anders nicht so steinig gewesen wäre, das manche, die den Versuch vorzeitig abgebrochen haben, besser daran gewesen sind. Einen Versuch der Klärung ist es allemal wert. Schon damit künftige Generationen, die Nutzen von unseren damaligen Tätigkeiten haben, nicht denken, dass dieser Weg ohne Mühe war. Dass man sich einfach davon lügen kann. Und bequem auf den Erfolg warten. Auf das Schlaraffenland. Oder gar, das das bequeme Leben auch die Kraft hat, anderen zum einem bequemen Leben zu verhelfen. Etwas zu tun für die, die einem Leid tun.

So wie die, die jetzt nach 50 Jahren in einer Genossenschaft wohnen, für die sie nichts können und sich deshalb in falscher Weise äußern über die, die ihnen diese Bequemlichkeit ermöglicht haben und deshalb zu der Ansicht gelangen, dass sie nichts zerstört, sondern nur etwas restauriert haben. Da müssen wir jetzt widersprechen. Nein sagen. Das haben wir nicht gemeint. Wir sprachen von uns. Und wir wollten anderen zeigen: Es geht. Es geht, wenn man etwas für sich selber tut. Das gibt auch anderen den Mut, etwas für sich selber zu tun. Eben trotzig zu behaupten: WIR BLEIBEN DRIN und nicht scheinheilig für andere zu behaupten WIR BLEIBEN ALLE. Eine Parole, die abgemalt ist und abgemalt klingt. Abgemalt in der Hafenstrasse in Hamburg.

Eine Parole, die vermutlich die Flüchtlinge meint, für die man etwas tun muss, damit sie nicht alle ertrinken. Nein, das war die Walde 81 nicht. Und das ist vermutlich auch der Grund, warum die Parole: WIR BLEIBEN DRIN dort 45 Jahre gestanden hat. Bevor der Text unter WIR BLEIBEN ALLE verschwunden ist. Fünfundvierzig Jahre sind eine lange Zeit. Und darauf sind viele von uns, die damals dabei waren, stolz.

Auch auf die Gefahr hin, das jemand äußert: Die sind ja nicht drin geblieben. Die sind ja alle ausgezogen. Die durchschnittliche Wohnverweildauer in der Walde 81 ist niemals berechnet worden. Vielleicht sechs Jahre? Für viele war diese Zeit prägend. Manche erinnern sich gerne, so wie ich. Manche erinnern sich mit Schrecken und würden es gerne ungeschehen machen und die ganze Sache vergessen. Die erste Besatzung der Walde 81 waren Menschen, die im Stadtteil Charlottenburg gemeinsam einen Laden gemietet hatten (In der Neuen Kantstrasse 31), in dem sie ihre Kinder gemeinsam betreuen wollten.

Kinderladen wurde das genannt. Ein leerstehender Laden wurde gemietet. Davon gab es damals viele. Umgebaut. Eine Zentralheizung wurde von uns eingebaut. Wer wollte schon jeden morgen im kalten Kinderladen im Winter den Kachelofen anmachen? Das waren Paare. Verheiratet oder nicht. Und Kinder in dem Alter zwischen 8 und 12 Monaten, die gerade laufen lernten. Dort lagen viele Hoffnungen. Nicht mehr zwangsweise auf dem Topf sich stubenrein sitzen müssen. Nicht rosa oder blau. Nicht nur Betreuung durch Frauen, sondern auch durch Männer, die den Kindern etwas beibringen sollen. Um dabei selbst auch gleich etwas zu lernen. Wissen, das vorher nur einem Geschlecht zugänglich war. Wir nannten das Ganze: Sozialpsychologischer Arbeitskreis Charlottenburg e. V.. Fortbildung, einmal in der Woche.

Zum Beispiel: Die Reinlichkeitserziehung. Als frühes Unterdrückungsinstrument des Bürger- und Kleinbürgertums. Die Rolle der Frau in der Beziehung der Geschlechter. Die Rolle des Mannes in der Beziehung der Geschlechter. Ehegefängnisse vermeiden. Wir wollten alles. Und das sofort. Aber erst mal musste die Heizung im Kinderladen finanziert und selbst gebaut werden. Einige Eltern aus diesem Kinderladen wollten, nachdem der in Schwung gekommen war, auch ihre persönlichen Wohnverhältnisse ändern und suchten ein entsprechendes Haus für ein solches Projekt. Ehegefängnisse an der Spitze der Bewegung. Erste Besatzung. Im Sommer 1972 war es dann so weit. Der Kinderladen lief einwandfrei. Wir hatten eine Erzieherin eingestellt und jede Woche einmal hatte jeder einmal in der Woche Kinderdienst.

Für mich war die Sache einfach, weil ich durch meinen Studienplatz an der dffb vieles möglich machen konnte. Für meine damalige Frau war die Sache schon schwieriger, weil sie eine Festanstellung hatte, wo man nicht ohne weiteres Kurzarbeit machen konnte. Doch für Studenten war die Sache einfach. Jedoch nicht für alle Studentinnen. Da gab es die Sorte Hausfrau, Mutter und Mann auf Arbeit. Aber auch: Nur Hausfrauen, die kaum Probleme damit hatten. Wir waren bunt gemischt. Sogar Menschen, die keine eigenen Kinder hatten, wurde der Zugang zum Kinderladen nicht versperrt. Sie kümmerten sich vorwiegend um die Vermittlung der Theorie.

Einer arbeitete als Bronzegießer in einer Kunstgießerei (Bildgiesserei Hermann Noack). Bronze und andere Buntmetalle. Die Firma gibt es heute noch. Aber er ist schon vor längerer Zeit verstorben. Keine besonders gesunde Arbeit. Wir fanden für Jeden, der mitmachen wollte, Lösungen. Lösungen, die alle zufrieden stellen sollten. In einem wöchentlichen Arbeitskreis holten wir fehlendes Wissen über die frühkindliche Erziehung nach und erarbeiteten zusammen Modelle, wie wir unsere Kinder anders erziehen wollten. Kinder, die demnächst fünfzig Jahre alt werden. Anders als in der herkömmlichen Erziehung. So, wie sie immer und überall praktiziert wurde und vermutlich auch noch wird. Jungs weinen nicht. Mädchen bekommen rosa Kleidung. Jungs blaue. Gib das schöne Händchen.

Auch die Beziehungen sollten sich ändern. Wir planten eine große Wohngemeinschaft. Bis eines Tages unser Kunstgießer aus Kohlhasenbrück mit einer Sonntagsausgabe der Berliner Morgenpost ankam. Oder war es die BZ? Seine Frau hatte die Anzeige von dem Hotel gefunden, das dort angeboten wurde. Von mir wurden damals beide Zeitungen, weil Springer, bestreikt. Bestreikt ist natürlich falsch. Nicht wahrgenommen. Nicht gekauft. Ich wurde der Freund des INFO BUG, später der Freund des ID für unterbliebene Nachrichten. Und Leser, das will ich gar nicht verstecken, der Frankfurter Rundschau und in der Walde auch Leser der täglich erscheinenden Wahrheit (Zeitung der SEW, was der Ableger der SED in Westberlin (in dieser Schreibweise) war). Was man vielleicht den Jüngeren erklären muss.

Die verschiedenen Parteien (links von der SPD) hatten 1972 eigene Parteizeitungen. Ein Fan des “Vorwärts“ (die Parteizeitung der SPD) hat es, meiner Erinnerung nach, in der Walde nicht gegeben. Auch die Zeitungen der studentischen (angeblich) kommunistischen Zeitungen hatten es in der Walde nicht leicht. (Gegenüber am Mariannenplatz dagegen, in dem Haus, in dem damals eine Apotheke war, gab es mehrere, studentische Wohngemeinschaften, die Anhängerinnen des KBW waren und die Linien, die der KBW so zog, auch mitzogen, was zu einer gewissen Unglaubwürdigkeit führte). Später hat der KBW dann ein Haus in der Oranienstrasse gekauft. Aber das ist eine andere Geschichte.

Der KB (aus Hamburg) dagegen hatte hier in SO 36 nicht viele Anhänger und fand daher auch keine Verbreitung. Während das INFO BUG (die Zeitung der Spontis) aus der Stephanstrasse, das jede Woche erschien und für 0,50 Pfennig käuflich zu erwerben war, von mir gerne gelesen wurde. Besonders die Kleinanzeigen auf der letzten Seite. Auch unsere Anzeigen. Wenn ein Zimmer frei geworden war, oder auch, wenn ein Kind geboren war. Loretto, so war sein Spitzname, richtig hiess er Bernhard Koch, brachte uns jedenfalls diese Sonntagsausgabe der Berliner Morgenpost mit der Anzeige: Leeres Hotel in Kreuzberg zu verpachten. Den genauen Text der Anzeige weiß ich leider nicht mehr.

Aber irgend wie funkte die Sache. Das war zwar nicht unser Bezirk, aber unsere Geldbeutelgröße. Ein Hotel, was seit einiger Zeit leer stand, weil ungünstig gelegen. Am Rande der Stand. Dicht bei der Mauer. Im Sanierungsgebiet. Sanieren, so lernte ich, heißt >gesund machen<. (Wer sich dort wie gesund machte, das konnte man vor Ort hautnah erleben). Die Zimmer wurden billig an Fremdarbeiter vermietet, die sich nur zeitweise in der Stadt aufhielten. Ein Hotel mit 23 Zimmern (je nachdem, wie man zählt), einer Gemeinschafts Küche, einer Kneipe mit Zapfhahn, einem großen Esszimmer, mit einem Tisch, der zwanzig Leuten Platz bot, einem Badezimmer mit einer Badewanne, in einem Anbau Platz für die Waschmaschine und Wäscheschleuder und einem Keller, in den sogar eine Tischtennisplatte passte. Variabel ein Kinderzimmer im ersten Stock, wo der gemeinsame Mittagsschlaf der Kleinen organisiert werden konnte und sollte. (Später stellte sich heraus, die Kleinen wollten dort keinen Mittagsschlaf halten. Sie wollten mittags nicht schlafen, oder lieber bei ihrer Mama schlafen oder sein).

Die Fremdarbeiter waren jedenfalls irgendwie ausgeblieben. Es lohnte sich nicht mehr, das Geschäft mit den Fremdarbeitern. Im letzten Winter hatte man das Haus nicht mehr beheizt und dann vergessen, das Wasser der Zentralheizung abzulassen. (Damals gab es noch richtige Winter, mit Frost und so). Also fror das Wasser in der Heizung ein. Wasser kann viel Kraft haben. Besonders, wenn es einfriert. Das Haus mit dreißig Räumen hatte rund sechzig Heizkörper, die, aus Gusseisen, dem Frost nicht widerstehen konnten und geplatzt waren. Besonderheit dieses Platzens war es, dass erst das Tauwetter, die Heizkörper, die sonst recht stabil sind, platzen ließ, als die Temperaturen im Frühling wieder anstiegen. Man glaubt gar nicht, wie viel Wasser sich in so einer solchen Heizungsanlage mit halb Zoll Rohren befindet (Sechs Stockwerke inkl. Dachgeschoss und Keller) und so folgte den geplatzten Heizkörpern jede Menge Wasser mit den üblichen Wasserschäden.

Die Heizkörper waren im Sommer durch neue Stahlradiatoren von der Pächterin ersetzt worden. Die Pächterin, die noch einen zweijährigen Mietvertrag mit einer städtischen Gesellschaft hatte, behauptete uns gegenüber, die Schäden seien nun alle behoben, die Leckagen beseitigt, was wir jedoch nicht glauben konnten, weil die Anlage vorsichtshalber nicht wieder mit Wasser aufgefüllt worden war. Was tut man, wenn man 25 Jahre alt ist, Maschinenschlosser gelernt hat und sein Leben verändern möchte? Richtig. Man gründet einen weiteren Verein. Den Sozialpsychologischen Arbeitskreis Kreuzberg e. V., wählt einen Vorstand und lässt diesen einen Mietvertrag unterschreiben. Ein befristeten Mietvertrag, der am 1. Oktober 1972 beginnt und 30. September 1974 endet. Zwei Jahre sind eine lange Zeit, denkt man. Aber dann doch nicht.

Monatliche Kaltmiete für die Untermieterin (also uns) 1.250,00 DM pro Monat. Heizkosten, Wasser, Strom und Gas für die Gasherde in der Küche kommen noch dazu. Man kündigt im Einvernehmen die Wohnung, (bzw. hinterlässt sie einem Studienkollegen der Filmakademie) im Horstweg Nummer 6, im Hinterhaus. Drei Zimmer mit Ofenheizung, Kachelöfen, die mit Brikett geheizt werden. In Charlottenburg, dicht am Theodor Heuss Platz, wo zu dieser Zeit die Filmakademie beheimatet war, wo man 1970 das Studium begonnen hat. Der Beschluss lautet: Nun wird sich alles ändern.

Das erste, was sich änderte, waren die Temperaturen. Wir sind noch nicht eingezogen und es gibt im Oktober einen ersten Kälteeinbruch. Wir befüllen die Heizungsanlage, deren Kessel sich unter einer Garage im Nebenhaus befindet, mit Wasser. Und stellen fest, Leckagen überall. Schweißarbeiten sind nötig. Kein Problem. Zwei Personen bringen entsprechende Fähigkeiten mit. Dennoch wird die Sache aufwendig, weil nach jeder Leckage erst mal wieder das Wasser wieder raus muss, bevor die Reparaturarbeiten fortgesetzt werden können. Wir arbeiten uns vor, von unten nach oben. Im dritten Stock angekommen, wird eine Pause eingelegt. Im ersten Stock ist eine Frau aus unserer Gruppe dabei, mit Hilfe eines Zollstockes den Raum in der Mitte auszumessen, obwohl wir die Räume noch gar nicht verteilt haben. Klar ist nur das Erdgeschoss, das Gemeinschaftsraum werden soll.

Ich bin empört. Aber nur innerlich. Ein paar Monate später zieht sie wieder aus. Aus dem Zollstockzimmer. Mann und Kind nimmt sie mit. So schnell kanns gehen. In der Küche bauen wir über den Herd noch einen großen Lüfter ein und dann bringen unsere Möbel in die Walde 81. Geheizt wird mit Koks, den wir später mit gemeinsamen Blutspenden bezahlen. Und jeden Tag gibt es ein Abendessen. 50,00 Mark kommt jeden Tag in die Essenskasse. Frühstück und Abendessen (warm). Zwei Personen kaufen ein und kochen. Dort kommen auch die berühmten Mehlbeutel zu Einsatz. Und die gebratenen Heringe, die sauer eingelegt werden. Manchmal gibt es Napfkuchen mit Rosinen am Sonntag. Einige nennen es Gugelhupf.

Und immer wieder Plenum und Neuaufnahmen, wenn Personen das Weite gesucht hatten und Zimmer neu zu besetzen waren (Das erste Mal nach gefühlten drei Monaten). Die Kinder werden am Morgen mit einem Fahrzeug in den Kinderladen nach Charlottenburg in die Neue Kantstrasse gebracht. Später mit einem gemeinsamen VW Bus. (Ein Lottogewinn, dem mühsam ein neuer Unterboden eingeschweißt wird, wegen durchrosten).

Damit dieses Wissen von damals nicht verschwindet, ist es an der Zeit, 48 Jahre nach dem Beginn, endlich aufzuschreiben, wie das alles anfing. Das hier ist der ist nur ein Teil, der den ersten Mai 1975 mit einschließt. Bis zu meinem/unserem Auszug 1978. Eben die Verweildauer von sechs Jahren. Der Auszug hatte bei uns nichts mit der Waldemarstrasse 81, sondern eher mit der Stadt Berlin zu tun. Überall nur Opas, Omas und Studenten. Kein richtiges Leben. Wir ziehen in anderer Formation aus, als wir eingezogen sind. Seither trinke ich morgens meinen Kaffee immer nur aus großen Bechern.

Hamburg, d. 20. März 2020/ 15. Mai 2022 Jens Meyer

5. Mai 1975

Fotos Helmut Schönberger, Jens Meyer

Foto Helmut Schönberger
Foto von Helmut Schönberger: Die Kinder aus der Nachbarschaft.