Kategorie: Berlin
DAVID STEWART HULL AUGUST 1963 FILM
John Hansen: Vor fünfundzwanzig Jahren
Abschrift aus dem Film Kurier vom 16. August 1930
John Hansen: Vor fünfundzwanzig Jahren Hamburg im August (1930)
Im Herbst 1906 wurde ich vom Militär entlassen und eröffnete am 25. Dezember 1906 mit meinem Vater Albert Hansen zusammen auf unserem Grundstück unser Hansen-Kino, Altona, Schulterblatt 49.
Das Theater wurde unter den Klängen eines elektrischen Pianos eröffnet. Es war damals natürlich schwer, einen geübten Vorführer zu bekommen, d. h. ein mir empfohlener Vorführer verstand vom Vorführen nur etwas mehr als ich – und ich selber hatte gar keine Ahnung. Wir mußten uns die Sache daher selbst ausklügeln. Es kam natürlich auch bei den ersten Vorführungen vor, daß hin und wieder mal ein Film über Kopf oder in Spiegelschrift eingesetzt wurde. Auch das Filmkleben machte zuerst große Schwierigkeiten, aber durch die Pannen wird man klug und so eignete ich mir von der Pike auf die technischen Kenntnisse an. Ich habe später auch viele wissenschaftliche oder Reisevorführungen, wie zum Beispiel Shackleton, Swen Hedin usw. in Sälen zeigen können. Mein Vater war lange Jahre erster Vorsitzender des Hamburger Kinobesitzervereins. Auch unternahm er viele Agitationsreisen, um die Kinobesitzer in ganz Deutschland zusammenzuschließen. Die Filmbeschaffung war zu Anfang sehr schwer, da es sehr wenige Filmfabrikanten gab. Zuerst kauften wir einige 1000 Meter und jeden Tag wurde das Programm etwas anders zusammengestellt; es kehrten natürlich immer dieselben Bilder wieder. Ich habe dann, um Neuheiten zu beschaffen, mit einigen anderen Kollegen meine Filme ausgetauscht. Auch das war auf die Dauer unhaltbar und so fuhren wir schließlich nach Berlin und schlossen mit der Firma Greenbaum wöchentlich ein Programm von ca. 1500 Meter, also 8 – 10 Filme ab. Zuerst ging es sehr gut, und wir waren doch die ersten, die überhaupt wöchentlich wechselten. Bald jedoch war das Lager erschöpft und wir bekamen immer wieder dieselben Filme. So gründete ich daraufhin einen Ring von norddeutschen Kinobesitzern und übernahm den Vorsitz und den Einkauf der Programme. Es wurde jede Woche ein Programm von ca. 1500 Meter gekauft, das der Reihenfolge nach von den Mitgiledern (Mitgliedern?) gespielt wurde. Hernach hatten wir noch Theater, die von uns mieteten. Da das Verlangen nach Neuheiten größer wurde, führte ich den zweimaligen Programmwechsel ein. Dieser Ring wurde später dann durch die Fabrikantenvereinigung aufgehoben, da sie nur noch an Verleiher liefern wollten. Ich habe später nochmals einen großen Teil der Hamburger Theaterbesitzer zu einem Hansen-Ring vereinigt, bei dem wir gemeinsam unsere Filme für eine bestimmte Wochenzahl abschlossen. Dieser Ring wurde während des Krieges * aufgelöst. In Hamburg haben wir übrigens einen Kegelklub “Flimmerfritzen“ gegründet, der nur aus Kinobesitzern besteht und dessen Vorsitzender ich bin.
J o h n H a n s e n, P r o g r e ß – F i l m
*Es handelt sich vermutlich um den ersten Weltkrieg.
Eintrag im Altonaer Adressbuch von 1910: Hansen, Alb., Theater lebender Photographien, Schulterblatt 49. (Aus einem späteren Eintrag geht hervor (E), dass Albert Hansen Eigentümer des Grundstücks ist. 1930 ist Willy Heidtmann als Mitbesitzer des Grundstückes eingetragen.
Norddeutschland Am 23. November 1937 findet sich in der LBB folgende Meldung:
„Nr. 45. Eintragungen im H a n d e l s r e g i s t e r A l t o n a. 12. November 1937. Erloschen : A 2721: Hansen-Kino John Hansen und Willy Heidtmann in Altona (Schulterblatt 49). Die Gesellschaft ist aufgelöst. Die Firma ist erloschen.“
Fotos Jens Meyer
Vor 50 Jahren: DIE WIRKLICH WAHRE GESCHICHTE DER WALDE 81
Vor 50 Jahren: Die wirklich, wirklich, wahre Geschichte der Walde 81
Ich hatte nicht viel Zeit. An jenem Freitag im Februar. Februar 2020. Ein kurzes Foto und schnell wieder zurück. Zu Hause habe ich mir dann die Sache genauer angesehen. Erst war ich erschrocken. Dann erbost. Und dann habe gedacht: Sie haben es nicht verstanden. Sie dachten, sie haben die Fassade restauriert. Aber sie haben das Bild nur zerstört. Nach 45 Jahren. Nur ein Missverständnis? Wie kann das sein? Woher kommt es? Vielleicht kennen sie nur die Kurzversion: Ein besetztes Haus? Vielleicht verstehen sie mehr, wenn sie sich die Zeit nehmen für die lange Version? Wenn sie das Besondere verstehen. Das, was uns unterscheidet von ihnen heute. Und das alles nur, weil mich einer, der am Anfang nicht dabei war, einer aus dritten Walde Generation, gefragt hat, ob die erste Generation nicht was zum 50. Geburtstag der Walde 81 machen will. Der 50. Geburtstag wäre dann irgendwann im Sommer 2022.
Aus der Walde: Ein tragbares Bierfass (10 Liter), umgearbeitet zu einem Papierkorb. Gefunden im Juli 1972 im Haus Hotel Stadt Görlitz in der Waldemarstrasse 81 in SO 36, Berlin Kreuzberg. Als der Behälter noch als tragbares Bier Fass benutzt wurde, hatte die Waldemarstrasse eine andere Nummerierung. Hotel Stadt Görlitz, Waldemarstrasse 20, Telefon 66 65 11. Als Inhaber wird Otto Sauer genannt, was Sinn macht.
Korrektur 2022. Nein, eine andere Nummerierung hat es nicht gegeben: Waldemarstr. 20 war Waldemarstr. 20. Und Nummer 81 war Nummer 81.
Dieser Link hat uns den Weg zur Waldemarstr. 20 gezeigt: http://www.zwangsarbeit-forschung.de/Lagerstandorte/Kreuzberg/kreuzberg.html
Wenn man diesem Link Glauben schenkt, dann ist der gefundene Biereimer tatsächlich aus dem Hotel Stadt Görlitz, Waldemarstr. 20. Inhaber (1942-45): Otto Sauer. Damals genannt: Ausländerheim Hotel Stadt Görlitz, von AEG-AT gemietetes Hotel frühester Beleg 1.1.1942 bei einem Luftangriff am 14. April 1945 zerstört.
Dieser Otto Sauer hat vermutlich das Haus in der Waldemarstrasse 81 gekauft oder gemietet und hatte seine Habe u. a. auch den Biertransportbehälter mitgenommen.
Aber gibt es nach diesem offensichtlichen Missverständnis: Wir bleiben drin und wir bleiben alle, noch einen Grund sich zu treffen? Gibt es wirklich irgendwas zu Feiern? Vielleicht haben sie mit ihrer angeblichen >Restaurierung< alles verbockt? Vielleicht haben wir es auch verbockt, weil nicht alles in die Gegenwart gekommen ist, von dem, was damals so passiert ist. Vielleicht hilft ihnen die wirklich wahre Geschichte der Walde 81 weiter. Ihnen und letztlich auch uns. Damit wir einen Grund zum Feiern finden! Wie einfach wäre das Leben gewesen, wenn es so gewesen wäre, wie es übermittelt wurde. Einmal besetzen und fertig. Nein, so ist es nicht gewesen. So leicht hatten wir es nicht. Vielleicht wird es klarer, wenn wir die Mühen ausführlich schildern, die wir bei der Umsetzung hatten. Vielleicht macht es denen Mut, die heute vor einer ähnlichen Mühe stehen und sie noch scheuen.
Also kommt jetzt die wirklich wahre Geschichte der Walde 81. Ein Haus. Gemietet. Nicht besetzt. Ein Mietvertrag, der nach zwei Jahren endet, ausläuft. Ein Untermietvertrag. Ein Untermietvertrag, den man, mit dem Hauptvermieter gerne verlängern würde. Der aber nicht will. Der keine Mieter will. Der nur ein leeres Haus will. Ein Haus, dass man schnell abreißen kann. Ein Vermieter, der sich weigert zu vermieten. Sich weigert, weil hier mit dem Abriss das große Geld zu machen ist. Jeder Abriss, der ein paar Tage dauert, spült 300 TDM in die Kassen des Hauptvermieters. Einem Vermieter, dem man einen großen Brief auf die Hauswand schreibt, nachdem man schon so viele Briefe geschrieben hat, die nicht oder nur mit Nein beantwortet wurden. Ein Brief, damit es alle sehen können. Mit der einzigen Botschaft, die man hat: WIR BLEIBEN DRIN. Und jetzt heute. 2020. Fünfundvierzig Jahre später stellt sich die Frage: Wieso ist das damals gelungen? Das mit dem DRIN BLEIBEN?
Block 100 haben sie es genannt. Und den Block weg gehauen. Die Herren der Kugelbagger und der Wasserspritzen. Mit Kugelbagger und Wasserspritzen haben sie sich die Freiflächen vergoldet. Jede Lücke ist bares GELD für sie, so hatten sie und wir später auch, herausgefunden. Wieso konnte es dennoch gelingen, das Haus in der Walde 81 den Abrisskugeln zu entreißen?
Oft hatte der Gegner doch schon gezeigt, wie übermächtig er war! Damals in Kreuzberg. Mit Prämien wurden die Mieter ins Märkische Viertel gelockt: Weg von der Toilette, eine halbe Treppe tiefer. Weg von der Ofenheizung, mit den Briketts und Eierkohlen im Keller oder auf dem Dachboden.
Dann die >Zwischenmieter< ohne Rechte. Die Mieter zum Kaputtwohnen der Häuser: Studenten und Migranten. Die selten zueinander fanden. Und es manchmal dann doch gelang, dass gemeinsam an einem Strang gezogen wurde. Und auch noch in die gleiche Richtung. Nicht einfach so was. Nur mit Pinseln allein nicht zu schaffen.
Der Gegner, der Nicht-Vermieter, der sich über die wahren Machtverhältnisse von uns täuschen liess, die vor Ort herrschten. Hätten sie auch nur geahnt, wie kurz unsere Arme doch waren. Unsere Plakate kamen gut an. Ein einziges, gut gemachtes, hatte eine große Wirkung. Täuschend ähnlich den offiziellen Plakaten. Nur in wenigen Exemplaren fanden sie aufmerksame Beobachter. Und immer wieder gab es Richtigstellungen der Gegner. Nein, so sei es nicht. Es wäre so und so. Hätten sie geahnt, wie wenig aktive Menschen diese Plakat Fälschungen in die Öffentlichkeit gebracht haben. Sie wären mit ihren Gegendarstellungen nicht darauf eingegangen. Und erst diese Gegendarstellungen machten unsere Forderungen tatsächlich populär. Hätten sie gewußt, das da nur kleiner Haufen aktiv war, dann wären unsere Drohungen glatt verpufft. Und es waren ja auch keine ernsten Drohungen.
In Wahrheit hatten wir gar nichts zum Drohen, wenn wir am Telefon behaupteten, es würde etwas passieren, wenn nicht in 15 Minuten das Wasser in dem Haus gegenüber wieder angestellt wird, das sie im Auftrage gerade hatte abstellen lassen. Wir hatten nichts zum Drohen. Sie wußten nur, die Leute mögen uns und sie nicht. Aber die, bei denen das Wasser dann nach 15 Minuten wieder aus dem Hahn lief, die wurden unsere Freunde. Oder wenn sie mal wieder heimlich den Strom abgestellt hatten und die Mieter plötzlich im Dunkeln saßen und der entsprechende Anruf bei Ihnen ankam. Wenn nicht . . . dann. Ich kann es nur wiederholen. Eigentlich hatten wir nichts zum Drohen. Aber die Leute, denen wir auf diese Weise geholfen haben, zeigen sich dankbar.
Sie kommen und gewinnen Vertrauen. Zeigen Verständnis, Sympathie und was man ihnen zur Unterschrift vorgelegt hat. Oft, ohne jede gesetzliche Grundlage. Das solche Texte in die Öffentlichkeit gelangen, das wollen sie auf jeden Fall verhindern. Und weil ein seriöses Auftreten die halbe Miete ist, werden auch die ungesetzlichen Texte in den Mietverträgen immer seltener. So merken die Herren von der städtischen Gesellschaft BEWOGE, auf der anderen Seite wird ihr Handeln genau beobachtet. Beachten plötzlich Gesetze, von denen sie früher behauptet hatten, es gäbe sie gar nicht. Ersatzwohnraum muß nicht nachgewiesen werden. Solche Sätze werden jetzt vermieden.
Als sich das bei den Verantwortlichen herumgesprochen hatte, wurden unsere Anrufe oft sofort bis nach oben durchgestellt. Zu den Herren an der Spitze. Zwingelberg und Könnecke und wie sie alle hiessen, die sich da eine goldene Nase, natürlich nicht für sie selbst, verdient haben.
Und sieht man sich heute ihre >Hinterlassenschaften< an, ihre verfallenen Neubauten und vergleicht sie mit der unseren, so schneidet >unser Haus<, die Walde 81, nicht schlecht ab.
Unser Vertrag war im November 1974 ausgelaufen. Es gab einen Menschen in der Baubehörde, der fand unsere Gemeinschaft glaubwürdig. Und unterstützte uns. Er ist zwischenzeitlich verstorben und soll deshalb hier auch namentlich genannt werden: Hermann Hucke, Mitarbeiter in mittlerer Ebene der Wohnungsverwaltung. (Wir hatten ihm viel zu verdanken). Im Februar 1975 der vertragslose Zustand. Wir blieben drin. Nun war das Haus tatsächlich besetzt. Das Haus war verkauft worden. An wen, das wußten wir nicht. Und wir bekamen Unterstützung. Von vielen und einem, der sich mit den geltenden Gesetzen gut aus kannte.
Auch er, schon verstorben: Rainer Graff. Architekturstudent. Er und einige andere haben den Baum, der dann am 1. Mai 1975 auf die Hauswand gepinselt wurde, entworfen und sich auch darüber Gedanken gemacht, wie man die Bemalung ohne teures Gerüst hinbekommen kann. Mit Kreide wurden die Umrisse der Zeichnung auf die Fassade gebracht. 250,00 DM kosteten die Farben (gelb, grün, weiss) und einige Stunden bis das Bild fertig war und 45 Jahre seine Propagandawirkung verbreitete. Dreissig Leute aus dem Haus und der Nachbarschaft waren beteiligt.
Ich war befreit wegen Höhenangst und durfte mit der Kamera Aufnahmen machen. Es ist natürlich nur meine Wahrheit, die in diesem Text untergebracht ist. Aber vielleicht auch unsere Wahrheit. Das werde ich wissen, sobald ich diesen Text unter denen verbreitet habe, die damals dabei waren. Wer alt ist und rückwärts schaut, so wie wir, ahnt noch, das der Weg, der jetzt so klar hinter uns liegt, kein gerader Weg war. Als gerader Weg wäre er sicher nicht möglich gewesen. Er war ein Weg voller Zweifel. Mit Schrecken, die wir noch nicht ahnten. Doch auch mit viel Glück, für das wir nichts konnten. Das zwar erhofft war, aber dann doch mit Wucht auf uns nieder prallte. Im Ergebnis meist, rückwärts schauend, viel Bestätigung und Zuneigung.
Nein, ich hätte es nicht anders machen wollen und dahinter auch der Zweifel, dass der Weg anders nicht so steinig gewesen wäre, das manche, die den Versuch vorzeitig abgebrochen haben, besser daran gewesen sind. Einen Versuch der Klärung ist es allemal wert. Schon damit künftige Generationen, die Nutzen von unseren damaligen Tätigkeiten haben, nicht denken, dass dieser Weg ohne Mühe war. Dass man sich einfach davon lügen kann. Und bequem auf den Erfolg warten. Auf das Schlaraffenland. Oder gar, das das bequeme Leben auch die Kraft hat, anderen zum einem bequemen Leben zu verhelfen. Etwas zu tun für die, die einem Leid tun.
So wie die, die jetzt nach 50 Jahren in einer Genossenschaft wohnen, für die sie nichts können und sich deshalb in falscher Weise äußern über die, die ihnen diese Bequemlichkeit ermöglicht haben und deshalb zu der Ansicht gelangen, dass sie nichts zerstört, sondern nur etwas restauriert haben. Da müssen wir jetzt widersprechen. Nein sagen. Das haben wir nicht gemeint. Wir sprachen von uns. Und wir wollten anderen zeigen: Es geht. Es geht, wenn man etwas für sich selber tut. Das gibt auch anderen den Mut, etwas für sich selber zu tun. Eben trotzig zu behaupten: WIR BLEIBEN DRIN und nicht scheinheilig für andere zu behaupten WIR BLEIBEN ALLE. Eine Parole, die abgemalt ist und abgemalt klingt. Abgemalt in der Hafenstrasse in Hamburg.
Eine Parole, die vermutlich die Flüchtlinge meint, für die man etwas tun muss, damit sie nicht alle ertrinken. Nein, das war die Walde 81 nicht. Und das ist vermutlich auch der Grund, warum die Parole: WIR BLEIBEN DRIN dort 45 Jahre gestanden hat. Bevor der Text unter WIR BLEIBEN ALLE verschwunden ist. Fünfundvierzig Jahre sind eine lange Zeit. Und darauf sind viele von uns, die damals dabei waren, stolz.
Auch auf die Gefahr hin, das jemand äußert: Die sind ja nicht drin geblieben. Die sind ja alle ausgezogen. Die durchschnittliche Wohnverweildauer in der Walde 81 ist niemals berechnet worden. Vielleicht sechs Jahre? Für viele war diese Zeit prägend. Manche erinnern sich gerne, so wie ich. Manche erinnern sich mit Schrecken und würden es gerne ungeschehen machen und die ganze Sache vergessen. Die erste Besatzung der Walde 81 waren Menschen, die im Stadtteil Charlottenburg gemeinsam einen Laden gemietet hatten (In der Neuen Kantstrasse 31), in dem sie ihre Kinder gemeinsam betreuen wollten.
Kinderladen wurde das genannt. Ein leerstehender Laden wurde gemietet. Davon gab es damals viele. Umgebaut. Eine Zentralheizung wurde von uns eingebaut. Wer wollte schon jeden morgen im kalten Kinderladen im Winter den Kachelofen anmachen? Das waren Paare. Verheiratet oder nicht. Und Kinder in dem Alter zwischen 8 und 12 Monaten, die gerade laufen lernten. Dort lagen viele Hoffnungen. Nicht mehr zwangsweise auf dem Topf sich stubenrein sitzen müssen. Nicht rosa oder blau. Nicht nur Betreuung durch Frauen, sondern auch durch Männer, die den Kindern etwas beibringen sollen. Um dabei selbst auch gleich etwas zu lernen. Wissen, das vorher nur einem Geschlecht zugänglich war. Wir nannten das Ganze: Sozialpsychologischer Arbeitskreis Charlottenburg e. V.. Fortbildung, einmal in der Woche.
Zum Beispiel: Die Reinlichkeitserziehung. Als frühes Unterdrückungsinstrument des Bürger- und Kleinbürgertums. Die Rolle der Frau in der Beziehung der Geschlechter. Die Rolle des Mannes in der Beziehung der Geschlechter. Ehegefängnisse vermeiden. Wir wollten alles. Und das sofort. Aber erst mal musste die Heizung im Kinderladen finanziert und selbst gebaut werden. Einige Eltern aus diesem Kinderladen wollten, nachdem der in Schwung gekommen war, auch ihre persönlichen Wohnverhältnisse ändern und suchten ein entsprechendes Haus für ein solches Projekt. Ehegefängnisse an der Spitze der Bewegung. Erste Besatzung. Im Sommer 1972 war es dann so weit. Der Kinderladen lief einwandfrei. Wir hatten eine Erzieherin eingestellt und jede Woche einmal hatte jeder einmal in der Woche Kinderdienst.
Für mich war die Sache einfach, weil ich durch meinen Studienplatz an der dffb vieles möglich machen konnte. Für meine damalige Frau war die Sache schon schwieriger, weil sie eine Festanstellung hatte, wo man nicht ohne weiteres Kurzarbeit machen konnte. Doch für Studenten war die Sache einfach. Jedoch nicht für alle Studentinnen. Da gab es die Sorte Hausfrau, Mutter und Mann auf Arbeit. Aber auch: Nur Hausfrauen, die kaum Probleme damit hatten. Wir waren bunt gemischt. Sogar Menschen, die keine eigenen Kinder hatten, wurde der Zugang zum Kinderladen nicht versperrt. Sie kümmerten sich vorwiegend um die Vermittlung der Theorie.
Einer arbeitete als Bronzegießer in einer Kunstgießerei (Bildgiesserei Hermann Noack). Bronze und andere Buntmetalle. Die Firma gibt es heute noch. Aber er ist schon vor längerer Zeit verstorben. Keine besonders gesunde Arbeit. Wir fanden für Jeden, der mitmachen wollte, Lösungen. Lösungen, die alle zufrieden stellen sollten. In einem wöchentlichen Arbeitskreis holten wir fehlendes Wissen über die frühkindliche Erziehung nach und erarbeiteten zusammen Modelle, wie wir unsere Kinder anders erziehen wollten. Kinder, die demnächst fünfzig Jahre alt werden. Anders als in der herkömmlichen Erziehung. So, wie sie immer und überall praktiziert wurde und vermutlich auch noch wird. Jungs weinen nicht. Mädchen bekommen rosa Kleidung. Jungs blaue. Gib das schöne Händchen.
Auch die Beziehungen sollten sich ändern. Wir planten eine große Wohngemeinschaft. Bis eines Tages unser Kunstgießer aus Kohlhasenbrück mit einer Sonntagsausgabe der Berliner Morgenpost ankam. Oder war es die BZ? Seine Frau hatte die Anzeige von dem Hotel gefunden, das dort angeboten wurde. Von mir wurden damals beide Zeitungen, weil Springer, bestreikt. Bestreikt ist natürlich falsch. Nicht wahrgenommen. Nicht gekauft. Ich wurde der Freund des INFO BUG, später der Freund des ID für unterbliebene Nachrichten. Und Leser, das will ich gar nicht verstecken, der Frankfurter Rundschau und in der Walde auch Leser der täglich erscheinenden Wahrheit (Zeitung der SEW, was der Ableger der SED in Westberlin (in dieser Schreibweise) war). Was man vielleicht den Jüngeren erklären muss.
Die verschiedenen Parteien (links von der SPD) hatten 1972 eigene Parteizeitungen. Ein Fan des “Vorwärts“ (die Parteizeitung der SPD) hat es, meiner Erinnerung nach, in der Walde nicht gegeben. Auch die Zeitungen der studentischen (angeblich) kommunistischen Zeitungen hatten es in der Walde nicht leicht. (Gegenüber am Mariannenplatz dagegen, in dem Haus, in dem damals eine Apotheke war, gab es mehrere, studentische Wohngemeinschaften, die Anhängerinnen des KBW waren und die Linien, die der KBW so zog, auch mitzogen, was zu einer gewissen Unglaubwürdigkeit führte). Später hat der KBW dann ein Haus in der Oranienstrasse gekauft. Aber das ist eine andere Geschichte.
Der KB (aus Hamburg) dagegen hatte hier in SO 36 nicht viele Anhänger und fand daher auch keine Verbreitung. Während das INFO BUG (die Zeitung der Spontis) aus der Stephanstrasse, das jede Woche erschien und für 0,50 Pfennig käuflich zu erwerben war, von mir gerne gelesen wurde. Besonders die Kleinanzeigen auf der letzten Seite. Auch unsere Anzeigen. Wenn ein Zimmer frei geworden war, oder auch, wenn ein Kind geboren war. Loretto, so war sein Spitzname, richtig hiess er Bernhard Koch, brachte uns jedenfalls diese Sonntagsausgabe der Berliner Morgenpost mit der Anzeige: Leeres Hotel in Kreuzberg zu verpachten. Den genauen Text der Anzeige weiß ich leider nicht mehr.
Aber irgend wie funkte die Sache. Das war zwar nicht unser Bezirk, aber unsere Geldbeutelgröße. Ein Hotel, was seit einiger Zeit leer stand, weil ungünstig gelegen. Am Rande der Stand. Dicht bei der Mauer. Im Sanierungsgebiet. Sanieren, so lernte ich, heißt >gesund machen<. (Wer sich dort wie gesund machte, das konnte man vor Ort hautnah erleben). Die Zimmer wurden billig an Fremdarbeiter vermietet, die sich nur zeitweise in der Stadt aufhielten. Ein Hotel mit 23 Zimmern (je nachdem, wie man zählt), einer Gemeinschafts Küche, einer Kneipe mit Zapfhahn, einem großen Esszimmer, mit einem Tisch, der zwanzig Leuten Platz bot, einem Badezimmer mit einer Badewanne, in einem Anbau Platz für die Waschmaschine und Wäscheschleuder und einem Keller, in den sogar eine Tischtennisplatte passte. Variabel ein Kinderzimmer im ersten Stock, wo der gemeinsame Mittagsschlaf der Kleinen organisiert werden konnte und sollte. (Später stellte sich heraus, die Kleinen wollten dort keinen Mittagsschlaf halten. Sie wollten mittags nicht schlafen, oder lieber bei ihrer Mama schlafen oder sein).
Die Fremdarbeiter waren jedenfalls irgendwie ausgeblieben. Es lohnte sich nicht mehr, das Geschäft mit den Fremdarbeitern. Im letzten Winter hatte man das Haus nicht mehr beheizt und dann vergessen, das Wasser der Zentralheizung abzulassen. (Damals gab es noch richtige Winter, mit Frost und so). Also fror das Wasser in der Heizung ein. Wasser kann viel Kraft haben. Besonders, wenn es einfriert. Das Haus mit dreißig Räumen hatte rund sechzig Heizkörper, die, aus Gusseisen, dem Frost nicht widerstehen konnten und geplatzt waren. Besonderheit dieses Platzens war es, dass erst das Tauwetter, die Heizkörper, die sonst recht stabil sind, platzen ließ, als die Temperaturen im Frühling wieder anstiegen. Man glaubt gar nicht, wie viel Wasser sich in so einer solchen Heizungsanlage mit halb Zoll Rohren befindet (Sechs Stockwerke inkl. Dachgeschoss und Keller) und so folgte den geplatzten Heizkörpern jede Menge Wasser mit den üblichen Wasserschäden.
Die Heizkörper waren im Sommer durch neue Stahlradiatoren von der Pächterin ersetzt worden. Die Pächterin, die noch einen zweijährigen Mietvertrag mit einer städtischen Gesellschaft hatte, behauptete uns gegenüber, die Schäden seien nun alle behoben, die Leckagen beseitigt, was wir jedoch nicht glauben konnten, weil die Anlage vorsichtshalber nicht wieder mit Wasser aufgefüllt worden war. Was tut man, wenn man 25 Jahre alt ist, Maschinenschlosser gelernt hat und sein Leben verändern möchte? Richtig. Man gründet einen weiteren Verein. Den Sozialpsychologischen Arbeitskreis Kreuzberg e. V., wählt einen Vorstand und lässt diesen einen Mietvertrag unterschreiben. Ein befristeten Mietvertrag, der am 1. Oktober 1972 beginnt und 30. September 1974 endet. Zwei Jahre sind eine lange Zeit, denkt man. Aber dann doch nicht.
Monatliche Kaltmiete für die Untermieterin (also uns) 1.250,00 DM pro Monat. Heizkosten, Wasser, Strom und Gas für die Gasherde in der Küche kommen noch dazu. Man kündigt im Einvernehmen die Wohnung, (bzw. hinterlässt sie einem Studienkollegen der Filmakademie) im Horstweg Nummer 6, im Hinterhaus. Drei Zimmer mit Ofenheizung, Kachelöfen, die mit Brikett geheizt werden. In Charlottenburg, dicht am Theodor Heuss Platz, wo zu dieser Zeit die Filmakademie beheimatet war, wo man 1970 das Studium begonnen hat. Der Beschluss lautet: Nun wird sich alles ändern.
Das erste, was sich änderte, waren die Temperaturen. Wir sind noch nicht eingezogen und es gibt im Oktober einen ersten Kälteeinbruch. Wir befüllen die Heizungsanlage, deren Kessel sich unter einer Garage im Nebenhaus befindet, mit Wasser. Und stellen fest, Leckagen überall. Schweißarbeiten sind nötig. Kein Problem. Zwei Personen bringen entsprechende Fähigkeiten mit. Dennoch wird die Sache aufwendig, weil nach jeder Leckage erst mal wieder das Wasser wieder raus muss, bevor die Reparaturarbeiten fortgesetzt werden können. Wir arbeiten uns vor, von unten nach oben. Im dritten Stock angekommen, wird eine Pause eingelegt. Im ersten Stock ist eine Frau aus unserer Gruppe dabei, mit Hilfe eines Zollstockes den Raum in der Mitte auszumessen, obwohl wir die Räume noch gar nicht verteilt haben. Klar ist nur das Erdgeschoss, das Gemeinschaftsraum werden soll.
Ich bin empört. Aber nur innerlich. Ein paar Monate später zieht sie wieder aus. Aus dem Zollstockzimmer. Mann und Kind nimmt sie mit. So schnell kanns gehen. In der Küche bauen wir über den Herd noch einen großen Lüfter ein und dann bringen unsere Möbel in die Walde 81. Geheizt wird mit Koks, den wir später mit gemeinsamen Blutspenden bezahlen. Und jeden Tag gibt es ein Abendessen. 50,00 Mark kommt jeden Tag in die Essenskasse. Frühstück und Abendessen (warm). Zwei Personen kaufen ein und kochen. Dort kommen auch die berühmten Mehlbeutel zu Einsatz. Und die gebratenen Heringe, die sauer eingelegt werden. Manchmal gibt es Napfkuchen mit Rosinen am Sonntag. Einige nennen es Gugelhupf.
Und immer wieder Plenum und Neuaufnahmen, wenn Personen das Weite gesucht hatten und Zimmer neu zu besetzen waren (Das erste Mal nach gefühlten drei Monaten). Die Kinder werden am Morgen mit einem Fahrzeug in den Kinderladen nach Charlottenburg in die Neue Kantstrasse gebracht. Später mit einem gemeinsamen VW Bus. (Ein Lottogewinn, dem mühsam ein neuer Unterboden eingeschweißt wird, wegen durchrosten).
Damit dieses Wissen von damals nicht verschwindet, ist es an der Zeit, 48 Jahre nach dem Beginn, endlich aufzuschreiben, wie das alles anfing. Das hier ist der ist nur ein Teil, der den ersten Mai 1975 mit einschließt. Bis zu meinem/unserem Auszug 1978. Eben die Verweildauer von sechs Jahren. Der Auszug hatte bei uns nichts mit der Waldemarstrasse 81, sondern eher mit der Stadt Berlin zu tun. Überall nur Opas, Omas und Studenten. Kein richtiges Leben. Wir ziehen in anderer Formation aus, als wir eingezogen sind. Seither trinke ich morgens meinen Kaffee immer nur aus großen Bechern.
Hamburg, d. 20. März 2020/ 15. Mai 2022 Jens Meyer
Fotos Helmut Schönberger, Jens Meyer
INFO BUG 100 INFO BERLINER UNDOGMATISCHER GRUPPEN (Die Nummer 100 – Jubiläum vom 29. 03. 1976) Ich werde gleich 44 Jahre alt und immer noch ohne Lebensunterhalt.
Meine Berlinale 2020 (70)
Wird Wanda während der Dreharbeiten tatsächlich verspeist?
Berlinale 2020 (70) In Deutsch, und Suchmaschinenübersetzung Englisch, Portugal.
Ist der goldene Bär aus Gold und der silberne Bär aus Silber? Nein. Natürlich nicht. Nein, einen silbernen Bären gab es dieses Jahr nicht. Braune Bären gehören in den Wald und nicht in die Öffentlichkeit. Kein Alfred Bauer Preis. Es hat viel geregnet und ich habe theoretisch jeden Tag vier Filme gesehen, also 4 x 8 Filme = 32 Filme. Praktisch waren es natürlich viel weniger Filme. Manchmal habe ich im Zoo Palast (im großen Saal 1) dort gesessen, wo der Ausgang nur zwei Meter vom Sitzplatz im Kino entfernt ist (J 1). Im Zoopalast Reihe J von der Leinwand aus gesehen links, was natürlich in Fahrtrichtung rechts ist. Der beste Film der Berlinale war aus meiner Sicht „Gunda“ ein Film von einem Norweger gemacht (Victor Kossakovsky) (In der Reihe Encounters, was der Google Übersetzer mit = >Begegnungen< ins Deutsche übersetzt). Mit anderen Worten, Ihnen ist nichts eingefallen, welchen sinnvollen Namen eine neue Kategorie nun haben kann. “Gunda“ ist eine Langzeitbeobachtung eines weiblichen Schweines. (Neun Monate). Ohne Menschensprache, nur mit den Geräuschen, den die Tiere so machen (Das fühlt sich fast so an, wie eine mir fremde Menschensprache). Der Film handelt von Gunda und ihren Kindern, bis diese acht Monate alt sind und abgeholt werden und die Mutter verzweifelt den Hof nach ihnen absucht, weil sie nicht versteht, was da nun passiert ist.
Hinterher war ich allerdings Currywurst (Bei Curry 36 am Zoo Bahnhof) essen und hatte ein bisschen schlechtes Gewissen, obwohl der Macher des norwegischen Films nach dem Film hinterher immerhin erzählt hatte, dass Gunda nicht geschlachtet wurde, sondern achtunddreissig Jahre alt geworden, aber inzwischen verstorben ist.
In der gleichen Reihe (Encounters = Begegnungen) der Berlinale gab es auch eine Begegnung, die ich rückblickend doch gerne vermieden hätte. „Malmkrog“ (von Christi Puiu). Geschwätzig bis zum gehtnichtmehr, vollgestopft mit Belanglosigkeiten, unterhalten sich angeblich Adlige ueber des Leben, die Revolution und was weiss ich nicht, bis endlich die Diener, die Reissleine ziehen und nicht mehr auf ihre Glockentöne hören; die Sache zu einem Ende bringen, was ich jedoch nicht mehr erleben wollte, weil der Ausgang nur 2,00 m entfernt von meinem Sitzplatz war. Als dann der Pulverdampf der Pseudo Pistolen im Bild zu sehen war, habe ich gedacht, na endlich, das hätten sie doch gleich nach 10 Minuten machen können!
Aber so ist das, wenn man auf den Aufstand, auf die Revolution immer wartet, im Kino wartet.
Am Freitag gabs dann im Zoo Palast 1 von Charles Crichton, A FISH CALLED WANDA und das Vergnügen war ganz auf meiner Seite und dann auch mal wichtig. Das Vergnügen, auf der großen Leinwand des Zoopalastes zu überprüfen, ob der Fisch namens Wanda eigentlich im Film tatsächlich verspeist wird. Ich behaupte mal, nach neuerlicher Besichtigung dieses Filmes, dass nein. Denn die Reste des Fisches, die der Erpresser (zwei mal) im Mund hat, haben nicht die richtige Farbe.
Obwohl andrerseits Wanda (der Fisch) im Aquarium danach auch nicht mehr zu sehen ist. Das werden wir wohl nie erfahren, wenn nicht jemand aus der Filmgeschichte mal ins Quatschen kommt. Am Sonnabend dann schnell mal zu Helgard Gammert ins Bali Kino nach Zehlendorf. Das Kino ist direkt am S – Bahnhof Zehlendorf und aus vielen Gründen immer eine Reise wert. Ein Grund davon ist die lange Geschichte dieses Kinos. Dort gab es um 16.00 Uhr einen Kinderfilm, von einem, bei dem man sich nicht mehr beschweren kann, bei Joseph Vilsmaier, der am 11. Februar 2020 gestorben ist. Man müsste eigentlich, weil es Joseph Vilsmaier in der Neuverfilmung >Charly und Louise< von 1994 (es gab schon mal 1950 ein doppeltes Lottchen) gelingt, vom Hamburger Hauptbahnhof bis nach Schottland in einem Zug zu gelangen. (ohne Unterbrechung). (Nix mit Nordsee oder Fähre oder was). Nur die Lokomotive wird gewechselt. Denn die Schotten haben noch Dampflokomotiven, die sie für Filmaufnahmen gerne mal vor den Zug spannen. Den Kindern hats jedenfalls gefallen. Nur die Mädchen haben gequietscht, als auf der Leinwand das Knutschen anfing. In dieser Hinsicht ist doch vieles gleich geblieben. Jens Meyer
Pdf Abschrift Propaganda Minist (Zeichen 3.223)
Ich wiederhole: „Film bedeutet nicht nur ständige Bewegung, sondern auch Weiterentwicklung, Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, Anpassung an die Gegenwart und Vorahnung einer menschlichen und technischen Entwicklung der Zukunft.“ (Hervorhebungen von mir).
Wikipedia schreibt:
“Bereits 1973 – also noch in der Amtszeit Bauers – wies der Filmhistoriker Wolfgang Becker (1943–2012) darauf hin, dass Alfred Bauer in der Reichsfilmintendanz gewirkt hat und dort einer ihrer beiden Referenten war. Auf diese enge Verstrickung mit der Reichsfilmintendanz und damit zum NS-Propagandaapparat machten auch Hans Christoph Blumenberg (1993), Felix Moeller (1998) und Tereza Dvořáková und Ivan Klimeš (2008) aufmerksam, ohne dass es zu Reaktionen der deutschen oder internationalen Presse gekommen wäre.“
Aus dem Buch: Zur politischen Ökonomie des NS-Films von Wolfgang Becker, Berlin, Verlag Volker Spiess 1973: Seite 199 “ . . . Allgemeiner Stellvertreter des Reichsfilmintendanten war Dr. Walther Müller-Goerne, Referent in der Reichsfilmkammer bis zu seiner Ernennung. Ihm war die Regelung des gesamten Geschäftsganges übertragen: Besetzungsfragen, Vertragsabschlüsse, Einsatzkontrolle, Filmgestaltung usw.. Unterstützt wurde Müller-Goerne hierbei von Dr. Alfred Bauer, der ebenfalls Filmkammer-Referent (Fachschaft Film) war. Siehe: 539)
[Anmerkung 539: Die Beurteilung der Partei-Kanzlei lautete: “Eifriger SA-Mann (BDC-PKC Akte Bauer). Bauer selbst sprach von einem nachweislich erzwungenen Partei-Eintritt“ (Vgl. die Rechtfertigungsschrift Bauers:“Wie entstand ein Film im Nazi-Deutschland“ vom August 1945, die allerdings wenig informativ ist, da sie lediglich den Leistungssteigerungserlaß wiedergibt; Ufi-Ffm 21/088)]
Is Wanda actually eaten while filming?
Is the golden bear made of gold and the silver bear made of silver? No. Of course not. No, there was no silver bear this year. Brown bears belong in the forest and not in public. No Alfred Bauer price. It rained a lot and I theoretically watched four films every day, so 4 x 8 films = 32 films. In practice, of course, there were far fewer films. Sometimes I sat in the Zoo Palast (in the large hall 1) where the exit is only two meters from the seat in the cinema. In the Zoo Palace row J seen from the screen on the left, which is of course on the right in the direction of travel. The best film at the Berlinale was, in my view, „Gunda“ a film made by a Norwegian (Victor Kossakovsky) (in the Encounters series, which the Google translator translated => Encounters <into German). In other words, you couldn’t think of what meaningful name a new category can now have. „Gunda“ is a long-term observation of a female pig. (Nine months). Without human language, only with the sounds that the animals make (it almost feels like a foreign language to me). The film is about Gunda and her children until they are eight months old and are picked up and the mother desperately searches the yard for them because she does not understand what has happened there. Afterwards, however, I was eating currywurst (at Curry 36 at the Zoo Is Wanda actually eaten while filming?
Bahnhof) and had a bit of a guilty conscience, although afterwards the maker of the Norwegian film had said after the film that Gunda had not been slaughtered, but had turned thirty-eight, but had since died is. In the same series (Encounters = Encounters) of the Berlinale there was also an encounter that I would have liked to have avoided in retrospect. „Malmkrog“ (by Christi Puiu). Gossiping to the point of no more, stuffed with trivialities, allegedly nobles talk about life, the revolution and what I don’t know until finally the servants pull the rip cord and no longer listen to their bells; to bring this to an end, which I didn’t want to experience anymore because the exit was only 2.00 m away from my seat. When the powder vapor of the pseudo pistols was shown in the picture, I thought, finally, they could have done it after 10 minutes! But that’s how it is when you wait for the uprising, for the revolution, in the cinema. On Friday there was Charles Fricht CALLED WANDA at Zoo Palast 1 and the pleasure was completely on my side and then important. The pleasure of checking on the big screen of the Zoo Palace whether the fish named Wanda is actually eaten in the film. I would say after a second view of this film that no. Because the remains of the fish that the blackmailer has (twice) in the mouth are not the right color. On the other hand, Wanda (the fish) is no longer visible in the aquariumIs Wanda actually eaten while filming?
afterwards. We will probably never know that unless someone from film history comes to chat. On Saturday then quickly to Helgard Gammert in the Bali cinema in Zehlendorf. The cinema is right at Zehlendorf S – Bahn station and for many reasons always worth a visit. One reason is the long history of this cinema. There was a children’s film there at 4:00 p.m., by someone you couldn’t complain about, with Joseph Vilsmaier, who died on February 11, 2020. One would actually have to, because Joseph Vilsmaier in the remake >Charly and Louise< from 1994 (there was already a double Lottchen in 1950) manages to get from Hamburg Central Station to Scotland in one train. (without interruption). (Nothing with the North Sea or ferry or what). Only the locomotive is changed. Because the Scots still have steam locomotives that they like to put in front of the train for filming. The children liked it anyway. Only the girls squeaked when the smooch started on the canvas. In this regard, much has remained the same. Jens Meyer
Wikipedia writes:Is Wanda actually eaten while filming?
“As early as 1973 – still during Bauer’s term in office – the film historian Wolfgang Becker (1943–2012) pointed out that Alfred Bauer had worked in the Reich Film Directorate and was one of her two speakers there. Hans Christoph Blumenberg (1993), Felix Moeller (1998) and Tereza Dvořáková and Ivan Klimeš (2008) also drew attention to this close entanglement with the Reich Film Directorate and thus to the Nazi propaganda apparatus, without reactions from the German or international press . „
From the book: On the political economy of Nazi films by Wolfgang Becker, Berlin, Volker Spiess 1973: page 199 “. , The general representative of the Reich Film Director was Dr. Walther Müller-Goerne, speaker in the Reichsfilmkammer up to s
Wanda é realmente comida durante as filmagens?
O urso de ouro é feito de ouro e o urso de prata é feito de prata? Não. Claro que não. Não, não havia urso de prata este ano. Os ursos pardos pertencem à floresta e não ao público. Nenhum preço de Alfred Bauer. Choveu muito e eu teoricamente assisti quatro filmes todos os dias, então filmes de 4 x 8 = 32 filmes. Na prática, é claro, havia muito menos filmes. Às vezes, eu me sentava no Zoo Palast (no grande salão 1), onde a saída fica a apenas dois metros do assento no cinema. Na fila do Zoo Palace, J vista da tela à esquerda, que obviamente está à direita na direção da viagem. O melhor filme da Berlinale foi, na minha opinião, „Gunda“, filme de norueguês (Victor Kossakovsky) (na série Encounters, que o tradutor do Google traduziu => Encounters <para o alemão). Em outras palavras, você não conseguia pensar em que nome significativo uma nova categoria pode ter agora. „Gunda“ é uma observação de longo prazo de uma fêmea. (Nove meses). Sem linguagem humana, apenas com os sons que os animais produzem (quase me parece uma língua estrangeira). O filme é sobre Gunda e seus filhos até os oito meses de idade e são apanhados, e a mãe procura desesperadamente no quintal por eles, porque ela não entende o que aconteceu lá. Depois, no entanto, eu estava comendo currywurst (no Curry 36, no zoológico Bahnhof) e tinha um pouco de consciência culpada, embora depois o produtor do filme norueguês tenha dito depois do filme que Gunda não havia sido abatida, mas tinha trinta e oito anos, mas já havia morrido. é. Na mesma série (Encontros = Encontros) da Berlinale, houve também um encontro que eu gostaria de ter evitado em retrospecto. „Malmkrog“ (de Christi Puiu). Fofocando ao ponto de não mais, recheado de trivialidades, supostamente nobres falam sobre a vida, a revolução e o que eu não sei até que finalmente os servos puxem o cordão e não escutem mais os sinos; para terminar isso, o que eu não queria mais experimentar, porque a saída estava a apenas 2,00 m do meu assento. Quando o vapor de pó das pseudo pistolas foi mostrado na foto, pensei: finalmente, eles poderiam ter feito isso após 10 minutos! Mas é assim que se espera a revolta, a revolução, no cinema. Na sexta-feira, havia Charles Fricht CHAMADO WANDA no Zoo Palast 1 e o prazer estava completamente do meu lado e depois importante. O prazer de verificar na tela grande do Zoo Palace se o peixe chamado Wanda é realmente comido no filme. Eu diria depois de uma segunda visão deste filme que não. Porque os restos do peixe que o chantagista tem (duas vezes) na boca não são da cor certa. Por outro lado, Wanda (o peixe) não é mais visível no aquário posteriormente. Provavelmente nunca saberemos isso, a menos que alguém da história do cinema venha conversar. No sábado, em seguida, rapidamente para Helgard Gammert no cinema de Bali em Zehlendorf. O cinema fica na estação Hof Zehlendorf S – Bahn e, por muitas razões, sempre vale a pena uma visita. Uma razão é a longa história deste cinema. Havia um filme infantil lá às 16:00, de alguém que você não podia reclamar, com Joseph Vilsmaier, que morreu em 11 de fevereiro de 2020. Na Is Wanda actually eaten while filming?
verdade, seria necessário, porque Joseph Vilsmaier no remake> Charly e Louise <de 1994 (já havia um Lottchen duplo em 1950) consegue ir da Estação Central de Hamburgo à Escócia em um trem. (sem interrupção). (Nada com o Mar do Norte ou balsa ou o quê). Somente a locomotiva é trocada. Porque os escoceses ainda têm locomotivas a vapor que gostam de colocar na frente do trem para filmar. As crianças gostaram de qualquer maneira. Somente as meninas chiaram quando o beijo começou na tela. Nesse sentido, muito permaneceu o mesmo. Jens Meyer
A Wikipedia escreve:
“Já em 1973 – ainda durante o mandato de Bauer – o historiador do cinema Wolfgang Becker (1943–2012) apontou que Alfred Bauer havia trabalhado na Diretoria de Cinema do Reich e era um de seus dois oradores lá. Hans Christoph Blumenberg (1993), Felix Moeller (1998) e Tereza Dvořáková e Ivan Klimeš (2008) também chamaram a atenção para esse envolvimento próximo com a Diretoria de Cinema do Reich e, portanto, com o aparato de propaganda nazista, sem que a imprensa alemã ou internacional reagisse. „.
Do livro: Sobre a economia política dos filmes nazistas de Wolfgang Becker, Berlim, Volker Spiess 1973: página 199 “. , O representante geral do diretor de cinema do Reich foi o Dr. Walther Müller-Goerne, orador do Reichsfilmkammer até s
Fotos Jens Meyer
In der Natur ist der Bär braun Nur im Eis ist er weiss oder Kleiner Bericht von Berlinale / 70 Jahre alt
Wird Wanda verspeist?
Ist der goldene Bär aus Gold und der silberne Bär aus Silber? Nein. Natürlich nicht. Nein, einen silbernen Bären gab es dieses Jahr nicht. Braune Bären gehören in den Wald und nicht in die Öffentlichkeit. Kein Alfred Bauer Preis. Es hat viel geregnet und ich habe theoretisch jeden Tag vier Filme gesehen, also 4 x 8 Filme = 32 Filme. Praktisch waren es natürlich viel weniger Filme. Manchmal habe ich im Zoo Palast (im großen Saal 1) dort gesessen, wo der Ausgang nur zwei Meter vom Sitzplatz im Kino entfernt ist. Im Zoopalast Reihe J von der Leinwand aus gesehen links, was natürlich in Fahrtrichtung rechts ist. Der beste Film der Berlinale war aus meiner Sicht „Gunda“ ein Film von einem Norweger gemacht (Victor Kossakovsky) (In der Reihe Encounters, was der Google Übersetzer mit = >Begegnungen< ins Deutsche übersetzt). Mit anderen Worten, Ihnen ist nichts eingefallen, welchen sinnvollen Namen eine neue Kategorie nun haben kann. “Gunda“ ist eine Langzeitbeobachtungen eines weiblichen Schweines. (Neun Monate). Ohne Menschensprache, nur mit den Geräuschen, den die Tiere so machen (Das fühlt sich fast so an, wie eine mir fremde Menschensprache). Der Film handelt von Gunda und ihren Kindern, bis diese acht Monate alt sind und abgeholt werden und die Mutter verzweifelt den Hof nach ihnen absucht, weil sie nicht versteht, was da nun passiert ist.
Hinterher war ich allerdings Currywurst (Bei Curry 36 am Zoo Bahnhof) essen und hatte ein bisschen schlechtes Gewissen, obwohl der Macher des norwegischen Films nach dem Film hinterher immerhin erzählt hatte, dass Gunda nicht geschlachtet wurde, sondern achtunddreissig Jahre alt geworden, aber inzwischen verstorben ist.
In der gleichen Reihe (Encounters = Begegnungen) der Berlinale gab es auch eine Begegnung, die ich rückblickend doch gerne vermieden hätte. „Malmkrog“ (von Christi Puiu). Geschwätzig bis zum gehtnichtmehr, vollgestopft mit Belanglosigkeiten, unterhalten sich angeblich Adlige ueber des Leben, die Revolution und was weiss ich nicht, bis endlich die Diener, die Reissleine ziehen und nicht mehr auf ihre Glockentöne hören; die Sache zu einem Ende bringen, was ich jedoch nicht mehr erleben wollte, weil der Ausgang nur 2,00 m entfernt von meinem Sitzplatz war. Als dann der Pulverdampf der Pseudo Pistolen im Bild zu sehen war, habe ich gedacht, na endlich, das hätten sie doch gleich nach 10 Minuten machen können!
Aber so ist das, wenn man auf den Aufstand, auf die Revolution immer wartet, im Kino wartet.
Am Freitag gabs dann im Zoo Palast 1 von Charles Crichton, A FISH CALLED WANDA und das Vergnügen war ganz auf meiner Seite und dann auch mal wichtig. Das Vergnügen, auf der großen Leinwand des Zoopalastes zu überprüfen, ob der Fisch namens Wanda eigentlich im Film tatsächlich verspeist wird. Ich behaupte mal, nach neuerlicher Besichtigung dieses Filmes, dass nein. Denn die Reste des Fisches, die der Erpresser (zwei mal) im Mund hat, haben nicht die richtige Farbe.
Obwohl andrerseits Wanda (der Fisch) im Aquarium danach auch nicht mehr zu sehen ist. Das werden wir wohl nie erfahren, wenn nicht jemand aus der Filmgeschichte mal ins Quatschen kommt. Am Sonnabend dann schnell mal zu Helgard Gammert ins Bali Kino nach Zehlendorf. Das Kino ist direkt am S – Bahnhof Hof Zehlendorf und aus vielen Gründen immer eine Reise wert. Ein Grund davon ist die lange Geschichte dieses Kinos. Dort gab es um 16.00 Uhr einen Kinderfilm, von einem, bei dem man sich nicht mehr beschweren kann, bei Joseph Vilsmaier, der am 11. Februar 2020 gestorben ist. Man müsste eigentlich, weil es Joseph Vilsmaier in der Neuverfilmung >Charly und Louise< von 1994 (es gab schon mal 1950 ein doppeltes Lottchen) gelingt vom Hamburger Hauptbahnhof bis nach Schottland in einem Zug zu gelangen. (ohne Unterbrechung). (Nix mit Nordsee oder Fähre oder was). Nur die Lokomotive wird gewechselt. Denn die Schotten haben noch Dampflokomotive, die sie für Filmaufnahmen gerne mal vor den Zug spannen. Den Kindern hats jedenfalls gefallen. Nur die Mädchen haben gequietscht, als auf der Leinwand das Knutschen anfing. In dieser Hinsicht ist doch vieles gleich geblieben. Jens Meyer
Fotos Jens Meyer
Pdf Abschrift Propaganda Minist (Zeichen 3.223)
„Da es grade Krieg war . . .
forderte er zum Durchhalten auf.“ Ein Text aus der LBB (LichtBildBühne) Berlin vom 16. August 1930 von David Melamerson: Abschrift aus der LichtBildBühne (LBB) vom 16. August 1930, Verlag Karl Wolffsohn Berlin. 2. Beilage
HUMMEL! HUMMEL!
Von D. Melamerson. (ist: David Melamerson, Deulig/Ufa). „Der bekannte Verleihfachmann, der bekanntlich aus Hamburg stammt, plaudert auf unsere Aufforderung aus seinen Hamburger Erinnerungen.
Hamburg, der Film und ich sind drei Begriffe, die für mich wenigstens nicht zu trennen sind. In Hamburg bin ich nämlich aufgewachsen und habe auch die Anfänge des Films mitgemacht. Ich weiß noch genau wie es war :
Ich besuchte die Vorschule. Hatte gerade gelernt, Anschlagsäulen und ähnliches zu studie- ren, als ich eines Tages las, daß in einer Automaten Ausstellung in der Kaiser-Wilhelm-Strasse der „erste Film“ gezeigt wird. Meine Eltern gingen mit mir hin. Es war ein herrlicher Film. Ein Schiff kam an, landete, fuhr ab und damit war der Bildstreifen zu Ende. Es war mir unbegreiflich, daß sich Menschen auf der Leinwand bewegen können – und das obendrein in einer Stadt, dessen Bewohner als „steif“ verschrien sind. Und bereits damals sollte ich spüren, daß die Hauptrolle im Film – und das hat sich bis heute nicht geändert – der Zufall spielt, denn, wie sich allerdings erst 20 Jahre später herausstellte, in der gleichen Automaten-Ausstellung war auch ein Apotheker, der eigentlich in Hamburg nichts zu suchen hatte, da er aus dem Rheinland stammte und dieser Apotheker wurde später mein Kollege bei der Ufa und ist es jetzt bei der Terra: Eugen E. Schlesinger. Diese erste Begegnung mit dem Film war für mich entscheidend. Ich konnte tagelang vor Aufregung nicht schlafen. Mein Verlangen, weitere Filme zu sehen, war brennend! Es dauerte zwar einige Jahre, bis ich endlich den zweiten Film zu sehen bekam, aber da man damals um die Jugend nicht so besorgt war wie heute und man nicht die ominöse Aufschrift kannte „Für Jugendliche unter 18 Jahren verboten“, stand dem nichts im Wege, daß ich als kleiner Gymnasiast Messters ersten Film mir ansah. Kinos gab es noch nicht und so ging man in das Hansa-Theater, zu jener Zeit das führende Varieté Europas, wo es am Schluß den ersten Film – und zwar sogar Tonfilm – gab.
(Hier ist ein Bild vom Knopfs Lichtspielhaus eingefügt.) (Allerdings duldete man es, daß die Musik hinter der Leinewand von einem Grammophon gemacht wurde. Sie werden begreifen, daß diese Art Tonfilm bald ihr Ende fand). Der Star war Robert Steidl, dessen Couplet: „Wenn Kalkulators in die Boomblüte ziehn“ seinerzeit nicht weniger Beifall fanden, als etwa heute: „In bin von Kopf bis Fuß“. Die Leute waren begeistert und ich klatschte wie wild. Und Messter erschien nachher persönlich auf der Bühne. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich das Kino nie wieder verlassen, aber die Schule nahm mich zu sehr in Anspruch und so konnte ich „nur“ drei- bis viermal wöchentlich in das bald begründete einzige Kino „Knopfs Lichtspiele“ auf dem Spielbudenplatz gehen. Die Kinobesitzer mußten damals ihre Filme käuflich erwerben. Es war daher ein „Repertoire-Theater“. Den „Gallischen Hahn“, die Schutzmarke Pathés, bekam man immer wieder zu sehen, denn die Filme waren nur kurz. Dazu spielte ein Orchestrion mit drei Stücken ohne Rücksicht darauf, was auf der Leinewand vorging, und die Ouvertüre von „Dichter und Bauer“ mußte lange dazu herhalten, jeden Film, gleichgültig welcher Art, zu begleiten. Noch heute kann ich „Dichter und Bauer“ nicht hören, ohne die untrennbare Vision des kleinen „Kintopps“ auf der Reeperbahn, vor dem ein Ausrufer „rekommandierte“ und wo es alle halbe Stunde hieß: „Billet A-E ist abgelaufen“ zu haben. Der Abschluß des Kinobesuches war auch stets der gleiche: Am Büfett ein Glas Limonade für 10 Pfennig. Der Film nahm einen schnellen Aufschwung. Die Zahl der Kinos vermehrte sich um 200 % und so gab es bald Hamburg d r e i Lichtspiel-Theater eines hieß das „Belle-Alliance-Theater“, das andere „Atlantik“, in der Nähe des Hauptbahnhofs gelegen, und gehörte damals dem späteren Ufa-Direktor Pulch. An der weiteren Entwicklung des Films hatte ich keinen Anteil, denn Schule und Studium waren mir doch wichtiger. Wie es beim Film üblich ist, kommen doch schließlich die im mittleren Akt Getrennten am Schluß wieder zusammen und so ist es nur eine Selbstverständlichkeit, daß ich mich dem Film verband. – Da mir noch immer die Leinwandfiguren aus der Automaten-Ausstellung vor Augen standen, wandte ich mich der Produktion zu. Selbstverständlich hieß mein erster Film und spielte „An der Waterkant“ und zeigte Bilder aus Hamburg. Da es grade Krieg war, forderte er zum Durchhalten auf. Die Hauptrollen verkörperten die Gebrüder Wolff (Snuten und Poten!) und der Film ging sogar durch ganz Deutschland. Bei den Aufnahmen dazu entstanden auch etliche Beiprogrammfilme für die Deutsche Lichtbild-Gesellschaft, die den Hamburger Hafen und das Alster Viertel zeigten. Zwischendurch machte ich auch die persönliche Bekanntschaft eines Kino-Direktors – nicht etwa im Kino oder im Büro der Produktion, sondern bei einem Fußball-Club, dessen Mitglieder wird beide waren. Es war ein wagemutiger Süddeutscher, der auf „Hoheluft“ ein Kino besaß „Die Blumenburg“. Steigerwalds Wagemut wurde belohnt. Und noch heute spielt er eine führende Rolle unter den Theaterbesitzern nicht nur seiner Adoptiv-Heimat und des Norddeutschen Bezirkes, sondern des ganzen Reiches. Wer hätte das von dem „Schaddedirektor“, so wurde er ursprünglich ironisch genannt, weil man im Film nichts anderes als ein Schattenspiel sah, gedacht? In Hamburg entstand dann das erste wirklich große und moderne Lichspielhaus Deutschlands, das „Lessing-Theater“. Die Erbauer und ersten Besitzer eilten ihrer Zeit weit voraus und gingen daran später kaputt, zumal sie – wiederum
(Hier ist ein Foto von Hugo Steigerwald in den Artikel eingefügt)
ihrer Zeit weit vorauseilend – die jetzigen Kammer-Lichtspiele in Berlin errichteten. An ihre Stelle trat später der alte Herr Henschel, der mehr als ein Dezennium dem Kinoleben Hamburgs seinen Stempel aufdrückte. Sein Werk wird, nachdem sein einziger Sohn ihm durch den Krieg entrissen wurde, fortgesetzt von seinen Schwiegersöhnen Streit und Saß. Und heute noch ist der „Henschel – Konzern“ der Ring der großen Schauburgen, das größte Kinounternehmen Hamburgs. „Knopfs Lichtspielhaus“ aber gehört der Emelka und immer, wenn ich in Hamburg bin und „Auf der Reeperbahn nachts um ½ 1“ die Stätte unseres harmlosen Jungen-Vergnügens passiere, gedenke ich der gewaltigen Entwicklung des deutschen Filmes in dieser kurzen Spanne Zeit und bin stolz darauf, als Hamburger zu meinem bescheidenen Teile an diesem geradezu senkrechten Aufstieg habe teilnehmen dürfen.“ (Der Artikel von David Melamerson ist erschienen in der LBB am Sonnabend, d. 16. August 1930. Die Statistik sagt: Hamburg hat im Jahr 14 Millionen Zuschauer im Kino. Das kleinste Kino hat 154 Sitzplätze, das grösste 2600 Sitzplätze). Abgeschrieben von Jens Meyer.
Willy Münzenberg aus dem Schweizer Zuchthaus
Willi Münzenberg Geschrieben im Schweizer Zuchthaus 1918
Willi Münzenberg
Lebenslauf
Verlag Detlev Auvermann KG Glashütten im Taunus 1972
Abschrift des Lebenslaufes von Wilhelm Münzenberg
Die Eltern
========
Das Recht der ersten Nacht ist in Deutschland nach dem Gesetz schon seit langem aufgehoben. Praktisch freilich wird es heute mindest so oft als früher ausgeübt. Nur wartet man nicht bis zur Hochzeitsnacht der Magd und beschränkt sich auch nicht auf nur eine Nacht. Es war deshalb kein besonderer Zufall oder ein ausgezeichnetes Wunder, als sich Baron von M. vergass, sein aldiges und edles Blut mit demjenigen seines Zimmermädchens zu mischen. Das Kind erbte den Standesdünkel, den Jähzorn, die Brutalität und Roheit, die Liebe zu Wein, Weib, Weib und Spiel, kurz alle Tugenden seines Vaters, ohne dessen Vermögen. Der Alte benahm sich immerhin noch anständiger als andere seines Standes und in seiner Lage. Er anerkannte das Kind, gab ihm seinen Namen und bestritt die Kosten seiner besseren Schulbildung. Aber die junkerlichen Triebe in dem Jungen waren zu stark, um einen grösseren Lerneifer aufkommen zu lassen. Als Knabe war er der Anführer aller losen und verwegenen Streiche und als Jüngling mehr im Wirtshaus und hinter den jungen Schönen des Dorfes her als beim Studium. Ermahnungen und Drohungen des Alten fruchteten nichts. Da sagte sich dieser von dem Jungen los, kaufte für 300 Taler seinen Namen zurück und jagte ihn zum Teufel. Da brach der Krieg zwischen Preussen & Oesterreich aus (1866) und der hoffnungsvolle Sprössling des preusssischen Junkers und seiner Magd, der nichts gelernt und nichts zu verlieren hatte, meldete sich freiwillig. Er wurde angenommen und folgte als Feldgendarm dem siegreichen preussischen Heer. Das Leben unter den Soldaten gefiel ihm und er beschloss zu bleiben. Als Ordonanzreiter machte er einige Jahre später den deutsch-französischen Krieg mit, nahm 1873 den Abschied und wurde als Telegraphist angestellt. Das blieb er er aber nicht lange. Ein frischer Unternehmungsgeist trieb ihn, sich selbst zu versuchen und wurde in wechselreicher Reihenfolge Agent, Förster, Güterspekulant, Gastwirt, Coiffeur, Geflügelhändler etc., ohne aber mit irgend einem Fach dauernd Fuss fassen zu können. Das Soldatenleben und die Teilnahme an zwei Kriegen hatte alle seine Leidenschaften und Neigungen mächtig gefördert. Zu gute kam ihm nur der dabei gewonnene frische Unternehmungsgeist und eine gewisse Weltgewandtheit, die sich später zu einem guten und sicheren Geschäftssinn entwickelte. Im Vergleich zu der Vermehrung und der Steigerung der schlimmen Eigenschaften herzlich wenig. Der Standesdünkel war durch militärische Chargen und Orden kräftig gehoben worden. Und fehlte ihm auch der Name und das Vermögen, in seiner Einbildung und durch seine Abstammung fühlte er er sich als ein Mitglied der herrschenden, besseren Klasse, als schneidiger preussischer Junker und schaute mit Verachtung auf das gewöhnliche Volk. Die Liebe für ein flottes Leben, für Wein, Weib und Spiel war um die teurere Passion, für die Jagd, reicher geworden. Kein Wunder, wenn das schnell und leicht erworbene Geld ebenso schnell und rasch wieder zerfloss. Wenn ihm heute eine glückliche Güterspekulation Tausende in den Schoss warf, so verschlang morgen eine Jagdpartie zehntausende. Besonders die Leidenschaft für den Wein war durch den Krieg und nicht zuletzt durch die eroberten Weinkeller der französischen Bauern zu einer unbezwinglichen Trunksucht geworden. Und da der Wein in der Heimat ziemlich teuer war, so trat an dessen Stelle der Schnabs, der Gocnak und ein „guter Korn“. Und das täglich genossene Quantum stieg von Jahr zu Jahr und die Tage ohne Rausch wurden im selben Masse seltener. Hand in Hand mit der Vergrösserung der Trunksucht ging die Steigerung des Jähzorns, der Brutalität und Roheit. Die geringste ihm missfallende Handlung, ja, schon ein einziges Wort konnte ihn in einen Taumel sinnloser Wut versetzen. Als es anlässlich eines Kartenspiels zwischen ihm und einem Mitspielenden zu Differenzen kam, verliess er in höchster Erregung das Zimmer, um einige Minuten mit dem geladenen Gewehr zurückzukehren. Nur mit Mühe konnte dem Tobenden das Gewehr entwunden werden. Ueberhaupt wurde das Schiessen je länger je mehr zu einer direkten Manie des Unglücklichen. Einige Gewehre hingen stets geladen über dem Bett. Er begnügte sich nicht mit der Jagd auf die gewöhnlichen Jagdtiere, sondern schoss Stare, Raben, Störche, Katzen, Hunde, kurzum, was ihm vor das Rohr kam. Zu Hause droht er er täglich, sich zu erschiessen, die Frau, die Kinder, die „ganze Bande zu erschiessen“. Und mehr wie einmal rettete nur die schleunige Flucht die Unglücklichen vor dem Tod. Alles wurde aber übertroffen durch seine Roheit und Brutalität gegen die Familie. Jedes, auch nur das geringste und kleinste gefühlvolle Verständnis für ein Familienleben fehlte ihm vollständig und Liebe für Frau und Kinder war ihm so weltfremd, wie die Pflicht, für sie zu sorgen. Während er in lockerer und feuchtfröhlicher Gesellschaft tausende verprasste, fehlte der Familie das zum Leben notwendige Brot! Um die Erziehung der Kinder bekümmerte er sich nur insofern, als er ab und zu, und das nicht selten, alle auf das grausamste schlug. Mit der Frau wurde begonnen und mit dem Jüngsten geendet. Dabei fand alles Verwendung , was ihm in die Hand kam Stöcke, Peitschen, Ketten, Eisenstücke, Geschirr. Narben auf allen Körperteilen der Kinder zeugen heute noch von den erlittenen Misshandlungen. Als eines Tages der damals zweijährige älteste Sohn weinte, ergriff ihn der darob erboste Vater und warf ihn wie ein Ball oder ein Stein die Treppe hinunter. Nur dass die Mutter das Kind auffing und so den Sturz milderte, rettete dem Kind das Leben. Natürlich schrie der Kleine noch kläglicher als zuvor. Das machte den Vater so wütend, dass er Mutter und Kind in die Jauchegrube warf. Die Jauchegrube befindet sich in den thüringischen Bauernhäusern in der Mitte des Hofes und ist eine Grube ca. 2 m. tief, 3 m. breit und 6 m. lang. Auf die Hilferufe der beiden eilt die Schwiegermutter herbei, um gleich darauf ebenfalls in der Grube zu liegen. Nicht besser erging es dem Schwiegervater, der mit einer Mistgabel bewaffnet dem Wütenden zu Leibe wollte. Und während Großvater, Grossmutter, Mutter und Kind in der stinkenden Jauche zappelten und sich zu retten suchten, erzählte der Held des Stückes den wildauflachenden Bauern seine neueste Heldentat und unter den unflätigsten Witzen. Das war mein Vater! Später habe ich mich manchmal gefragt, wie war das alles möglich? Wie war es möglich, das ein solcher Mensch vierzig Jahre ein Familie quälen, vierzig Jahre wie ein Wahnsinniger leben leben durfte, ohne das die Nachbarschaft, ohne das die Behörde eingriff? Eine alles erklärende Antwort habe ich bis heute nicht gefunden. Viel erklärt das Wesen meiner Mutter. Meine Mutter kenne ich mehr nach den Schilderungen der älteren Geschwister als aus eigener Erinnerung; sie starb, bevor ich vier Jahre alt war. Sie war die Tochter armer Bauersleute in der Nähe von Erfurt und wie alle deutschen Arbeiter und armen Bauern, grenzenlos zufrieden und unterwürfig. Am schwersten musste sie ihre begeisterte Liebe für das bunte Tuch büssen. Sie liebte an ihrem Mann vor allem die Uniform und nur den Soldaten. Sie blickte zu ihm auf wie zu einem höheren Wesen, und empfand seine Liebe als die grösste, ihr erwiesene Gnade. Diese Ehrfurcht wurde durch die halbadlige Abstammung und durch die kriegerischen Auszeichnungen des Mannes noch bedeutend vergrössert. Damit aber war ihre Stellung in der Ehe gegeben. Sie war die Magd und er der Herr. Die Ehe war eine schlechtere Ausgab der Liebschaft zwischem dem Baron und seinem Zimmermädchen, die zum Unglück mit einer Heirat endete. Unergründlich, wie die tiefsten Tiefen des Weltmeers ist das Leid, das die vielgeprüfte Frau in dem Martyrium einer vierunddreissigjährigen Ehe frommgeduldig ertrug. In ihren Händen allein lag die Erziehung der Kinder und später, als der Mann alles vertrank und vertat, auch die Ernährung der Familie. Vom frühen Morgen bis in die späte Nacht war sie unermüdlich tätig, durch den Betrieb einer Kuchenbäckerei das zum Unterhalt der Familie notwendige Geld zu verdienen. Und anstatt der Mann dazu beisteuerte, forderte er noch. Sie sollte ihm das Geld erarbeiten, das er in Gesellschaft mit Dirnen verprasste! Und als Entgelt Grobheiten, Skandale, Misshandlungen und Prügel. Wie viele Nächte wachte sie, in banger Angst und Sorge um das Leben und das Leben ihrer Kinder. Wie viele Nächte arbeitete sie, wenn die Stunden des Tages nicht langten. O tränenreichste, schmerzensreichste Dulderin deines Geschlechts! Wie oft habe ich nichts sehnlicher gewünscht, um mit kindlicher Liebe all das zu vergelten, das du in namenloser Liebe an uns und an mir getan. Ach, wie zu oft habe ich gewünscht, alle deine um mich geweinten Tränen von den geliebten Wangen zu küssen oder sie in Tränen glücklichster Freude zu verwandeln. Heute, da in stiller Einsamkeit die Erinnerungen früherer Zei-ten besonders lebendig in der Seele werden, heute fasse ich den Kopf mit beiden Händen und frage mich verzweifelnd „Wie war es möglich, das ich dich vergessen konnte? Wie war es möglich, dass ich mithelfen konnte, die ewig währende Mutterliebe zu bezweifeln und zu leugnen; zu der selbst der Richter des „Scheiterhaufen“ und „der Vater“ mit heiligem Schauer zurückkehrte? Wie vielmehr ich, der Dich Mutter nennt? Wie immer sich auch der Begriff Pflicht, Recht, Liebe ändern mag, in deinem Leid, o Mutter, in deinem Schmerz bis du unerreicht gross, jetzt und in alle Ewigkeit. Dem ersten Buben, meinem ältesten Bruder, schenkte sie das Leben, als ihr Mann als preussischer Soldat vor Paris stand. Er wurde das getreueste Ebenbild des Vaters, wie er Soldat, Spieler und Trinker. Da er bereits dreissig Jahre alt war, als ich geboren wurde und nur selten zum Besuch bei uns weilte, hat er keinerlei Einfluss auf mein Leben ausgeübt. Seit mehr als zehn Jahren hat überhaupt jeder Verkehr zwischen uns aufgehört. Ihm folgte nur einige Jahre später meine Schwester, in der sich die Eigenschaften von Vater und Mutter mischten. Besass sie von Vater den unbeugsamen Willen und den frischen Unternehmungsgeist, dann von der Mutter die Kraft zu schwerer und dauernder Arbeit. Ihr Leben war noch dornenvoller als das der Mutter. Wegen ihrer Liebe von zu Hause verstoßen, heiratete sie einen Menschen, der nach wenigen Jahren sich in der Trunkenheit verlor. Nach der Scheidung behielt sie nicht viel mehr als ihre sechs oder sieben Kinder. Sie heiratete wieder, einen Witwer, ebenfalls mit mehreren Kindern und seit jener Zeit habe ich nie mehr etwas von ihr gehört. Der dritte Sprössling war wieder ein Bube, der 1882 geboren wurde. Er glich in allen Zügen der Mutter. Mit ihm war ich am läng-sten in Verbindung und wechsle heute mitunter noch Briefe. Trotzdem er später mein Vormund wurde, habe doch ich auf ihn den grösseren Einfluss ausgeübt als er auf mich und ihn sowohl der Partei wie der Gewerkschaft zugeführt. Mit seiner Geburt glaubte die damals zweiundvierzigjährige Frau ihre Pflicht als Mutter erfüllt zu haben. Eine besondere Freude wird die mit schwerer Arbeit überbürdete Frau nicht empfunden haben, als sie sich Anfang 1889 nochmals Mutter fühlte und Segenswünsche waren es sicher keine, mit dem der Vater das frohe Ereignis begrüsste. Am 14. August wurde ich geboren.
Die ersten Eindrücke
=================
Das erste Gefühl, das mich beherrschte und auf das ich mich heute noch erinnern kann, war bange Furcht. Der Ruf „Vater kommt“ erschreckte mich auf das tiefste und vor Angst wusste ich nicht, soll ich mich verstecken oder stehen bleiben. Soweit ich mich erinnere und so oft ich noch die gemeinsam mit ihm verlebten fünfzehn Jahre an mir vorüberziehen lasse, nicht auf ein liebevolles oder zärtliches Wort kann ich mich von ihm besinnen. Zum Glück war der Vater selten zu Hause, mitunter sah ich ihn wochenlang nicht, dann weilte er auf Jagden und Vergnügungsreisen. Damals bewohnten wir eine Etagenwohnung eines mittelgrossen Hauses in der damaligen Hauptstrasse von Erfurt. Rechts die Tür vom Hauseingang führte in den Laden, den die gute Mutter zu Ernährung der Familie betrieb, links die Tür in das Heiligtum, das wir Kinder nie oder nur selten betreten durften, in das Zimmer des Vaters. Es war das best eingerichtetste der ganzen Wohnung. Hinter dem Laden befand sich das Wohn- und daran anschliessend das Schlafzimmer. Die Küche und der Backraum waren hinter des Vaters Zimmer. Die Stuben waren niedrig und dunkel, das Haus schon alt. Das Töchterchen einer Nachbarfamilie, wie ich später erfuhr, des sozialdem. Reichstagsabgeordneten R. war meine erste Spiel-gefährtin, auf die ich mich erinnern kann. Besonders liebte ich die Spiele, wo ich predigen konnte – Hochzeits – Beerdigungs- u.s.w.. Ich bin, trotz Strindbergs “Damaskus“ und “Inferno“ zu viel Atheist um in all diesem den weisenden Finger einer höheren Macht oder des Schicksals zu sehen. Aber ein leises Gefühl stillen Glücks überfällt mich doch, wenn vor mir der dreijährige, kleine Knirbs mit dem ausgestopften Bauch und der Mutterschürtze auf dem Stuhle steht, um der nach grausamem (n) Schmerzenslager gestorbenen Puppe die Beerdigungsrede zu halten. Ja, damals. – Die treueste Pflegerin wurde mir, da die Mutter vor allzustrenger Arbeit keine Zeit fand, meine Schwester. Und das dürfte auch die Ursache sein, warum ich mich später in schmerzlichster Sehnsucht mehr nach einer Schwester sehnte, als nach der Mutter, um in dessen Schoss mein Haupt zu bergen und alles Leid und alle Schmerzen der Seele auszuweinen. Und namenlos glücklich fühlte ich mich, als mein Wunsch in Erfüllung ging und das beste Mädchen meine Kameradin, meine Freundin und meine Schwester wurde. Frühzeitig wurde alles getan, um mir die gleiche Begeisterung für das Soldatenleben zu erwecken, die die ganze Familie dafür hegte. Bleisoldaten, Festungen, Gewehr, Säbel, Trommel und dergleichen war mein erstes und einziges Spielzeug. Erst dreijährig, schickte mein älterer Bruder, der damals als Unteroffizier in Gotha weilte, mir eine Soldatenuniform. Mit diesem Kleid lief ich nun Tag für Tag durch die Strassen und die Familienmitglieder waren nicht wenig stolz, wenn das stramme Salutieren des kleinen Knirbses von den Soldaten und Polizisten lächelnd erwidert wurde. Am glücklichsten zeigt sich daron stets meine Mutter. Die arme Frau. Selbst das dreissigjährige Martyrium unter einem waschechten Soldaten und Krieger, wie es mein Vater war, mit all den scheusslichen Erniedrigungen, Leiden, Qualen und Misshandlungen, konnte bei ihr die Begeisterung für das bunte Tuch nicht schwächen. Alle ihre Buben, das war ausgemacht, mussten stramme Soldaten werden und wie der Aeltestes zwölf Jahre dienen. Auf dem Sterbebett war es ihr letzter Wunsch, den “Willy“ nochmals als Soldaten zu sehen“. Und so wurde ich angekleidet mit der Uniform, den Helm auf gesetzt und den Säbel umgeschnallt und an das Bett der Sterbenden gebracht. Die arme Mutter. Hätte sie geahnt, welche ganz andere Wege später ihr Jüngster zu gehen bestimmt war. Zu stark wurzelte das Vorurteil in ihrer Seele, zu mächtig wirkte die an der Mutterbrust begonnene Erziehung und die landesübliche Gewohnheit und eine fast klösterliche Abgeschlossenheit tut das seinige, um die Ideen und Anschauungen des Bauernmädchens zu konservieren. Nach der Mutter Tod wurde die Bäckerei aufgegeben, die Schwester verliess uns und der Vater, der damals 11 jährige Bruder H. und ich zogen in eine kleinere und bescheidenere Wohnung. Aber nicht lange. Mein Vater macht bald eine gute Partie und heiratete eine Witwe mit cirka 20.000 Mark Vermögen. Mit dem Geld erwarb er eine Gastwirtschaft in einem Dorf in der Nähe von Weimar. Die Stiefmutter war ein geistig etwas beschränktes Wesen und die Behandlung und Prügel, die sie gleich meiner Mutter von meinem Vater erhielt, trugen nicht dazu bei, ihre Intelligenz zu schärfen. Ihr fehlte jede Liebe zu dem Mann wie zu uns. Die Misshandlungen seitens des Mannes quittierte sie durch Lügen und kleine Intrigen und die magere Kost verbesserte sie durch Naschereien. Mit uns schimpfte sie den ganzen Tag, sodass wir schon nach kurzer Zeit sie nicht mehr ernst nahmen. Von einem Familienleben konnte jetzt noch weniger wie früher die Rede sein. Wenn ich heute, in den stillen und langen Nächten, die ich in einer Zelle der Polizeikaserene Zürichs, die mich immer an eine zur inneren Einkehr mahnende Klosterzelle erinnert- durchlebe und alle Stunden meiner frühesten Kindheit vor mir vorüberziehen lasse, dann kommt es mir immer deutlicher zum Bewußtsein, dass die Wurzeln meines Wesens, meiner Leidenschaft, meiner Symphatien und Antipathien, bis in diese entfernte Tage reichen. Der Eckel und Schreck gleichzeitig erregende betrunkene Gestalt meines Vaters flösste mir einen tiefen, unüberwindlichen Abscheu gegen alle alkoholischen Getränke ein. Und während meine Schulkameraden mir Kreisel, Peitsche und alle ihre Herrlichkeiten anboten, wenn ich ihnen heimlich zu einem Glas Bier oder einem Gläschen Likör verhalf, konnte ich bei besten Willen nie einen Schluck von diesem Zeug über die Lippen bringen. Aus gleicher Ursache verabscheute ich jedes Zeichen von Roheit und Brutalität. Der plötzliche Verlust zweier mich pflegender Frauen, meiner Mutter und Schwester, dem bald derjenige meines Bruders folgte, raubte mir jede Pflege des kindlichen Gemüts, jede tröstende Zärtlichkeit und helfende Liebe. Aber der Keim zu etwas weichem, zarten, liebreichen war gelegt und drängte immer und immer wieder zu einer Aeusserung. Je mehr und je länger ich jede zärtliche und liebevolle Pflege entbehren musste, immer grösser wuchs sie, immer schmerzlicher empfand ich jedes harte und böse Wort. Menschen hatte ich keine, die ich lieben konnte und die mich lieb-ten. Da flüchtete ich mich zu den Pflanzen und Tieren. Mit ihnen lebte ich, mit ihnen wuchs ich auf und ihnen liess ich die ganze Zärtlichkeit meiner Kindesseele angedeihen. Als ein Hund erschossen werden musste, den wir über 4 Jahre hatten, weinte ich tagelang und wollte mit ihm in die Grube. Damals war ich zehn Jahre alt. Das schrecklichste für mich war es, als ich als 13 Jähriger jungen Tauben die Köpfe abreissen sollte. Trotz allen Drohungen des Vaters konnte ich vor Weinen und Rührung seinen Befehlen nicht nachkommen. Wohl nahm ich die Taube in die Hand, aber ein Blick in ihre kleinen, flehenden Augen machte mich bis auf das innerste erschaudern. Ja, noch später, wo ich schon Mitglied der “revolutionären“ Schuldemokratie war, konnte mich eine Diskusssion so mitnehmen, dass ich Nächte lang weinte und und direkte Weinkrämpfe bekam. Geschlagen zu werden war für mich das schlimmste, fürchterlichste Unglück, das mich treffen konnte und ich war entschlossen, gleich dem Helden in meiner dramatischen Szene “Jung-Volk“, eher zu sterben als eine körperliche Züchtigung zu ertragen. Schlagen konnte ich nie. Diese fast mädchenhafte Weichheit ist mir umso unerklärlicher, als ich schon recht früh eine Masse Indianerbücher und Räubergeschichten lass, die doch sich nicht dazu angetan waren, diese Zartheit und Empfindlichkeit zu fördern. Heute noch kann das Leiden eines Anderen oder eine gewisse Naturstimmung, ja schon ein Bild oder ein Lied in meiner Seele die zartestes und weicheste Regung erwecken, die ich dann stammelnd in Verse auszudrücken suche. Der seit der frühesten Kindheit ungestillte Drang nach Liebe und zärtlicher Pflege lebt heute in unverminderter Stärke in mir und ist der stärkste Trieb, der mir die Feder in die Hand drückt. Auf die ersten Eindrücke in meiner Kindheit führe ich auch meine Antipathie gegen alles, was mit dem Militär in Zusammenhang steht, zurück. Für mich war jahrelang ein Soldat und ein betrunkener Raufbold ein und dasselbe. Ich hatte zu Hause einen zu guten Anschauungsunterricht genossen. In jedem uniformierten Menschen sah ich etwas von einem Henker. Durch das Studium wissenschaftlicher Untersuchungen, hauptsächlich einer Menge volkswirtschaftlicher Leh-ren, trat später an Stelle der gefühlsmässigen Abneigung gegen das Militärwesen mehr die bewußte Wertschätzung über die Rolle des Militärs im heutigen Staat. Trotzdem befürchte ich, dass, vielleicht unbewußt, auch heute noch die aus den ersten Eindrücken resultierte gefühlsmässige Antipathie nachwirkt. Kein Buch und keine Lehre und auch kein Resultat wissenschaftlicher Forschung wirkt ja so nachhaltig und tief auf uns, wie gefühlsmässig erworbene Eindrücke persönlichen Erlebens. Diese Erkenntnis ist es auch gewesen, die mich in den letzten Jahren auf eine Aende-rung der Unterrichtsmethode in der sozialistischen Bildungsarbeit drängen liess. An Stelle des toten Unterrichts abstrakter und theoretischer Begriffe sollte mehr und mehr die Erwerbung sozia-listischer Erkenntnisse auf dem Wege gefühlsmässiger eigener Er-lebnisse der zu Bildenden geschehen. Das, was heute zufällig geschieht, muss zu einer Lehrmethode ausgebaut werden. Ich verhele mir nicht die imanenten Schwierigkeiten, die einer völligen Lösung dieses Problems harren, aber es muss gelöst werden, soll die sozialistische Bewegung mehr als Parteisache, zu einer wirklichen Volks- und Kulturbewegung werden. Recht früh äusserte sich bei mir der Drang zu organisieren. Als Vierjähriger liebte ich neben dem “predigen“ nichts so sehr als das Organisieren der gespielten Hochzeiten, Feste etc. Ich verteilte die Rollen, stellte die Mitspielenden auf, bezeichnete den Weg, baute den Altar und so weiter. Später arrangierte ich Indianer- und Räuberspiele oder auch Theaterszenen. Als 12 jähriger führte ich ohne Auftrag und Weisung eine vaterländische Feier durch, an dem das halbe Dorf und die gesamte Jugend teilnahm. Und noch bevor ich mit der sozialistischen Arbeiterbewegung in Berührung kam, betätigte ich mich an der Gründung von Theaters und Fussballklubs. Woher dieser Drang kommt, kann ich mir freilich nicht erklären. Am schlimmsten hatte ich unter dem Furchtgefühl zu leiden, das sich von Jahr zu Jahr steigerte. Vor allem wurde die Angst vor dem Vater riesengross. Während ich in der frühesten Kindheit mich nur vor seinen harten und bösen Worten und vor den Schlä-gen fürchtete, hatte die immerwährende Drohung mit dem “Aufschiessen“ es soweit gebracht, dass ich schon als 8 jähriger, meinem Vater zutraute, mich zu ermorden. Diese Angst wuchs ins Unermessliche, als er in jener Zeit meinen Bruder zu erschiessen versuchte, der, mit Hemd und Hosen bekleidet, sich nur durch einen Sprung aus dem ersten Stock unseres Hauses retten konnte. Heute presst es mir noch die Kehle zusammen, wenn ich daran denke, wie ich als 8 jähriger vor jedem Einschlafen betete “Lieber Gott, mach, dass mein Vater mich nicht totschiesst.“ – Das Lesen einer Menge Indianerbücher, Räuber- und Gespenstergeschichten verkleinerten natürlich diese Furcht nicht und übertrugen sie nur noch auf andere Erscheinungen. Ich fürchtete mich vor dem Blitz, dem Donner, der Dunkelheit, vor hundert eingebildeten Gestalten, die meine gereizte Phantasie schuf, vor etwas grossem Unbekannten, vor dem Schicksal, vor Gott. Es hat lange, lange gedauert bis ich diese Furcht überwun-den hatte und ich jauchzend und durch ein inneres Kraftgefühl glücklich, in dunkelster Nacht durch die schwersten Gewitter wan-derte. Bei allem qualvollem, das mir die Angst bereitete, verdanke ich ihr doch viel. Aus Angst habe ich, bevor ich die moralische und sittliche Kraft kannte, das Schlechte gemieden und das Gute getan. Zu den nützlichen Eigenschaften, die ich der Kindheit verdanke, gehört ein stark entwickeltes Selbstständigkeitsgefühl. Das kommt wohl daher, dass sich nach dem Tod meiner Mutter eigentlich Niemand mehr um mich bekümmerte. Niemand beaufsichtigte oder half mir bei meinen Schulaufgaben, erkundigte sich nach meinem Wohlergehen, Niemand nahm sich meiner an. Hatte ich etwas getan oder nicht getan, was des Vaters Zorn reizte, bekam ich eine gute Portion Prügel und ging, wie stets, weiter meine eigene Wege. Ich glaube nicht an ein das Leben bestimmendes Schicksal und noch weniger an eine göttliche Vorsehung, wenn ich aber meine ersten Lebensjahre zergliedere und analysiere, komme ich doch zu der Ueberzeugung, das die mitunter unbewußt empfangenen Eindrücke und vor allem die der frühesten Jugend einen starken Einfluss auf unser Gefühls- und Seelenleben ausüben und so doch indirekt unser Leben mitbestimmen.
Die Schulzeit.
===========
Meine Schulbildung wurde durch einen häufigen Wohnungs-wechsel der Familie sehr erschwert. Im ganzen besuchte ich an acht Orten, meistens kleinen Bauerndörfern, die Schule. Der dort gebotene Unterricht war mehr als dürftig. Die Hauptsache war Religion und dieser Unterricht beschränkte sich auf das Auswendiglernen von Bibelsprüchen und Gesangbuchversen. In der Geographie kam man über das Herzogtum Gotha nicht hinaus. Die ganze Jämmerlichkeit der sonst so hoch gelobten deutschen Volksschule wird recht treffend durch folgenden Vorfall gezeichnet, der sich in einem Dorf in der Nähe unserers Wohnortes zutrug. In einer Gemeindeversammlung stellte der Lehrer den Antrag, eine Karte von Europa anzuschaffen. Da steht ein biederes Bäuerlein auf und sagt “Wozu brauchen wir eine Karte von Europa, dorthin kommt doch keiner von uns!“ Meine schwächsten Seiten in der Schule waren Singen, Schönschreiben und Turnen. In diesen drei Fächern wurde ich nie Meister, während ich im Rechnen, im Aufsatz, in Geschichte etc. stets eine gute Note errang. Eine besonders qualvolle Zeit war es für mich, als der Vater plötzlich den Einfall bekommt, ich müsse Klavierspielen lernen. Jedenfalls versprach er sich durch etwas Musik in der Wirtschaft einen besseren Besuch, das Unglück aber war, dass ich absolut kein Talent und noch weniger Lust zum Musiker hatte. Dazu kam die Pferdekur meines Vaters, um mir dieses beide fehlende beizu-bringen. Mitunter musste ich 6. 7 und noch mehr Stunden am Kla-vier sitzen und ohne Pause spielen. Diese Tortur wurde dadurch nicht angenehmer, das ich begreiflicherweise im Anfang nur weni-ge Accorde spielen konnte. Ueber ein Jahr dauerte die Qual. Ich hatte es soweit gebracht, das Lied, “Guter Mond du gehst so stille“ – spielen zu können. Wieder musste ich eines Tages mehrere Stunden ununterbrochen spielen ohne Aussicht, erlöst zu werden. Der Vater hockte wie gewöhnlich berauscht auf seinem Stuhl. Im Vertrauen auf den Rausch erwiderte ich, als er frug, was ich spiele, den “Torgauer Marsch“. Das war sein Lieblingsstück und ich hoffte damit los zu kommen. Sei es aber nun, dass er nicht genügend berauscht war und die Töne noch unterscheiden konnte oder war ihm der Marsch so bekannt, dass er ihn auch im ärgsten Rausch unterscheiden konnte, auf alle Fälle erkannte er meine Lüge. Die Folge war ein Mordslärm, eine tüchtige Tracht Prügel. Im Eifer hieb er mit der Kette, die diesmal zur Züchtigung diente, in der eine damals noch üblichen Petroleumlampen, die dabei in Scher-ben ging. Eine neue Ursache, die Prügelei fortzusetzen: “Wegen Dir Lump muss ich eine neue Lampe kaufen“, rief er aus und Schlag folgte auf Schlag. Schliesslich holte er einen Strick, einen guten, neuen Strick, und forderte mich auf, mich aufzuhängen. Wenn ich am andern Tag noch lebte, würde er mich totschlagen. Ich nahm den Strick und ging nach dem Boden mit festem Vorsatz, dem Verlangen nachzukommen. Denn nie wäre es mir eingefallen, den Befehlen meines Vaters zu trotzen oder mich zu widersetzen.Freudige Gefühle freilich waren es keine, die mich bewegten. Ich dachte an den Schulausflug der bald sein sollte, und verschiedene Gespiele und Kameraden, an meinen Bruder und ganz zart und schwach noch an die verstorbene Mutter und die ersten Kindheits-tage und schlief dabei mit dem Strick in der Hand ein. So fand mich meine Stiefmutter und damit endeten meine musikalischen Studien. Eine besondere Quälerei war für mich auch die Beschaffung der nötigen Lehr- und Lernbücher. Derselbe Mann, der tausende für Jagden und seine Leidenschaften ausgab, liess mich mehrmals um 10 Pfenning für ein Schreibheft bitten und machte den grössten Skandal, bevor er sie gab. Darunter litt ich schrecklich. Ebenso unter den zerrissenen Kleidern und zu grossen Schuhen, mit denen ich zur Schule musste. Ich war oft das Gespött der übrigen Kinder. Ein alter Rock des Vaters, der mir fast bis auf die Schuhe reichte, trug mit den Spitznamen “Schwenko“ ein. Vor der Konfirmation fieberte ich geradezu und dachte an Selbstmord, da ich keinen Anzug und keinen Kragen bekommen sollte. Schliess-lich legte ich einen Kragen meines Vaters an, der mindest 55 cm hatte, während mein Hals höchstens 35 war. Ich half mir, indem ich in die Mitte des Kragens ein Loch schnitt und den Kragen ander-thalbmal um den Hals legte. Was litt ich nicht allein an diesem Tag. Vor Scham drohte ich zu ersticken. Unzählig sind die Leiden, denen ich als Kind ausgesetzt war. Mitten in der Nacht, wenn der letzte Gast die Wirtschaft verlassen, weckte mich mein Vater und zwang mich, nur mit dem Hemd bekleidet, die Gläser und Flaschen zu putzen. Er war betrunken und konnte nicht unterscheiden, ob ein Glas geputzt oder ungeputzt war und so musste ich Gläser vier, fünf und noch mehrmals reinigen. Ein Glück, wenn er so betrunken war, dass er bald einschlief, dann stahl ich mich leise davon, zurück in das Bett und weinte bitterlich. Ich war noch nicht zehn Jahre, da weihte mich der Betrunkene mit den schmutzigsten Zoten in die Geheimnisse des Ehelebens ein und führte in meinem Beisein die eindeutigsten Griffe an dem Körper meiner Stiefmutter aus. Das Blut schoss mir in die Wangen und ich verbarg den glühenden Kopf hinter einem Zeitungsblatt. Er riss es weg, ein echter Wirtssohn muss alles wissen und du bist alt genug dafür“, schrie er dazu. Selbst wenn der Lehrer und Pfarrer als Gäste daweilten scheute er sich nicht, die dreckigsten Zoten zum Besten zu geben. Und nur die dringlichsten Vorstellungen dieser Männer brachten in soweit, dass ich dann das Zimmer verlassen durfte. Von allen zehn Geboten schien mir zuerst das vierte für unwahr und unrichtig. Wie konnte ich einen Vater ehren und lieben, der sich schlimmer und schmutziger als ein Tier benahm? Hier setzten zuerst meine Zweifel an der Richtigkeit der göttlichen Ge-bote und Gesetze ein. Als Zehnjähriger musste ich mitunter schon selbstständig die Wirtschaft leiten. Der Vater war auf der Jagd und die Stief-mutter klatschte in der Nachbarschaft. Ich bediente die Gäste, spielte mit ihnen Karten und politisierte wie ein Alter. Die Berichte über die Reichstagsverhandlungen war mir das erste, was ich regelmässig las und verfolgte. Und damals erregte der Burenkrieg alle Gemüter auf das heftigste. Ich war Feuer und Flamme für die Buren und verteidigte sie in der Wirtschaft genau so tapfer wie in der Schule gegen die Kameraden. Ich fraternisierte direkt und erfand selbst Geschichten, um den Mut und die Tapferkeit der Buren im hellsten und herrlichsten Licht erstrahlen zu lassen. Ja, ich traf sogar Vorbereitungen auszuwandern und ihnen zu helfen. Deshalb schnitt ich das Futter meines Rockes auf und füllte diesen mit Proviant. Das wurde entdeckt bevor ich ab-reisen konnte und die Folge war natürlich eine tüchtige Tracht Prügel, umso mehr, als ich nicht die schlechteste Wurst gewählt hatte. Meiner Begeisterung für die Buren tat das aber keine Einbusse. Wie früher, so summte ich auch danach noch während des ganzen Tages “Die dreifarbige Fahne für s Transvaaler-Land, auf Buren beschützt sie Gwehr in der Hand.“ Eine ähnliche grosse Begeisterung erlebte ich erst 1905 wieder und zwar für die russische Revolution. Damals kaufte ich mir eine Schrotpistole für 2,50 Mark und wollte allen Ernstes nach Petersburg, den Zaren töten. Meine Freunde hatten nicht wenig Mühe, mich von dem verrückten Gedanken abzubringen. Ein Lichtschimmer in das tägliche Grau meiner Kindheit schaffte mir die Freundschaft mit einem gleichalterigen Schulkameraden, dem Sohn begüterter Bauern. Bei ihm brachte ich jede Stunde freie Zeit zu. Wir fuhren auf das Land, trieben uns im Stall und in der Scheune herum, rauften, spielten, assen Beeren und Aepfel, wenn sie reif waren, mitunter auch schon vorher. Am liebsten aber zogen wie auf die Jagd, bewaffnet mit Pfeil und Bogen. Ein toter Rabe oder eine andere Tierleiche, die wir fandenm, wurden als stolze Trophäen des Jagdzuges heimgebracht. Einmal erschreckte uns eine Hase, der jäh aufsprang, fast bis zum Tode. “Das war kein richtiger Hase, das war ein wilder Hase“ – versuchten wir unsere Angst zu entschuldigen. – Ich war noch nicht 13 jahre, da hatte der Vater nicht nur den Verdienst der vielen Jahre und die erheirateten 20000 Mark verlumpt, sondern auch noch obendrein Schulden gemacht. Die Familie war gezwungen, die Wirtschaft aufzugeben. Der Vater zog in die Stadt zur Miete. Jetzt begann die traurigste Zeit meiner Kindheit. Arbeiten konnte der Vater nicht, hatte es nie gelernt und so lebte die Familie von dem Verdienst der Stiefmutter, den diese als Waschfrau verdiente und das war kläglich genug. Die entbehrlichsten Möbelstücke wurden gerichtlich beschlagnahmt und zwangsweise verkauft. ich wagte nicht mehr mich satt zu essen und würgte an den wenigen Bisse, die ich mir zu nehmen getraute. Dazu kam, dass ich nun, das letzte Jahr in die Stadtschule musste, wo ich mit meiner sechsjährigen Dorfschulbildung gerade keine beineidenswerte Rolle spielte. Ich gab mir redlich Mühe, nachzukommen und einigermassen zu folgen und bis zu einem gewissen Grad ist mir das auch gelungen. Dieses letzte Schuljahr gehörte zu jenen, in welchem ich am meisten profitierte. Aber eine Szene bleibt mir unvergesslich. Wir hatten Religions-stunde, plötzlich krachte ein Schuss. Alles horcht auf, wer ist das gewesen? Der Lehrer ist wütend. Niemand meldet sich. Jeder Einzelne wird streng und aufs Gewissen gefragt. Niemand bekennt. Es beginnt eine peinliche Untersuchung. Bei mir wird eine Pistole, aber kein Pulverblättchen gefunden. Der Lehrer brüllt mich an, “Gestehe, Du bis es gewesen“. Der Wahrheit entsprechend sage ich nein. Da meldet sich ein Schüler und erzählt, dass ich noch gestern Pulverblättchen gehabt hätte, ich gebe das zu, sage aber, dass ich diese gestern alle beim Spiel verbraucht. Der Lehrer glaubt das nicht. Ich muss mich überlegen und der Lehrer haut los. “Gestehst Du nun, bist du es gewesen“ – frägt er nach einer Pause. “Nein“, schrie ich. Er prügelte weiter. “Bist Du es gewesen?“ – Nein. “Gestehe oder ich schlage eine halbe Stunde“. – Ich war es nicht. Der Lehrer lässt von mir ab. Ich hatte mich bereits damit abgefunden, eine halbe Stunde Prügel zu bekommen, aber um keinen Preis in der Welt hätte ich etwas zugegeben, was ich nicht getan hatte. Der Lehrer war sonst gerecht und ich kam gut mit ihm aus. Verdienter war eine Züchtigung, die ich bei einer anderen Gelegenheit erhielt. Das Schreiben war immer noch mein Steckenpferd und fast täglich mussten wir Aufsätze zu Hause schreiben. Jeden Tag kam dann der oder jener daran, seinen Aufsatz vorzu-lesen. Bei dieser Gelegenheit verstand ich es vortrefflich, mich klein zu machen und kam nie daran. Das Glück machte mich kühn. Ich schrieb nie mehr einen Aufsatz. Da, eines Tages, brach das Verhängnis über mich herein. “Aufsatzhefte vor“ M. lese deinen vor“. Das war leichter verlangt als getan. Zum Glück hatte ich Geistesgegenwart genug und erzählte, die Augen auf das Heft gerichtet, frech eine Geschichte. Der Lehrer schwieg und schon glaubte ich mich gerettet. Da plötzlich “Münzenberg bring mir mal dein Buch vor“. Die Schandtat wurde entdeckt und die Strafe folgte der Sünde auf dem Fusse. Uebrigens war das Jahr unter den gereiften und erfahrernen Stadtburschen von heilsamen Einfluss auf meine Schüchternheit. Wenn ich sie auch nicht völlig verlor, so wurde sie doch stark gemildert. Ein um so grösserer Nachteil waren für mich die Unmenge Indianer- und Räuberhefte, deren Inhalt ich geradezu verschlang. Ausser hunderten von Indianerbüchern hatte ich 100 Hefte Buffalo Bill, 100 Hefte “Räuberhauptmann Fetzer“, 100 Hefte “Der Königsmord in Belgrad“, 100 Hefte “Lebendig begraben“ und eine Masse ähnlichen Schund gelesen. Ueberhaupt war ich in den letzten Schuljahren und in den ersten Jahren nach der Schulentlassung direkt wie versessen auf das Lesen. Ich las alles was mir in die Hände kam, und schleppte alles, was ich gedrucktes fand, nach Hause. Alte Fahrpläne, Kataloge, Schulbücher, Kalender, Zeitungen, Indianerhefte, wissenschaftliche Bücher, von denen ich keinen Deut verstand, alles, alles wurde zusammen-gefasst. Vor meinem Vater verbarg ich die Schätze geschickt, meine Stiefmutter tobte und prophezeite mir, das mich das Zeug an den Galgen bringe. Die unwahren, abenteuerlichen Geschichten raubten mir jeden Sinn für die Wirklichkeit. Nachts lag ich wach und träumte vor allen möglichen Heldentaten und wünschte mir nichts sehnlichster, als ein Haus voll Bücher. In den glühendsten Farben malte sich meine Phantasie die damit möglichen Genüsse aus. Die Frage meines Vaters, was ich nun werden wollte, traf mich ein kalter Wasserstrahl. Daran hatte ich freilich nie gedacht. Lesen, das war mein einziger Wunsch, sonst wusste ich nichts und verlangte nichts. Der Vater enthob mich weiteren Sorgen und be-stimmte, das ich Coiffeur werden sollte. Mir war es recht, weil mir alles gleich war.
In der Lehre
===========
Eine Lehrstelle hatte mein Vater bei einem Bekannten bald gefunden. Der Meister glich meinem Vater fast aufs Haar und zwar nicht körperlich, auch in seinem Wesen und Betragen. Wie mein Vater, so trank der Meister, wenn auch nicht gar so viel und war genau wie mein Vater ein alter Zünftler und Erzreaktionär, für den die Erinnerungen an das Soldatenleben der einzige Stolz war, der sich in der dümmsten und lächerlichsten Weise äusserte. Das Geschäft ging gut und ausser dem Meister und mir waren zwei Gehilfen und ein weiterer Lehrling beschäftigt. Die ersten Tage gefielen mir nicht übel und ich beschloss zu bleiben. Mein Vater hatte unterdessen das Glück noch einmal versucht und ohne Geld und Kapital eine Wirtschaft gepachtet. Bei dem Einzug fehlte es ihm an dem Notwendigsten. Das Bier schickte die Brauerei auf Borg, und ein mitleidiger Kaufmann lieh die wichtigsten Lebensmittel. Ohne eine Mark Geld in der Tasche wurde die Wirtschaft übernommen. Wie gesagt, an Unternehmungsgeist fehlte es dem Alten nicht. Wir hatten es abgelehnt, dass ich bei dem Meister Wohnung nehme und so maschierte ich alle Morgen den halbstündigen Weg nach der Stadt und am Abend zurück. Das war aber für mich ein Genuss und machte mir Spass. In der Lehre gefiel es mir aber je länger, je weniger. Vor allem eckelte mich die Unsauberkeit an. Das Frühstück und der Nachmittagskaffee wurden in einer Ecke des Ladens genommen, wo Haararbeiten verrichtet wurden. Die Fett- oder Butterbrote mussten dann immer erst von Haaren gesäubert werden. Auch die Liebdienerei gegen die Kunden, das dienen und bücken behagte mir nicht. Der Meister war nervös und zumal bei starkem Besuch, meistens Samstags, gereizt. Der Laden war mit Kunden überfüllt und Meister und Gehülfen hatten alle Hände voll zu tun, der Meister bis zum äussersten geladen. Ich bemühte mich, so wenig zu stören wie nur möglich und zu helfen, wo ich nur konnte. Oeffnete die Türe, bot den Kunden Feuer an, räumte auf u.s.w. Aber bei aller Geschäftigkeit konnte ich ein gewisses Unbehagen nicht los werden, ich fühlte mich eigentlich recht überflüssig in dem Betrieb. Da schreit mich plötzlich der Meister an: “Geh heim, dummer Junge, wenn du nicht anderes kannst als Maulaffen feil halten“. Ich froh, auf eine so billige Art loszukommen, nahm flugs meinen Hut und verschwand, ohne grossen Abschied zu nehmen. Aber ich hatte noch nicht die rettende Haustüre erreicht, packt mich der Meister am Kragen “Was, das könnte Dir so passen. Dein alter Meister schuftet sich so tot und Du drückst dich. Hier bleibst Du“. Mit diesen Worten warf er mich in die Ecke, das mir alle Knochen knakten. Gehorsam blieb ich auf dem Stuhl wie festgenagelt sitzen und denke darüber nach, wie schwer doch eigentlich das Leben ist. Da befiehlt mir der Meister, ich soll heimgehen, ich beeile mich, seinem Befehl nachzukommen und nun – – – Meine Grübeleien werden vom Meister unterbrochen, der mich stürmisch empor reisst und mit den Wort “Du fauler Hund, willst Du nicht arbeiten“- nach vorn stösst und einige Ohrfeigen runter haut. Das Leben erscheint mir immer verwickelter und schwerer. Wie mans macht, ist es verkehrt. Die Arbeitszeit dauerte von morgens 6 bis abends ½ 9 Uhr, ohne Pause. Am Samstag bis 10 Uhr. Am schwersten fiel mir die Sonntagsarbeit, wo ich von 7. – 1 Uhr arbeiten musste. O, wie so gern wäre ich mit anderen Kameraden durch Feld und Wald gestreift und hätte so gern an ihren Wanderungen teilgenommen. Mir war es todestraurig zu Mute und ich weinte mitunter bitterlich. Und trotzdem hätte ich die Lehre durchgehalten, wenn wir nicht einen neuen Gehilfen bekommen hätten. Sein Vorgänger war freundlich zu mir und unterwies mich spielend in vielen Handgriffen unseres Berufes. Der Neue war jung, kaum ausgelernt und bildete sich wunder was ein, das er nun Stifte unter sich habe. Sein Benehmen forderte unsern Trotz heraus und den wollte er mit Schimpfereien und Schlägen bezwingen. Schlagen wollte ich mich aber auf keinen Fall mehr lassen, wir wurden handgemein und da er der bedeutend stärkere, unterlag ich stets. Er scheute vor keiner noch so rohen Handlung zurück. Das Zimmer war niedrig, vielleicht 2½ m. hoch, er nahm mich, stemmte mich gegen die Decke, dass der Kopf krachend gegen die Decke schlug. Dann wieder nahm er einen Stein und schlug mich damit auf den Kopf. Die Folge davon war eine Gehirnerschütterung und man brachte mich schleunigst ins Spital, die Aerzte zweifelten an meinem Aufkommen. Und ich überstand es doch. Am Tage meiner Entlassung bereitete mich der Arzt auf die schonenste Weise darauf vor, dass mein Vater – den ich nie vermisste – nicht mehr lebe. Am gleichen Tag, als ich in das Spital gebracht wurde, hatte er sich vollständig berauscht, erschossen. Ein anderer Ausweg war ihm nicht mehr geblieben. Der Bruder kam, um die Wirtschaft bis zum Konkurs, der uns das Letzte rauben sollte, zu leiten. Mir war die Lust am Coiffeurberuf gründlich vergangen und obendrein fehlten jetzt auch die Mittel, um das Lehrgeld zu zahlen. Ich blieb einige Zeit bei meinem Bruder in der Wirtschaft, ging dann auf Anraten meiner Schwester, die nach dem Tode des Vaters uns wieder besuchte, in eine Schuhfabrik. Damit begann eine neue Phase meines Lebens. Eine ganz neue, unbekannte Welt tat sich vor mir auf. Die letzte Verbindung mit der Familie war ge-löst. Ich stand allein, nur auf mich angewiesen aber nun allein auch Herr über mein Tun und Lassen. Damals zählte fünfzehn Jahre.
In der Fabrik
==========
Es war eine der grössten Fabriken am Orte, in die ich eintrat, sie beschäftige mehr als fünfzehnhundert Arbeiter. Ich wurde in der Zwickerei als Leistensortierer angestellt, d. h. ich musste mit einem kastenähnlichen Karren von einem Arbeiter zum anderen fahren und die nicht mehr nötigen Leisten sammeln, nach Regalen bringen und dort in bestimmte Fächer sortieren. Am ersten Tag war ich von dem Lärm und Kreischen der Maschinen, von dem Klopfen und Pochen der Hämmer und von den vielen Stimmen wie betäubt. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass ich mich jemals in diesem Betrieb zurecht finden könnte. Ich hatte tatsächlich im-mer Angst, mich zu verirren. Und es dauerte mehrere Tage bis ich mich einigermassen an den Lärm gewöhnt hatte. Die gleiche Arbeit wie ich verrichteten noch zehn gleichaltrige Burschen, das wurden nun meine Freunde. Mit ihnen sass ich zusammen während dem Frühstück, Mittag & Vesperbrot. Mit ihnen ging ich nach Hause und brachte später die Abende zu. Ihr Verkehr half mir dann auch am meisten, die Schüchternheit und die Angst, die ich noch nach Wochen in der Fabrik vor dem ungewohnten Leben und Treiben empfand, zu überwinden. Die älteren Arbeiter behandelten die jüngeren, mit wenigen Ausnahmen, grob und brutal. Die meisten verkehrten nicht anders als mit Schimpfwörter mit ihnen und manche misshandelten und warfen mit Leisten, Schuhen und anderen Gegenstände. Die Arbeit war nicht schwer, der Lohn im Anfang 4,50 Mark. Das war wenig, sehr wenig. 2 Mark musste ich pro Woche für Logis und Morgenkaffee zahlen, blieben mir noch 2,50 Mark für Nahrung, Kleidung und alle weiteren Ausgaben. Da hiess es sparen, wo dies möglich war. Am Morgen nahm ich etwas Kaffee & Brot, am Mittag leistete ich mir ein Stückchen Wurst dazu. Für 20 Pfennig Abfallwurst reicht mitunter für zwei Tage. Das gleiche Menü am Abend. Von einem Bedürfnis nach geistiger Nahrung hatte ich damals zum Glück noch keine Ahnung, sonst hätte ich jene Jahre wohl kaum überlebt. Die ersten Jahre in der Fabrik verbringe ich wie in einem Dämmerzustand, ein Tag reiht sich in gleicher Eintönigkeit und im gleichen Grau an den anderen. Am Morgen haste ich in Gemeinschaft mit vielen hunderten nach der Fabrik, am Abend müde nach Hause. Nie kommt mir der Gedanke, ja, ich glaube, sogar nie der Wunsch, dass es anders sein könnte, einmal anders werden. Ich sehe weder Frühling, Sommer, Herbst, noch Winter, weder grüne Bäume, noch welkes Laub, höre kein Vogelsang, geschweige Musik oder Konzert. Ich bin gefühls- und empfindungslos gleich den Maschinen geworden, die in der Fabrik sausen und und stampfen. Meine Welt ist mein Arbeitsplatz. Mein Einkommen vergrösserte sich etwas dadurch, dass ich für die Arbeiter Frühstück einkaufen gehe, dafür erhalte ich pro Woche 10 oder 15 Pfennig. Mitunter brachte ich es auf über 20 Kunden, die ich bedienen durfte. Der Lohn stieg langsam und erst nach mehreren Jahren hatte ich es auf 8 Mark gebracht. In Deutschland besteht der obligatorische Fortbildungsunterricht, den jeder Lehrling und junge Arbeiter bis zum 18. Lebensjahr be-suchen muss. Es wird etwas Rechnen, Schreiben, Buchhaltung und Vaterlandskunde gelehrt. Der Unterricht wir zwei Mal in der Woche nach der Arbeitszeit erteilt. Ich habe dabei wie wohl alle anderen Schüler auch, herzlich wenig gelernt. Wir waren zum lernen zu müde und bemühten uns, den Lehrer zu verulken. Die Abende brachte ich mit meinen Arbeitskollegen zu. Wenn wir nicht Räuberhefte lasen, trieben wir uns in den Strassen herum und trieben lauter Dummheiten. Eine Zeit lang standen wir im Banne ein Schundromanes über die Freimauerer. Wir trafen Vorbereitungen, eine ähnliche geheimnisvolle Gesellschaft zu gründen, hockten in der finstersten Nacht in dunkeln Ecken und Abflusskanälen, zeichneten Totköpfe auf Arm und Brust, beschlos-sen Blutbrüderschaft zu trinken. Der Plan scheiterte, da wir kein passendes Getränk fanden, mit dem wir unser Blut trinken konnten. Bier und Limonade war uns doch zu prosaisch und für Wein hatten wir kein Geld. Auch trieben wir uns oft und gern in den Anlagen herum und erschreckten die Leute und belauschten und störten die Liebespäärchen. Ein nicht geringer Schreck fuhr mir anlässlich einer solchen Razzia durch die Glieder als ich im dichtesten Gebüsch auf eine Dirne stiess, die dort ihr horizontales Gewerbe betrieb und ihr Liebhaber, erbost über die Störung, mir drohte “das Messer in den Bauch zu stecken“. Einen Heidenspass machte es uns stets, Streichhölzer zu spitzen, diese zwischen den Druckknopf des elektrischen Läute-werkes in den Bordells zu stecken. Das Hölzchen wurde abgebrochen und dann läutete die Glocke zum Aerger der Einwohner und der Nachbarschaft stundenlang. Mehrmals besuchten wir auch die Versammlungen des christlichen Vereines junger Männer und die Veranstaltung eines vaterländischen Knabenhortes. Wir waren aber für diese frömmelde Unterhaltung zu gereift oder zu verdorben, wenn man will. Wir ärgerten den Lehrer und den Pfarrer und brachten Unruhe und stellten das ganze Programm in Frage. Teils blieben wir dann freiwillig weg, teils warf man uns hinaus. Da versuchten wir es mit der Heilsarmee, die in jenen Tagen ihr erstes Lokal eröffnet hatte. Dort sein ein Gaudium, versicherten mir meine Freunde und ich ging mit. Ich gestehe, dass mich die Gesänge und Gebete anfangs andächtig stimmten und mir recht beklommen zu Mute war. Das dauerte aber nicht lange. Als ich sah, wie die Betenden die schnödesten Witze unter den Bänken rissen und dort den Mädchen in die Beine kniffen, war es mit meiner Andacht vorüber. Es dauerte nicht lange, bis man uns auch da hinauswarf. Wir beschlossen jetzt, selbst einen Verein zu gründen. Ich wurde Präsident. Was wir eigentlich wollten, wusste keiner. Fidel und lustig sollte es zugehen. Wir spielten Karten, der Gewinn kam in die gemeinsame Kasse und wurde alle vier Wochen in Leberwurst und Bier angelegt. Daraus entwickelte sich dann ein Fußballklub. Eine Zeit lang hatten wir für nichts mehr Sinn als für das Fussballspielen. Dann wollte einer noch etwas lustigeres wie die Heilsarmee entdeckt haben, einen Verein, der sich “Propaganda“ nannte. Ein Name, den ich nie gehört hatte und den auszusprechen mir im An-fang viel Mühe machte. Dabei muss ich bemerken, das ich sehr schwer sprechen gelernt hab und bis zum zwölften Jahre stotterte. Ich vermutete hinter dem Namen etwas fremdes, geheimnisvolles und wir beschlossen, zu gehen, um Spass zu haben. Ich ahnte nicht, welche entscheidende Rolle der Verein in meinem Leben spielen sollte. Heute weiss ich, dass ich damals in der kritischen Phase meines Lebens stand, und das sich damals, unbewusst wie fast immer, sich mein Lebensschicksal entschied. So wechselreich auch später mein Leben wurde und so wechselreich es gerade heute zu werden droht, und so grosse und mein Wesen mitbestimmende Einflüsse auch in späteren Jahren auf mich einstürmten, im Verhältnis zu der damaligen Entscheidung sind sie unbedeutend und untergeordneter Natur. Unbewusst und ahnungslos kam ich durch das Aufsuchen des Vereins “Propaganda“mit jenem Sturm in Berührung, der stark genug war auf dem vollständig unvorbereiteten Boden später doch geistiges und seelisches Leben zu erwecken. Je älter wir wurden, umso weniger wollten wir uns damit begnügen, die Frauen zu ärgern und andere zu ihnen gehen zu sehen. Immer stärker wurde in uns der Drang, den geheimnisvollen Schleier zu lüften und jene Herrlichkeiten zu kosten, von den die ältern Arbeiter schwärmten und erzählten. Dazu kam das Leben in der Fabrik. Der Betrieb der Schuhfabrik bringt es mit sich, dass Frauen & Mädchen mit Männern und Burschen in einem Saal arbeiten. Die unzüchtigsten Reden wurden dann tagsüber gewechselt und die Witze waren schon nicht mehr derb, sondern zynisch, frech und gemein. Und die Frauen zahlten mit gleicher Münze und im gleichen Jargon heim, wie sie von den Männern behandelt wurden. Die Keuschen galten als Dummköpfe & Schwächlinge. Für uns Jugendlich war die Situation noch dadurch gefahrvoller, dass wir nach dem Gesetz das Frühstück und Vesperbrot ausserhalb es Arbeitsraumes einnehmen mussten. Bei schönem Wetter sassen wir im Strassengraben, bei schlechtem Wetter mussten wir uns in den Keller flüchten, wo stets ein gefährliches Halbdunkel herrschte. Mädchen und Burschen waren zusammen. Das musste natürlich die reine Treibhaustemperatur für geschlechtliche Reize geben und das Herumzerren und Pressen nahm dann auch kein Ende. Mit 17 Jahren, die meisten schon früher, hatte jeder seinen “Schatz“. Das heisst ein Mädchen, mit dem er von der Fabrik heimging, der er Samstags ein Stück Chocolade kaufte und am Sonntag in den Kino zu führen, um dann am Abend recht lange bei ihr in der Haustüre zu stehen und als Entgelt für das Gebotene sie zu küssen, zu pressen und wenn möglich, zu gebrauchen. Dieses Leben und Treiben ist so stark eingewurzelt, dass Jeder, der daran nicht teilnehmen will oder kann, als ein armer, bedauernswerter Kranker betrachtet und behandelt wird. Und die so leben, sind nicht einmal die niedrig stehensten. An eine Szene erinnere ich mich dabei jetzt, die ich bald nach meinem Eintritt in die Fabrik erlebte und über die dabei sich äussernde weibliche Roheit ich heute noch staune. Es war an einem Herbstag Abend, obschon nicht allzu spät, doch schon dunkel, als ich für den Meister einen Weg in einen anderen Saal besorgen sollte, dabei musste ich an dem Raum vorüber, wo die Leder- und Lumpenabfälle lagerten. Daraus hört ich ein ängstliches Wimmern, ich trat näher und sah, wie vier oder fünf ältere Mädchen einem 14 jährigen Burschen unter gellendem Lachen an dem Geschlechtsteil zerrten und rissen. – Natürlich stand nicht alle auf dieser Stufe, es gab wohl auch Ausnahmen, doch waren diese selten, sehr selten. Bis dahin, bis zu meiner Bekanntschaft mit dem Verein “Propagangda“ hatte mich ein gütiges Geschick vor dem Aeussersten bewahrt. Natürlich keine moralischen oder sittlichen Ewägungen, die waren mir so fremd wie böhmische Dörfer. Viel-leicht das Fehlen der Gelegenheit und die Erschwerung durch meine geringen Mittel, die mir nur kostenlose Vergnügen erlaubten. Dazu (auch) hat sich auch meine kleine, verhungerte Gestalt keine besonders grosse Anziehungskraft auf die Mädchen ausge-übt. Aber darüber bin ich mir heute klar, dass es so lange nicht mehr gegangen wäre. Ein Glück, hätte ich als satter Arbeiterspiesser geendet, aber bei meinem Temperament und meiner Leidenschaft dürfte es kaum glimpflich abgegangen sein.In diese kritischen Tage fällt meine erste Bekanntschaft mit dem Arbeiterbildungsverein “Propaganda“ und dadurch mit der sozialistischen Arbeiterbewegung.
Die erste Zeit in der Bewegung
=========================
Nach langerm Zögern und Zauderbn fassten wir, unserer vier oder fünf, endlich Mut und machten uns auf, den geheimnisvollen Verein “Propaganda“ zu besuchen. Aber am ersten Abend gelangten wir nur bis in die Wirtschaft, in deren oberen Räumen der Verein seine Versammlungen abhielt, dort sassen wir, klopften Karten und musterten scheu die Besucher, die nach dem oberen Saal stiegen. Nachzufolgen fehlte uns der Mut und wir kehrten unverrichteter Sache nach Hause zurück. Zum zweiten-mal, einige Wochen später, begleitete mich nur ein Kollege, den andern war die Lust vergangen. Diesmal nahm sich ein älterer Genosse, jedenfalls durch den Wirt aufmerksam gemacht, unserer an und wir folgten ihm nach oben. Dort waren zirka 15 bis 20 junge Männer im Alter von 23 – 35 Jahren versammelt, wir waren also bei weitem die Jüngsten. Die meisten waren Metall- und Schuhfabrikarbeiter. Was an jenem Abend ging und besprochen wurde, ist mir vollständig unklar geblieben. Als in heimging wusste ich vom Wesen und den Aufgaben des Vereins genau so viel, als vorher. Zwei oder drei weitere Besuche brachten mich ebenfalls nicht weiter, da verleidete auch mir die Sache und ich beschloss, wie der zu meinen alten Kameraden zurückzukehren. Da wurde ich krank und musste vier Wochen von der Arbeit fernbleiben. Während dieser Zeit besuchte mich mehrmals ein Mitglied des Vereins, brachte mir Bücher und Broschüren und wir plauderten. Jetzt war mein Interesse geweckt und sobald ich das Zimmer verlassen durfte, suchte ich die Genossen wieder auf und versäumte fernerhin keine Versammlung. Bald war mir nun auch der Zweck des Vereins klar. Der ungeheure wirtschaftliche Auf-stieg Deutschlands in den neunziger Jahren, der in überraschend kurzer Zeit Deutschland zu einem der ersten Industriestaaten und der Weltmächte der Erde machte, hatte eine nach Millionen zähl-ende Arbeiterschaft geschaffen. Die Fesseln des Sozialistengesetzes waren gefallen und die sozialdemokratischen Organisationen schossen wie Pilze nach einem warmen Regen aus der Er-de. Die Partei eilte von Erfolg zu Erfolg und errang in den Städten, an den Landtagen und im Reichstag Mandat um Mandat, die Stimmen ihrer Wähler zählte schon bei der Wahl 1903 nach Millionen. Diese Riesenerfolge verblüfften und die Sozialdemokratie, bis jetzt nur eine Partei der Kritik und der Negation, sah sich plötzlich vor die Aufgabe praktischer Mitarbeit gestellt. Bald wurde in der politischen Tagesarbeit und durch die Gegenwartsforderungen das grosse Endziel, die Vergesellschaftung der Produktionsmittel vergessen. Der Partei strömten eine Masse bürger-licher Elemente zu, hoffend, durch die schnell erstarkende Macht der Partei Amt und Einfluss zu gewinnen. Der Boden für den Revisionismus war vorbereitet und um die Wende des Jahrhunderts setzte dessen Propaganda kräftig ein. Der Gegenwartser-folg ist alles, der Glauben an eine proletarische Revolution roman-tische Hirngespinnste, das war die Losung. Da kam die russische Revolution und krachte wie ein Schlag ins [Auslassung in der Abschrift ](ins Kontor? ins Gesicht? ). Der Riesenstreik Millionen unorganisierter, die Eroberung Moskaus, die Meutereien der Schwarzseeflotte u. s. w. Die revisionistischen Ideen des westeuropäischen Proletariats verhinderten, dass dieses sich zu einer Solidaritätsaktion erhob und so der volle Sieg der russischen Arbeiter möglich machte. Dank der Ruhe der westeuropäischen Arbeiter eilte das französische Kapital dem bedrängten Zarismus zu Hilfe und Wilhelm II. stellte an der russischen Grenze Soldaten bereit, um, wenn nötig, mit Kriegsmacht dem bedrängtem Vetter auf dem Zarentron zur Hilfe zu eilen. So wurde die russische Revolution geschlagen. Aber ganz ohne Wirkung auf die Arbeiterbewegung Westeu-ropas sollte die russische Revolution doch nicht bleiben. Die radikalen und revolutionären Elemente wurden kräftig gestärkt und die Jüngsten unter ihnen in einen Taumel revolutionärer Begeisterung versetzt. Die Rosa Luxenburg, Karl Liebnecht, Mehring und andere machten Vorstoss um Vorstoss. forderten die Erziehung der Massen zu Massenstreiks und Massenkämpfen, die antimilitaristische Propaganda, Steigerung der sozialistische Bildungsarbeit u.s.w. in zahlreichen Städten gründeten sich Bildungsvereine, sowie Diskussionsklubs, wo sich die jüngste, lebendigsten und tatenlustigsten Arbeiter versammelten, um die Waffen zu schmieden, die sie im Kampfe gegen den bürgerlichen Gegner und gegen Revisionisten in der eigenen Partei benötigten. Eine solche Vereinigung war nun auch der Bildungsverein “Propaganda“ dessen jüngstes Mitglied. Die unverfänglichen Namen Bildungsvereine wurden gewählt, um der polizeilichen Anmeldung und Aufsicht zu entgehen. Nach dem alten preussischen Vereinsgesetz (aufgehoben 1907 durch das Reichsvereinsgesetz) musste jeder politische und gewerkschaftliche Verein seine Mitgliederliste und seine Statuten einreichen und alle Versammlungen waren polizeilich überwacht. Personen unter 18 Jahren durften keinem politischen Verein angehören. Natürlich wurde in unserem Verein, wie in allen ähnlichen, fast nur über politische und sozialistische Probleme gesprochen. Jedes Mitglied musste einmal einen Vortrag halten und darüber wurde dann diskutiert. War einmal ein Referent verhindert zu kommen oder zu sprechen, so wurde über irgend eine Frage diskutiert oder aus einem Buch vorgelesen. Das zwang zum Nachdenken und nahm gleichzeitig die Scheu vor einem grösseren Kreis Menschen seine Gedanken zu entwickeln. So war das Leben im Verein, als ich Mitglied wurde. Eine neue Erscheinung der Arbeiterbewegung um die Wende des Jahrhunderts war auch das Aufkommen von Jugendorganisationen. Vereine, die jugendliche Arbeiter und Arbeiterinnen im Alter von 14-20 Jahren zusammen fassten, um sie gegen die wirtschaftliche Ausbeutung zu schützen, sie auf Wanderungen zu führen, sie allgemein im speziellen sozialistisch zu bilden. Belgien und Holland besassen die ersten derartigen Organisationen. 1904 wurde der erste “Lehrlingsverein“ Deutschlands in Berlin und fast zu gleicher Zeit ein ähnlicher Verein in Mannheim gegründet. In unglaublich kurzer Zeit folgte die Gründung einer Menge Zweigvereine in vielen Städten Deutschlands. Auch auf diese junge Bewegung waren die heldenmütigen Kämpfe der sozialistischen Revolutionäre von förderlichstem Einfluss. 1906 fand in Stuttgart der erste internationale Kongress der sozialistischen Jugendorganisationen statt, der der ganzen Bewegung das Programm geben sollte. Die holländische Genossin Roland-Host sprach über die Bildungsaufgaben der sozialistischen Jugend und legte ihr Referat in Thesen nieder, die heute noch im Wesentlichsten als Richtschnur der Bildungsarbeit in den Jugendorganisationen dienen. Nach einem Referat des Gen. Müller, Wien, wurden internationale Forderungen für den wirtschaftlichen Schutz der Lehrlinge und jugendlichen Arbeiter aufgestellt. Liebknecht, der den Kongress als Präsident leitete, sprach über “Militarismus und Antimilitarismus“. Das Referat trug ihm später 1½ Jahr Zuchthaus ein. Es wurde beschlossen, eine feste internationale Organisation unter dem Namen “internationale Verbindung sozialistischer Jugendorganisationen“ zu gründen. Die deutschen Vereine traten wegen dem vorsintflutigen Vereinsgesetz nicht bei. Da die süddeutschen Staaten bis 1907 kein Vereinsgesetz kannten, schlossen sich die in Deutschland existierenden Vereine jugendlicher Arbeiter zu zwei grösseren Verbänden zusammen, “den Verband jugendlicher Arbeiter und Arbeiterinnen Deutschlands“ mit Sitz in Berlin. Dieser Verband zählt 1907 bereits 6000 Mitglieder und gab eine monatlich er-scheinende Zeitung “Die arbeitende Jugend“ aus. Die Vereine be-zeichneten sich als ausdrücklich politisch neutral, sonst hätten sie natürlich überhaupt nicht existieren können. Ebenfalls schlossen sich die süddeutschen Vereine zu einem Verband mit Sitz in Mannheim zusammen. Diese Vereine aber, nicht gehindert durch ein Vereinsgesetz, bezeichneten sich als so-zialistische Jugendvereine und in diesem Sinne war auch ihr Organ “Die junge Garde“ gehalten, deren Redakteur der damals noch jugendliche und stark revolutionäre Dr. Ludwig Frank war. Unser Bildungsverein “Propaganda“ stand nur mit Mannheim, natürlich in geheimen, in Verbindung. Wir bezogen regelmässig eine bestimmte Anzahl “Junge Garde“ und es macht mir die grösste Freude, diese unter der Hand weiter zu verkaufen. Ueberhaupt war ich wie von einem Propagandafieber überfallen und liess nicht nach, bis fast der letzte jugendliche Arbeiter meines Arbeitssaales sich als Mitglied unseres Vereins meldete und an unseren Versammlungen teilnahm. Einige Monate nach meinem Eintritt dominierte das jüngere Element und die über 20 jährigen waren in den Hintergrund gedrängt.
(Text: Vermutlich Willi (Wilhelm) Münzenberg März 1918? November 1918- Münzenberg im Schweizer Zuchthaus ist 29 Jahre alt) Das Dokument hat 9.742 Zeichen
Das ganze Dokument (mit Umschlagtexten) hat 10.013 Zeichen
Der Text muss mit einer Maschine geschrieben worden sein, die über keine Grossbuchstaben der Umlaute verfügte. Das habe ich so gelassen. Fehler habe ich nicht korrigiert, vielleicht ist es mir stattdessen gelungen, einige Fehler neu in dem Text unterzubringen.
(Der namentlich nicht genannte Abschreiber 2019)
Der Text ist eine Abschrift einer Veröffentlichung des Verlag Detlev Auvermann KG, Glashütten im Taunus 1972. Es handelt sich um eine Schreibmaschinenabschrift, die in einem Überformat (Nicht DIN A 4- 210 mm x 297 mm, sondern 339 mm x 206 mm) gedruckt wurde. Der Umschlag wurde ebenfalls auf Karton bedruckt.
U1: mit folgendem Text:
Dieses aus den Akten der schweizerischen Untersuchungsbehörden stammende Schriftstück befindet sich unter der Signatur P 23914 Nr. 524.24 im Staatsarchiv des kantons Zürich. Der junge Willi Münzenberg verfaßte diese biographische Skizze, die seinen Weg zum Kommunismus bis zum Eintritt in den Erfurter sozialdemokratischen Arbeiterbildungsverein (1906) nachzeichnet, entweder während seiner ersten Inhaftierung in der Polizeikaserne Zürich, Ende November 1917 bis März 1918, oder während seiner zweiten Zuchthaushaft, die vom Mai 1918 bis zu seiner Ausweisung aus der Schweiz am 10. November 1918 dauerte.
Willi Münzenberg Lebenslauf
Wir danken dem Staatsarchiv des Kantons Zürich für die Erlaubnis zu Veröffentlichung und dem Schweizerischen Sozialarchiv für die Vermittlung des Textes, den wir in er erhaltenen Form reproduzieren.
Der Text ist paginiert und hat im Original 29 Seiten (einseitig bedruckt)
Der Umschlag U 2 ist mit folgendem Text bedruckt:
1889 14. August, wird M. in Erfurt als Sohn eines Dorfgastwirtes geboren. Er besucht unregelmäßig die Dorfschulen in Frimar, Eberstädt und Gotha.
1904- 1910 ist M. Arbeiter in einer Erfurter Schuhfabrik
1906 tritt M. in den sozialdemokratischen Arbeiterbildungsverein “Propaganda“ ein und übernimmt eine Jahr später dessen Vorsitz.
1910-1913 ist M. Hausbursche in einer Zürcher Apotheke. Er wird Mitglied in dem von Fritz Brupbacher geleiteten Jungburschenverein.
1912 Ende Juli wird M. Mitglied des Zentralvorstandes der sozialistischen Jugendorganisation der Schweiz und übernimmt die Redaktionder antirevisionistischen Monatsschrift “Die freie Jugend“.
1914 während des Krieges konsequenter Internationalist, gerät M. bald unter den Einfluß Lenins.
1916 nimmt M. an der Internationalen Sozialistischen Konferenz in Kienthal (24. – 30 . April) teil.
1917 am 19. November, wird M. in Zürich verhaftet und
1918 im März, gegen Kaution freigelassen, jedoch im Mai als Mitorganisator eines Generalstreiks in Zürich ins Zuchthaus geworfen. In seiner im Mai 1918 ausgelieferten Broschüre “Kampf und Sieg der Bolschewiki“ bekennt M. sich zur Oktoberrevolution. Er wird am 10. November aus der Schweiz ausgewiesen und übersiedelt nach Stuttgart, wo er sich der Spartakusgruppe anschließt.
1904- 1910 ist M. Arbeiter in einer Erfurter Schuhfabrik
1906 tritt M. in den sozialdemokratischen Arbeiterbildungsverein “Propaganda“ ein und übernimmt eine Jahr später dessen Vorsitz.
1910-1913 ist M. Hausbursche in einer Zürcher Apotheke. Er wird Mitglied in dem von Fritz Brupbacher geleiteten Jungburschenverein.
1912 Ende Juli wird M. Mitglied des Zentralvorstandes der sozialistischen Jugendorganisation der Schweiz und übernimmt die Redaktionder antirevisionistischen Monatsschrift “Die freie Jugend“.
1914 während des Krieges konsequenter Internationalist, gerät M. bald unter den Einfluß Lenins.
1916 nimmt M. an der Internationalen Sozialistischen Konferenz in Kienthal (24. – 30 . April) teil.
1917 am 19. November, wird M. in Zürich verhaftet und
1918 im März, gegen Kaution freigelassen, jedoch im Mai als Mitorganisator eines Generalstreiks in Zürich ins Zuchthaus geworfen. In seiner im Mai 1918 ausgelieferten Broschüre “Kampf und Sieg der Bolschewiki“ bekennt M. sich zur Oktoberrevolution. Er wird am 10. November aus der Schweiz ausgewiesen und übersiedelt nach Stuttgart, wo er sich der Spartakusgruppe anschließt.
1919 von Januar bis Juni, wird M in der Festung Ulm, sodann im Gefängnis Rothenburg (Neckar) eingekerkert. In der Novemberrevolution versucht M. die Arbeit des Internationalen Jugendsekretariats weiterzuführen. Er referiert auf dem Gründungskongreß der Kommunistische Jugendinternationale in Berlin (20.- 26. November 1919) und wird in deren Exekutivkomitee gewählt.
1920 nimmt M. als Vorsitzender der Jugendinternationale in Moskau am II. Weltkongress der Komintern teil. Ein Jahr später, auf dem II. Kongreß der Jugendinternationale wird er von Sinowjew abgesetzt.
1921 am 12. August, gründet M. im Auftrage Lenins die Internationale Arbeiterhilfe für die Hungernden in Rußland, die sich in den kommenden Jahren unter M. als Generalsekretär ihrer Auslandskomitees zur größten proletarischen Hilfsorganisation entwickelt.
1924 – 1933 ist M. ununterbrochen Reichstagsabgeordneter der KPD; auf dem XI. Parteitag 1927 wird er ins ZK berufen; 1931/32 gehört er der “ultralinken“ Remmle-Neumann Gruppe an. In diesem Jahren baut M. den berühmten “Münzenberg Konzern“ auf. 1924 wird er Inhaber desNeuen deutschen Verlages, welcher die Zeitungen “Welt am Abend“, “Berlin am Morgen“, “Arbeiter- Illustrierte Zeitung“, die Zeitschrift “Roter Aufbau“ und die “Universum Bibliothek“ herausgibt, sowie das Filmunternehmen “Meshrabpom“ gründet.
1933 emigriert M. nach Paris, wo er die Arbeit der Internationalen Arbeiterhilfe fortführt. Er wird einer der Leiter des neugegründeten Welthilfskomitees für die Opfer des deutschen Faschismus und Mitbegründer der “Deutschen Freiheitsbibliothek“. Zum progandandistischen Kampf gegen Hitler gründet er wieder Verlage und Zeitungen und gibt u.a. das“Braunbuch über den Reichstagsbrand“ heraus.
Umschlag Seite 3 (U 3)
1936 wird M. nach Moskau vor die Internationale Kontrollkommission geladen; er wird“wegen Verbreitung parteiinter Information auf Beschluß des Politbüros und der Leitung (Walter) Ulbrichts gerügt, erreicht aber, das er wieder nach Paris zurückkehren kann.
1937 gerät M. als einer der Initiatoren der Volksfront in verschärften Widerspruch zur Komintern und KPD-Führung; die mehrfache Aufforderung, nach Moskau zu kommen, ignoriert er.
1938 am 22. März, wird er (M.) aus dem ZK, am 6. März 1939 aus der KPD ausgeschlossen. M. wendet sich in der
1939/40 von ihm herausgegebenen Zeitung “Die Zukunft“ gegen den Stalin-Hitler Pakt und gründet 1939 in Paris die Organisation “Freunde der Sozialistischen Einheit Deutschlands“.
1940 im Mai, wird M. im Lager Chambaran bei Lyon interniert. Während die Armee im Juni 1940 auf Lyon vorrückt, flieht M. zusammen mit drei Deutschen. Ende Oktober wird seine stark verweste Leiche im Wald von Caugnet aufgefunden. Münzenbergs Lebengefährtin Babette Gross schreibt in ihrem Buch: Willi Münzenberg. Eine politische Biographie (Stuttgart 1967), ein Selbstmord scheint ausgeschlossen,“der Verdacht, daß Münzenberg Opfer eines politischen Anschlages geworden ist, scheint mit nahezuliegen. Wer die Mörder gewesen sein könnten, ist nur zu vermuten.“ (Babette Gross)
Neu aus dem Antiquariat: Bücher von Berni Kelb
Natürlich hatte ich sie auch noch in meinem Schrank. Zwei Bücher, die mir damals sehr geholfen haben. Entdeckt im Antiquariat. Damals 3,50 DM/4,50 DM. Heute 4,00 Euro. Und ich habe sie beide noch mal gelesen. Wieder mal festgestellt. Sie sind immer noch aktuell. Hilfreich. Im Internet habe ich einen Nachruf von Klaus Wolschner (taz Bremen) aufgespürt. Hier die beiden Bücher: Sie sind beide dünn. Erfreulich dünn. Die >Betriebsfibel< hat 70 Seiten. < >Organisieren oder organisiert werden< hat 95 Seiten. In der Einleitung heißt es: „Es geschieht immer wieder, daß Genossen wie du versuchen, in ihrem Betrieb die Belegschaft zu agitieren. Und von diesen kriegen sie dann gesagt: >Das ist ja alles ganz schön, was du uns da erzählst. Aber mach man so weiter. Dann fliegst du bald raus! Auf deine – einer etwas kurzsichtigen Opferbereitschaft entspringenden – Erklärung: >Das macht mir gar nichts aus!< kommt dann die Antwort:>Uns aber.< Damit ist die Sache eigentlich erledigt. Du konntest dein Anliegen nicht vermitteln. Jetzt bist als Revolutionär isoliert.“
der Arbeitgeber 5 Köln 51. Oberländer Ufer 72
Klaus Wagenbach Verlag 1 Berlin 31 Jenaer Str.6
Sehr geehrte Herren,
in Ihrem Verlag ist die „Betriebsfibel“ von Herrn Berni Kelb erschienen, die jetzt auf den verschiedensten Lehrlingsveranstaltungen kursiert. Mehrere Leser erbitten in diesem Zusammenhang nähere Einzelheiten über die Person von Herrn Kelb. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir ggfs. einen Lebenslauf oder sonstige Unterlagen hierzu übersenden würden. Mit freundlichen Grüßen
(Dr. Heinrichsbauer)
– – –
1 Berlin 31, den 10.1.73 Jenaer Straße 9 Berni Kelb c/o Verlag Klaus Wagenbach
An den arbeitgeber – Der Chefredakteur –
Sehr geehrter Herr Dr. Heinrichsbauer,
ich beziehe mich auf Ihr Schreiben vom 8.1.73. Der Verlag Klaus Wagenbach hat – feige, wie es von einem linken Verlag nicht anders zu erwarten ist – sich vor der Beantwortung Ihrer berechtigten Fragen zu drücken versucht, indem er Ihren Brief an mich weiterleitete. Ich werde mich bemühen, Ihnen angemessene Auskunft zu geben.
Ich stamme also aus einer Familie, die seit vielen Generationen damit beschäftigt war, Arbeit zu nehmen, obwohl geben nach einem bekannten Zitat eigentlich viel seliger ist, denn nehmen. Wir lebten davon, daß wir für die genommene Arbeit auch noch Geld forderten: die ständig steigenden Löhne. Den Verlockungen eines so bequemen Lebenswandels konnte auch ich mich nicht entziehen: durch die Erlernung eines Metallberufes setzte ich die Familientradition fort.
Verschlagen, wie unsereins ist, merkte ich bald, daß bei den Unternehmern außer Arbeit und Lohn noch mehr zu holen sein muß. Von da an war ich nur noch von der Gier getrieben, ihnen alles zu nehmen. Als geeignetes Mittel dazu erschien mir eine planmäßig ausgeweitete Kumpanei mit dem Ziel, auf Insubordination gerichtete Zusammenrottungen hervorzurufen. Das verdichtete sich bei mir zu der ‚Primitivformel :“Der Feind steht immer oben!“‚, wie Clemens Steindl es auf Seite 978 der Nummer 23/24-1972 Ihres Organs so treffend charakterisiert. Das Unbehagen gegenüber dieser Losung und ihre Ablehnung als Vereinfachung teilen Sie übrigens mit Nikolaus Neumann, der in der bekanntlich DKP-nahen ‚Deutschen Volkszeitung‘ meint, mein ‚eigentlicher Feind‘ seien die ‚organisierte Arbeiterschaft, die kommunistischen Parteien und die Gewerkschaften‘. Ich verstehe die Welt nicht mehr! Sie werfen mich mit den Leuten in einen Topf, die mich mit Ihnen in einen Topf werfen.
Doch weiter im Lebenslauf. Das schreckliche Ende des letzten Krieges brachte es ja mit sich, daß unsere Gesellschaft von Aufweichungstendenzen demokratischer, liberaler und selbst sozialistischer Art durchdrungen wurde. Auch ich kam mit solchen Liberalen, Intellektuellen und ähnlichen zwielichtigen Gestalten in Berührung (im Vertrauen: manche waren gar Juden!) Sie stifteten mich an, meine bösen Gedanken zum Zwecke der Verbreitung aufzuschreiben.
Das Ergebnis liegt Ihnen ja vor.
Im Ernst: Wir haben mit Fleiß darauf verzichtet, Daten zur Person des Verfassers zu veröffentlichen, wie es sonst bei Büchern üblich ist. Ich betrachte mich nicht als Schriftsteller. Andererseits habe ich es abgelehnt, ein Pseudonym zu wählen; denn ich kann zu dem, was ich geschrieben habe, stehen.
Wenn Ihnen mein bloßer Name nicht gefällt, hier ein kleiner Tip. Einer meiner früheren ‚Arbeitgeber‘ wüßte plötzlich über meinen Lebenslauf sehr detailliert Bescheid. Er ließ auch durchblicken, dan (s) meine Vermutung, woher er seine Informationen wohl habe, richtig sei. Was einem einzelnen ‚Arbeitgeber‘ möglich ist, dürfte für Sie als Verallgemeinerung des ‚arbeitgeber‘ doch sicher keine nennenswerte Schwierigkeit bereiten.
In der Hoffnung, Ihnen hiermit gedient zu haben, verbleibe ich
mit schönen roten Grüßen
Berni Kelb
Barfoot klopft an den Sargdeckel
(Ein Nachruf auf Berni Kelb von Klaus Wolschner (Taz Bremen)
1971 veröffentlichte eine „Betriebsfibel“ – das war der gesammelte Erfahrungsschatz seiner linksradikalen Betriebsarbeit – zuletzt bei der Maschinenfabrik Kampnagel. „Es geschieht immer wieder, daß Genossen wie du versuchen, in ihrem Betrieb die Belegschaft zu agitieren“, fängt das Buch an. Genau darum geht es: Wie kann man im Betrieb arbeiten, was sollte man lieber nicht machen? Ganz praktisch – und mit hohem Anspruch: „Unsere Arbeit gilt der revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft. Sie hat das Ziel, jede Form der Herrschaft von Menschen über Menschen und die darauf beruhende Ausbeutung zu brechen.“ Kelb kannte auch den „inneren Feind“, die linken Funktionäre. Sein Rat: „Trau keinem, der dafür bezahlt wird!“
Dabei war Berni Kelb einmal Bestseller-Autor, jedenfalls in linken Kreisen, und seine Biografie ist ein Stück Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts: Er stammt aus einer streng kommunistischen Hamburger Arbeiterfamilie. Sein Name wurde Anfang der 70er-Jahre öffentlich bekannt über Bücher, in denen er seine eigene kommunistische Vergangenheit verarbeitete. Schonungslos rechnete er mit dem Pathos der illegalen KPD der Stalin-Ära ab: „Die Mitglieder hatten zwar noch ihren blinden Glauben und guten Willen, aber die bezahlten, illegalen Funktionäre konnten ihnen keine Perspektive aufzeigen. Sie waren in der Situation einer Drückerkolonne, die Ladenhüter verkaufen soll.“
Ein Dokument der Zeitgeschichte aus heutiger Sicht, das damals 4 Mark 50 kostete, heute bei Amazon 39 Cent plus Porto. Irgendwann in den 90er-Jahren stand Berni Kelb dann bei der taz in Bremen auf der Matte. Ein kleines, schrulliges Männchen, das für die, denen der Name nichts sagte, aufgrund seiner nackten Füße auffiel. Auch im Winter.
Natürlich war er nirgends organisiert, wo auch, war ein Einzelgänger. Und wollte dennoch etwas sagen. Hin und wieder haben wir einen Text von ihm gedruckt – zum Beispiel einen Kommentar über das auch damals diskutierte NPD-Verbot.
Ich habe den Namen Kelb über sein anderes Buch kennengelernt: „Organisieren oder organisiert werden. Vorschläge für Genossen links unten“ der Titel. Als die Reste der 68er-Bewegung autoritäre Organisationen gründeten, packte Kelb aus – zur Freude aller antiautoritär gesinnten, undogmatischen Spontis.
Berni Kelb, in den 50er-Jahren strammer Kommunist und bei der illegalen KPD, in den 70ern ein Einzelgänger und Theoretiker der Spontis, ist gestorben. Ein „barfüßiger Prophet und gefallener kommunistischer Erzengel“ war Berni Kelb, ein „Anarcho-Kommunist und Querulant“, das hat der frühere taz-Kolumnist „Urdrue“ einmal geschrieben. Am 5. 12. 2011 ist Berni Kelb gestorben, bitterarm, auch in Walle unbekannt. Bescheiden wie er war, hat er sich auch in seine Einsamkeit gefügt.
„Hitler kam an die Macht, weil die Industrie ihn finanziert hat“, war vor elf Jahren sein Argument. In der NPD sammeln sich dagegen „nur ein paar Psychopathen, wie es sie in jeder Gesellschaft gibt.“ Und dann sein Gedanke: „Antidemokratischen Parteien und Organisationen kommt man mit innerorganisatorischer Demokratie bei.“ Es müsste ein Parteiengesetz geben, das Maßstäbe für Transparenz und innerorganisatorische Demokratie setzt – die dann auch für eine NPD gelten würden.
Klaus Wolschner 9.12. 2011 Taz Bremen
Eine neue Heimat hat Berni Kelb seit den 90er-Jahren in einer Kultur gefunden, in der er aufgewachsen ist: bei den „Plattdeutschen“ und ihren Alltagsproblemen. Wie mit seiner Mutter in der Küche sang er im hohen Alter gern die plattdeutschen Lieder. Rund 50 Theaterkritiken über Aufführungen der niederdeutschen Bühne im Waldau-Theater finden sich im taz-Archiv unter seinem Künstlernamen Bani Barfoot. Und er hat das Schauspiel Rose Bernd von Gerhart Hauptmann ins Niederdeutsche gebracht, eine Tragödie voller Sozialkritik, menschlicher Einsamkeit und erotischer Verstrickung.
Foto: G. Klaut
von Barni Barfoot, erschienen in der Taz Bremen Drama un Komedie
„De Witwenclub“ vun Ivan Menchell: Premiere in de Komödie Bremen (vormals Niederdeutsches Theater)
Aff un an geevt se dor in Walle doch noch wat op Platt. Nu: „De Witwenclub“ vun den Amerikoner Ivan Menchell, na de düütsche Fassung vun Karin Kersten op Platt vun Hans Timmermann. Nich bloots de Autor, ok de Rejiessör (Thomas Wilberger), un de Dorsteller vun den eenzigen Keerl in’t Speel, den verwitweten Slachter Theo (Peter Wohlert) sünd Gäste. Kannst lang över nadenken!
Twee Szenarien gifft dat, – vun Bojan Boev bühnenbildnerisch excelent drapen – op de de Szenen afwesselnd speelen dot. De Komödie vun de dree Witfroons, de dat Stück den Namen verdanken deit, speelt in de Wahnstuuv vun Ida (Elfie Schrodt). Dat Drama – de deepere Sinn vun dat Stück – speelt op ’n Karkhoff.
Dor dreept se sick jümmers, de Dree. Jedeen vun jem truuert op eer eegen Oort. De Een, Doris (Ingeborg Heydorn) föhlt sick verlaaten, de anner, Luzie (Isolde Beilé), bedragen, un de drütte, Ida, eenfach alleen laten.
Un denn kummt de Witwer Theo, de bloots dat Graff vun sien Froo besöken will, jem in de Mööt. Ida kennt em as Kundin, bloots so. Doris kennt em ok. Se meent, dat harr mol meist ’n Afeere warden kunnt. Is dat aver nich worden. Un Luzie, de em gor nich kennt, smitt sick an em ran.
Doröverhen geiht de Fründschaft vun den Witwenclub (in’t Original: Cemetery Club) natüürlich eerst mol koppeister. Man se koomt doch jümmers wedder tohoop. Op’t End op den Karkhoff, as Doris dootbleven is.
Fazit: Dat Stück is ’n vigelienschen Balace-Akt twüschen Komedie un Drama. Wat dor an seelischet Eelend sick afspeelen deit bi den gröttsten Deel vun de Minschheit, wat in dat Öller de Witwen jo sünd is meisterhaft mookt.
Besünners Ingeborg Heydorn speelt eer swore Rull, de so simpel utsüüt, heel inföhlsam. Elfie Schrodt speelt eern Deel meisterhaft, as wi dat vun eer wennt sünd. Isolde Beilé hett eer egens dankbore Rull as Luzie, de an’t Enn leer utgahn deit, ’n beten wat övertrocken. ’N sporsomere Gestik harr mehr brocht.
Technisch: ’n Rejissör schull mehr Moot opbringen, in’n Vörweg ’n poor Överlängen in de Dialogen to strieken. De Soufflöse (Ingrid Frana-Sieweke) hett ’n scheune Stimm, de drägen deit. Un Mildred (Sabine Junge) – dat weet wi nu (dank Lore Schnabel, Kostüme) endlich nau – hett ’n wunnerscheun’n Rüggen.
Barni Barfoot