Für Manni (Manfred Stelzer)

Lieber Manni,

pdfNachruf fuer Manni von Gert

ich hoffe, dass du gut da oben angekommen bist – wie sieht es denn da auf deiner Wolke so aus? Bist du ein wenig glücklich, diesem hier unten waltenden Irrsinn endlich entkommen zu sein? Deine Bea, deine Schauspieler und ich müssen hier noch etwas ausharren. Na gut, wir können hier Sekt, Bier und Wein trinken, um unsere Trauer seit deinem Verschwinden von diesem Kampfplaneten durchzustehen.

Du weißt ja, ich habe viele Jahre nicht weit von Berchtesgaden gelebt. Wenn ich da mal so einen wie dich getroffen hätte, wäre ich nicht auf den Gedanken gekommen, dass du ein echter Bayer bist. Denn der wirklich echte Bayer ist klein, ja gedrungen, dunkelhaarig und zuweilen dick, na gut, weil er viel Schweinefleisch isst und viel gutes Bier zu trinken vermag. Du warst rothaarig. Und die Rothaarigen sind ja immer etwas den schwarz-, blond-, braunhaarigen und Glatzen stets ein paar Schritte voraus.

Auch Du! So lange ich noch nicht ganz dement bin, versuche ich mal ein paar Geschichten aus unserer gemeinsamen Vergangenheit zu erzählen. Kannst du mich hören und verstehen? Wenn nicht, bringe ich dir diesen Brief mal später da nach oben mit. Also, kennen gelernt haben wir uns um 1971. Du kamst, wenn ich nicht irre, mit Rainer März in meine WG in der Schöneberger Bülowstr. 29. Rainer kannte ich aus der Kreuzberger Stadtteilgruppe, und wir wohnten ein halbes Jahr etwa in einer WG von einem Psychiater in der Kreuzberger Görlitzer Straße. Egal.

Jedenfalls hast du dich bei uns mit meinen Mitbewohnern Wanda, Cornelius, Rainer, Ilse, Konrad und dem Luxemburger René schnell eingelebt. Und noch bis vor ein paar Wochen hast du mir immer wieder, sobald das Wort Bülowstraße erklang, von deinem selbstlosen Arbeitseinsatz bei mir erzählt. Du hattest auf meine Bitte hin, Fotos aus Spiegelheften, Konkret’s, Stern’s usw. ausgeschnitten und in einen Leitzordner fein säuberlich eingeordnet. Diese Akten habe ich noch immer. Es handelte sich da meist um politische Motive, Vietnamkrieg usw. Diese Bilder brauchten wir zuweilen für unsere Kreuzberger Stadtteilzeitung.

Und da fällt mir noch etwas sehr Lustiges ein. In diesen linken Konkret-Heften, die damals in den siebziger Jahren ein Klaus Rainer Röhl, der damalige Ehemann von Ulrike Meinhof, herausbrachte, wurden neben politischen Themen immer häufiger auch Nacktfotos veröffentlicht. Und beim Ausschneiden kam dir eines Nachts, wann auch sonst, der Gedanke ein gutes Geschäft mit der Produktion von Pornopuzzles zu machen. Du hast dann einfach diese Sexbilder nebenher auch ausgeschnitten, dann auf Pappe geklebt und mit der Schere wahllos zerschnitten.

Dann hast du, ich weiß nicht mehr in welchem Presseorgan, eine Anzeige mit dem Text: „Pornopuzzles zu verkaufen, DM 9,99“ aufgegeben, dann folgte Adresse und Postscheckkontonummer. Und du hast dich über die ersten Bestellungen sehr gefreut, ja was macht man nicht alles, um in einer Großstadt wie Berlin zu überleben. Du hast es immer wieder geschafft. Dann verschwandest du plötzlich mit Rainer nach England. Clemens Kuby hatte da wohl eine Connection zu einer britisch-revolutionären Filmcrew mit dem Namen „cinema action“.

Dort in London sollst du dich nach Aussage von Rainer März in eine hübsche Brasilianerin verknallt haben. Okay, warum auch nicht, aber du kamst wieder in die Frontstadt zurück und bewarbst dich an der Film-und Fernsehakademie am Theodor-Heuss-Platz. Und sie haben dich ohne Abitur und Studium dort aufgenommen. Diese Akademie stand unter starken Druck der linken Studenten, und diese bevorzugten Menschen aus proletarischen Verhältnissen.

Deine Eltern waren ja, nach deinen Schilderungen, nicht unbedingt Proleten. Beide Elternteile arbeiteten in der Gastronomie und in der Verwaltung von Altersheimen. Warum Dein Vater mit dir nicht klarkam, habe ich erst verstanden als ich von dir hörte, dass du in Berchtesgaden mit verrückten Kumpels über Autodächern gelaufen bist. Und dann irgendwann seid ihr betrunken nach dem Besuch in einer Disko gegen einen Baum gefahren. Du warst der Einzige von vier Mitfahrern, der dieses Unglück überlebte. Dieses Erlebnis hat lange Jahre bei dir in der Weise nachgewirkt, dass du eigentlich keine richtige Angst mehr vor dem Tod hattest. Aber auch vergessen konntest du nie, dass dein Vater als Strafmaßnahme oft ein Jahr nicht mehr mit dir gesprochen hat oder er dich oftmals zwang, gemeinsam mit eurem Berner Sennenhund zu speisen.

Okay, vergessen wir diese Psychoerziehung deiner Eltern. Nach einer Lehre als Physiklaborant zog es dich aus der Enge Berchtesgadens nach Berlin. Dort angekommen musstest du erst einmal deine Brötchen als Tagelöhner verdienen, hast in zehn Meter Höhe mit einer verrosteten Motorsäge Bäume von Reichen in Zehlendorf beschnitten und vieles andere mehr, aber das Medium Film hat dich irgendwie immer fasziniert. Ich habe um diese Zeit herum in Kreuzberg auf dem Bethaniengelände mein Medienzentrum aufgebaut, und so hatten wir auch beruflich eine freundschaftliche Nähe.

Weißt du noch, 1971 wurde damals ein Schwesternwohnheim, das Martha Maria Haus, auf diesem Gelände von Trebern und Jugendlichen aus dem Kreuzberger Kiez besetzt. Es wurde in Georg-von-Rauch-Haus umbenannt, und bis heute seit 1870 steht auf seinem Eingang der Spruch „Eins tut not “. Du hast auf der Film-und Fernsehakademie eine Suzanne Beyeler kennen gelernt, eine Schweizerin, und mit ihr und deinen alten Kumpel Rainer März, der es ein Jahr später mit deiner Hilfe auch auf dieser Filmschule geschafft hat, starteten ihr Drei einen Dokufilm über genau dieses besetzte Haus.

„Allein machen sie dich ein“, nach einem Rio Reiser Text, habt ihr euren ersten Schwarz-Weiß-16mm-Film benannt. Ein paar Jahre später hast du mit einen deiner Mitstudenten, Johannes Flütsch, einen sehr witzigen Film über einen Automatenspieler gedreht. Dieser Spieler mit Namen Diethard Wendtland konnte mit seiner speziellen Begabung Spielautomaten der Marke „Monarch“ in kurzer Zeit total leerfegen. Für diesen Film, produziert von Regina Ziegler, hast du mit Johannes einen Bundesfilmpreis erhalten.

Waren eigentlich bei dieser Preisverleihung deine Eltern nach Berlin gekommen? Ich glaube eher nicht. Dabei war es doch für dich ganz wichtig, deinen Eltern in Bad Aibling zu zeigen, dass du kein Looser mehr bist. Du hast mir erst vor ein paar Wochen erzählt, dass du richtig Geld erst nach deinem 40. Geburtstag verdient hast. Du wurdest am 22. September 1944 im Bombenhagel von Augsburg geboren, und demnach hast du erst in den Jahren 1984/85 so viel verdient, dass du auch mal in den Urlaub fahren konntest.

1985 haben wir zwei an zwei Projekten gearbeitet, einmal ein Film über ehemalige Rauchhausbewohner mit Rolf Zacher als Karl Marx und Marianne Enzensberger als seine Jenny, Musik Rio Reiser, und einen zweiten Dokufilm über eine Miss Germany, die mit einem Polizisten verheiratet war. Dieses Eheverhältnis hat dich sehr interessiert, und Harun Farocki hat das Exposé verfasst. Es war eine ZDF-Produktion. Und bei diesen Dreharbeiten, du Regie, Kamera David Slama und Ton ich, haben wir im Grunde jeden Abend nach Drehschluss nur noch gelacht, weißt du noch, als in Luxemburg dieser Miss-Germany-Preis verliehen wurde und ein Gunter Sachs im Hotel erschien und total überschminkt die Kandidatinnen abzutätscheln versuchte, und die haben sich das auch noch gefallen lassen.

Diese Preisverleihung wurde vom RTL aufgezeichnet, und wir durften deshalb für das ZDF nur ganz wenige Bilder nach Deutschland mitnehmen. Lustig war auch, dass du vor Drehbeginn einen alten Ford für unsere Dreharbeiten erworben hast. Mit diesem klapprigen Gefährt sind wir bis Paris gefahren, um eine alternde Miss Germany zu interviewen. Auf den Weg dahin blieb unser Oldtimer ständig stehen, und unsere Altmiss hatte im Hinterhof ein kleine Werkstatt, die spezielle Spionagegeräte herstellte und in Paris an diverse Agenten verkaufte, abschließend lud sie uns zum Essen ein, sie im Porsche und wir ständig anschiebend in unserem Freakford als Abgesandte des ZDF’s, und in dem teuren Restaurant winkte sie ständig dort speisenden Agenten zu.

Denn das hier war ihr Vertriebsnetz, wir wollten dann auch nicht mehr wissen, wie so ehemalige Miss heute ihr Leben finanzieren. Mein Waterloo-Erlebnis mit dir hatte ich Ende 1989, weißt du noch, ich wohnte mal für zwei Jahre in Oldenburg. Und irgendwie hatte die Berliner Delta-Filmproduktion die Idee, einen Kinofilm zum Thema Stau in Fahrt zu bringen. Du solltest mit mir das Drehbuch entwickeln und kamst nach Ostfriesland, und wir mieteten dort auf so einem komischen Freizeitgelände ein kleines Häuschen an und begannen sofort mit der Arbeit.

Kurz und gut, ich hatte unter anderem die Idee, dass unter anderen Urlaubern auch ein Finne mit einem Holzauto in diesen Superstau in Bayern fährt. Du fandest diese Idee auch sehr charmant und lustig. Aber dann kam der Produzent Richard Claus nach Oldenburg, und als er das mit dem finnischen Holzauto las, fuhr er schnurstracks wieder nach Berlin zurück. Keine Diskussion, Thema verfehlt – setzen, Möbius!

Du hast ja dann später noch mal sehr komödiantisch abgemildert mit Gerd Weiss dann doch noch diesen „Superstau“ unter reichlich viel Stress abgedreht. Aber schon 1990 kamen wir wieder zusammen, und ich bastelte dann an ein Drehbuch von einem DDR-Autor herum. Der Film hieß später „Grüß Gott Genosse“. Deine NDR Produzentin Doris Heinze war ja mit deiner Arbeit immer sehr einverstanden, und so bekamen wir auch den Auftrag, eine neue Polizeirufserie 110 zu entwerfen. Es sollte in diesen Filmen kein Mord geschehen. Wir beide haben uns daran gehalten, aber andere ARD-Sender in ihren Polizeiruf 110-Filmen nicht.

Du hast dich dann richtig ins Zeug gelegt und einen Polizeiruf nach dem anderen abgedreht. Und alle diese Filme mit Uwe Steimle und Kurt Böwe unter deiner Regie waren originell und voller Humor. Ich freue mich noch heute, dass ich Dir als Drehbuchautor oft bei diesen Streifen helfen durfte. Ich musste immer wieder über dich staunen, mit welcher kreativen und gleichzeitig produktivnaiven Art du Szenen und Bilder in unseren Drehvorlagen gesetzt hast.

Ich kam mir häufig wie ein konservativer Bildungsbürger vor, der sich noch immer nicht von der Dramaturgie eines Shakespeare oder Schiller zu lösen vermochte oder traute. Aber so „trauen“ hatte ja für dich seit deinem Autounfall in Berchtesgaden nur noch wenig Relevanz. Und du hattest ja auch nur sehr wenig Respekt vor diesen Fernsehgewaltigen wie Redakteuren und Produzenten.

Ich erinnere mich noch über ein Bild aus den neunziger Jahren, als du zu mir mit einer sehr sehr kurzer Sturmfrisur kamst, auf mein Erstaunen hin, sagtest du nur: „Ich fahre morgen nach Mainz, und da brauche ich diese Kampffrisur.“ Humor, ich habe mich immer wieder gefragt, und ich frage mich noch heute, wo du den immer wieder hergenommen hast – deine Kind- und Jugendzeit war doch nun wirklich mehr eine Schauergeschichte als ein Komödienstadel – stimmt’s?

Oder war sie doch im Umkehrsinn gerade deshalb so inspirierend, weil in deiner miesen Lage sich dein Humor wie ein Schutzschild um dich bildete? Aber Manni, du hattest, Gott sei Dank, auch viele tolle und mutige Mitstreiter. Und einige von diesen sind sogar zum Gedenken an dich hier in dieser Kapelle. Viele von ihnen haben dir auch durch ihr hinzufügen ihres „Mutterhumors“ bei deinen Inszenierungen geholfen, ich sage nur die „Münsterkrimis“. Ich nenne mal ein paar von vielen hunderten von Mitarbeitern beim Namen;

Deine genialen Kameraleute wie Michael Wiesweg, David Slama, Jörg Jeshel und Frido Feindt. Wunderbare Schauspielerinnen und Schauspieler wie Tilo Prückner, Jan Joseph Liefers, Detlev Buck, Armin Rhode, Pierre Besson, Günter Maria Halmer, Axel Prahl, Alexander Scheer, Laura Tonke, Senta Berger, Götz George, Katharina Thalbach, Florian Lukas, Elke Sommer, Karl Kranzkowski, Sigi Zimmerschied, Nadeshda Brennicke, Inga Busch und viele, viele mehr. Und nicht zu vergessen, deine langjährige Regieassistentin Susanne Petersen.

Lieber Manni, du warst in deinem Leben auf dieser Erde stets ein sehr bescheidener Mensch, ich habe dich auch nie in einer Talkshow gesehen, du wolltest immer nur deine Arbeit so professionell wie nur möglich machen. Das Ergebnis – fast 100 tolle Filme! Aber du würdest heute ruhig zugeben, dass sich deine Energie auch aus dem Bedürfnis speiste, deiner Mutter zu beweisen, dass du kein Versager bist.

Den Beweis konntest du ihr in einer Form geben, die jeder sofort versteht – Geld und Gold. Du hast oft größere Summe nach Bad Aibling, dem Wohnort deiner Mutter geschickt. Und sie hat ein Teil dann großzügig an nahe und ferne Verwandte weitergeleitet, aber stets mit dem Hinweis versehen, dass diese schönen Scheinchen von ihrem sehr erfolgreichen Sohn aus Berlin kamen. Die einen brauchten ein aktuell neues Hörgerät oder Gebiss, andere arbeitslose Neffen ein neues Auto oder auch nur einen neuen Satz Autoreifen.

Da stand ich mal mit deiner Mutter mit einem Produzenten am Filmset, und auf die Frage des Produzenten, was du denn eigentlich studiert hast, kam von ihr die prompte Antwort: „Mein Sohn, mein Manfred hat Physiklaborant studiert“, und dann von ihr die Gegenfrage: „Werden sie meinen Sohn auch weiterhin beschäftigen?“.

Ja, so einfühlsam und ehrlich können Mütter sein. Nun noch zum Schluss: du hast ja bis in den März und April hinein noch immer gearbeitet, mit mir hast du an einem Treatment für einen Rio Reiser Spielfilm gearbeitet, und dann an einer 8-teilige Kurzserie mit Tilo Prückner, die man sehr bald unter dem Titel „Die Bank“ im Fernsehen sehen wird. Ich hatte irgendwie bei meinen Besuchen bei dir immer das Gefühl, dass du uns noch gar nicht verlassen willst, jeden Sonnenstrahl aus unserem zurzeit unglaublich stahlblauen Himmel hast du noch genossen.

Aber deine ständigen Schmerzen raubten dir dann doch leider deine letzten Kräfte. Liebe Bea, seit 1984 war Manni dein Weggefährte und deine Liebe, Sylvester 1996 habt ihr euch in Las Vergas das Ja-Wort gegeben. Dein selbstloser professioneller Einsatz, um Mannis letzten fünf Jahre andauerndes Leiden zu mildern, war ein sehr, sehr großer Liebesbeweis.

Alle hier danken dir dafür und fühlen mit ganzem Herzen mit dir und deiner tiefen Trauer. Auch dir, Alexander Richter, sei hier für deine gute Beratung und Hilfe sehr gedankt. Lieber Manni, wir werden dich und dein künstlerisches Werk, das du uns hinterlassen hast, nie vergessen. Du bist nicht tot, du lebst in deinen Filmen weiter, und ich freue mich, in Zukunft viele deiner schönen Filme noch einmal ansehen zu dürfen. Deine gesellschaftlich kritische und komödiantische Sichtweise auf diese unsere Weltenkugel wird mich in meiner noch verbleibenden Lebenszeit für immer begleiten. Ich hoffe, wir sehen uns eines Tages wieder!

Dein Gert

Statt einer Biografie die Rede zur Bestattung von Manfred, die sein Freund Gert Möbius gehalten hat. (Gert Möbius war Manager der Rockband „Ton Steine Scherben“ und Mitbegründer des Berliner Tempodroms). Nach dem Tod seines Bruders Ralf, mit Künstlername Rio Reiser, gründete er das Rio-Reiser-Archiv. Heute wirkt er als Drehbuchautor und Filmproduzent.

Mariannenplatz, Berlin 36
Von links nach rechts: Manfred Stelzer, Marlis Kallweit im Jugenzentrum Hemmoor (Elbabwärts, kurz vor Cuxhaven. Backbord). Rundreise mit dem Film: Allein machen sie dich ein (Georg von Rauch Haus, Berlin) dffb
cc

Der Weg des Kandidaten nach Berlin- Fotos auf der Suche nach der Wahrheit. Und einer schafft es mit Links. Den Wohlstand.

Fotos Jens Meyer

Großneumarkt am 11. September 2021. . Die wollen nicht nach Berlin, die wollen Urlaub, Sehr vernueftig.
Hätte man gar nicht gedacht von der CDU

Januar 1933 Lachende Erben

Die UFA hat die Zeichen der Zeit erkannt. Werbung am 1. Januar 1933 für den Film „Lachende Erben“. Hauptrolle hat Heinz Rühmann. Das passt.

Der Film, unter der Regie von Max Ophüls, wird am 21. Februar 1933 der Zensur vorgelegt. Die entscheidet: Jugendverbot. Der Film startet (laut Filmportal.de, die häufig bei der Formatangabe daneben hauen (hier ist z.B. das Stummfilmformat 1:1,33 genannt, obwohl Tonfilme dieser Zeit das Tonfilmformat 1:1,37 hatten) am 06. März 1933.

Fotos aus Kreuzberg (VIII)

Foto von Helmut Schönberger
Foto von Helmut Schönberger
Foto von Helmut Schönberger
Foto von Helmut Schönberger
Foto von Helmut Schönberger

Kurt Tucholsky. SO VERSCHIEDEN IST ES IM MENSCHLICHEN LEBEN (II)(26. Mai 1931)

PDF Tucholsky-SO-VERSCHIEDEN-IST-ES-IM-MENSCHLICHEN-LEBEN-Kottbus

SO VERSCHIEDEN IST ES IM MENSCHLICHEN LEBEN! Ich reiste im Traum nach Kottbus und ließ dortselbst meine Handtasche stehen. Jetzt muß ich zurückträumen und sie holen.

Willst du eine reizende Damenbekanntschaft machen? Vergiß, dich zu rasieren.

Die Militaristen irren. Es ist gar nicht die Aufgabe der Pazifisten, sie zu überzeugen – sie sollen vielmehr in einem Kampf, der kein Krieg ist, besiegt, nämlich daran gehindert werden, über fremdes, ihnen nicht gehöriges Leben zu verfügen. Man mache sie unschädlich; einzusehen brauchen sie gar nichts. Ich bin für militaristischen Pazifismus.

Die meisten berliner Theater- und Kabarett-Abende gehören dem einen oder dem andern Typus an: jüdische Hochzeit oder münchner Atelierfest.

Die Apologetik der katholischen Kirche – : das ist wie ein Luftschiff auf Rädern.

«Wozu noch Lust? Ich liebe ihn doch!» Da war sie neunzehn Jahre. «Wozu noch Liebe? Sie belustigt mich doch!» Da war er vierzig Jahre. Als sie fünfzig wurden, kam er in die zweite Jugend und liebte, wieder. Sie hatte nie aufgehört, zu lieben.

Ein boxender Buchhändler, der mäßige Vorträge über Plato hält -: kein Mensch hörte danach hin. Zieht sich aber derselbe Mann einen Kaplansrock an: dann bibbert das Publikum. Bei den Männern tauchen die alten Kinderideen von der Größe der Kirche auf, und die Damen denken: «Darf er? Er darf nicht. Tut ers? Wenn ja, mit wem? Und warum nicht mit mir?» Wie interessant kann doch Plato sein!

Solch ein friedliches Land -! Da tragen die Polizisten noch Säbel. Welche Hochachtung hat doch der Franzose vor der Sprache! «Il a trouvé ce mot . . . » Das Wort war vorher da, der Autor hat es nur gefunden.

Es gibt Auslandskorrespondenten, die wollen die fremden Völker, zu denen man sie geschickt hat, nicht erkennen. Sie wollen sie durchschauen.

Manche Schriftsteller sammeln große Männer. «Haben Sie schon Mussolini? Ich habe ihn doppelt!»

Sie sprach so viel, dass ihre Zuhörer davon heiser wurden. Nie geraten die Deutschen so außer sich, wie wenn sie zu sich kommen wollen.

Er besuchte alle Premieren – nicht aus Liebe zur Kunst, sondern um als erster Nein sagen zu können.

Lungenhaschee . . . das sieht aus wie: «Haben Sie das gegessen, oder werden Sie das essen?»

Zwei Kriegsminister: Churchill kann Trotzki nur verhöhnen. Aber Trotzki kann Churchill mitdenken.

Gott schuf Kluge, Dumme, ganz Dumme und Geschäftsführer der SPD-Presse.

Die Engländer werden mit ihren Arbeitslosen nicht fertig; die Franzosen quälen ihre Strafgefangenen, die männlichen in Guayana und die weiblichen in Rennes, dass es einen Hund jammern kann; die Jugoslawen quetschen mißliebigen Politikern die Fingernägel ab, die Ungarn den ihren die Hoden, und die Rumänen befassen sich liebevoll mit den gefangenen Frauen – alle, alle aber sind sich darin einig, dass das Sowjetsystem ein verrottetes System sei. So verschieden ist es im menschlichen Leben! Peter Panter.

(Erstveröffentlichung unter dem Namen Peter Panter in Die Weltbühne vom 26. Mai 1931, Buchveröffentlichung in LL = Lerne lachen ohne zu weinen. Zitiert nach Kurt Tucholsky, Gesammelte Werke, Band III, Dünndruckausgabe. Seite 864 – 865) Die Suchmaschine übersetzt: Il a trouvé ce mot = Er hat dieses Wort gefunden. Der VEB Duden von 1984 schreibt: Apologetik = die, – (Verteidigung, bes. der christl. Glaubenslehren)

Buchumschlag der ersten Ausgabe
Grafik Hans Hillmann

Kurt Tucholsky. SO VERSCHIEDEN IST ES IM MENSCHLICHEN LEBEN (I) (14. April 1931)

«Das Englische ist eine einfache, aber schwere Sprache. Es besteht aus lauter Fremdwörtern, die falsch ausgesprochen werden». (Kurt Tucholsky, Seite 833, Dritter Band der Gesamtausgabe)

PDF Tucholsky So verschieden ist es

SO VERSCHIEDEN IST ES IM MENSCHLICHEN LEBEN!

Neulich habe ich alte Jahrgänge des <Brenner> gelesen, einer Zeitschrift, die in Innsbruck erschienen ist und wohl noch erscheint . . . Das war eine merkwürdige Lektüre.

Es gibt eine Menge verhinderter Katholiken, meist sind es Juden, denen ist die katholische Kirche nicht katholisch genug, oder sie erscheint ihnen überhaupt nicht als katholisch. Ich mag mich nicht gern mit der Kirche auseinandersetzen; es hat ja keinen Sinn, mit einer Anschauungsweise zu diskutieren, die sich strafrechtlich hat schützen lassen.

Mit so unhonorigen Gegnern trete ich nicht gern an. Was aber jene verhinderten Katholiken angeht, die es gern sein möchten, es aber nicht sein können und die darunter leiden, wie nur ein Mensch leiden kann: es sind das nicht nur die forschen Konvertiten, die da toben. Es ist noch etwas andres.

Da ist eine ganze Literaturgattung, die schlägt der Welt ununterbrochen das <Neue Testament> auf den Kopf und wundert sich, daß es nicht gut klingt. Das höchste Pathos blüht hier; kaum einer kann gewaltigere Töne finden als der, der aufzeigt: Siehe, die Welt lebt nicht, wie Christus es gelehrt hat. Es gibt nur noch ein Pathos, das höher ist: das ist das Pathos über Christus hinweg.

Im <Brenner> nun, dessen Sauberkeit, Tapferkeit und Reinheit nicht bezweifelt werden kann, gehts hoch her. Und dabei ist mir etwas aufgefallen.

Da ist zum Beispiel Theodor Haecker, ein Schriftsteller von beachtlichem Format, wenn man nicht genau hinsieht. Wenn man aber genauer hinsieht, dann zeigt sich unter dem Lärm der donnernden Moralpauken ein kleiner Mann, der es dem Hermann Bahr aber ordentlich gibt, und, auf einmal, Hosianna, Amen und Ite missa est, sind wir mitten im fröhlichen Gezänk eines Literaturcafés. Frommer Schwannecke. Es scheint, als ob diese Sorte Literaten sich erst religiös sichern müssen, bevor sie loshacken.

Sie haben nie begriffen, daß es christlich, mehr: daß es philosophisch wäre, zu schweigen und vorüberzugehn. Ja, wenn ein Gläubiger aufschreit und dem Wahnwitz der Welt einen Spiegel entgegenhält, von dem jene nachher sagt, es sei ein Zerrspiegel, weil sie nicht glauben kann, daß sie so gemein aussähe! Wer dieses aber allmonatlich, regelmäßig und mit hitziger Wonne tut: der ist kein Christ, und wenn er zehnmal den ganzen Kierkegaard übersetzt hat. Der ist genau dasselbe wie Hermann Bahr, nur mit umgekehrtem Vorzeichen.

Und schließlich ist psychopathische Lebensuntüchtigkeit noch kein Christentum, und <das Böse> ist kein Schimpfwort. Wenn einer mit seinem Leben und nun gar mit dem Leben nicht fertig wird, so wird solch ein Anblick dadurch nicht schöner, daß er sich auf die Bibel beruft.

Die geheime Wonne, dem andern aber ordentlich eins zu versetzen, wird hier durch Moralinsäure legalisiert und durch eine verfälschte Himmelssüßigkeit, die nach Sacharin schmeckt und durchaus von dieser Erde stammt. Das Ziel ist vielleicht gut; die Kämpfer sind es mitnichten. Und die Hälfte ihrer Religion besteht in der Verachtung der Ungläubigen; das hält warm und ist ein schönes seelisches Unterfutter.

Viel Rauch um diesen Brenner. Schade um die reine Flamme.

Der Zustand der gesamten menschlichen Moral läßt sich in zwei Sätzen zusammenfassen: We ought to. But we don’t.

Wenn Stefan Zweig einen erkälteten Magen hat –: schreibt er sich dann etwas auf die eigne Bauchbinde –?

Das Englische ist eine einfache, aber schwere Sprache. Es besteht aus lauter Fremdwörtern, die falsch ausgesprochen werden.

Scharfe Sozialkritiker sind in ihren Nicht-Vaterländern sehr beliebt, nur dürfen es grade keine Kommunisten sein.

Sonst aber hat es der Deutsche gern, wenn der Amerikaner die amerikanische Kultur demoliert; wir haben uns immer sehr für die Freiheit der andern interessiert.

Man kann jeden schreibenden Menschen bis ins Mark daran erkennen, wie er das Wort <ich> setzt. Manche sollten es lieber nicht setzen. Hitler setzt es. «Wenn ich in Deutschland spreche, so strömen mir die Menschen zu . . . » Der Ton ist vom Kaiser entlehnt, und das Ganze hat etwas Gespenstisches: denn dieses <ich> ist überhaupt nicht da. Den Mann gibt es gar nicht; er ist nur der Lärm, den er verursacht.

Die einen haben nichts zu essen und machen sich darüber Gedanken, das kann zur Erkenntnis ihrer Lage führen: und das ist dann Marxismus; die andern haben zu essen und machen sich keine Gedanken darüber: und das ist dann die offizielle Religion. So verschieden ist es im menschlichen Leben! (Peter Panter, Die Weltbühne, 14. April 1931, erste Buchveröffentlichung in LL=Lerne Lachen ohne zu weinen)

Die Suchmaschine übersetzt: We ought to. But we don’t. = Wir sollen. Aber wir tun es nicht. Wikipedia schreibt: Ite missa est = spätlatteinisch für Gehet hin, ihr seid gesandt, wörtlich geht, das ist die Entlassung bzw. Geht, sie ist gesandt. In der deutschsprachigen Fassung Gehet hin in Frieden, ist es der Entlassungsruf am Ende der heiligen Messe im römischen Ritus. Er wird vom Diakon oder Zelebranten gerufen, die Gläubigen antworten mit Deo gratias. Dank sei Gott, bzw. Dank sei Gott dem Herrn.

(Die beiden Sätze (Das Englische ist eine einfache, aber schwere Sprache. Es besteht aus lauter Fremdwörtern, die falsch ausgesprochen werden.) sind herausgerissen aus dem Text: So verschieden ist es im menschlichen Leben. Aus Kurt Tucholsky. Gesammelte Werke, Band III, 1929- 1932, Dünndruckausgabe, Seite 832-834. Zuerst erschienen unter dem Namen Peter Panter, Die Weltbühne, vom 14. April 1931.)

Kurt Tucholsky. Was machen die Leute da oben eigentlich?

Was machen die Leute da oben eigentlich?

Motto: Der eigne Hund macht keinen Lärm – er bellt nur. (Alte Weisheit)

Donnerwetter, ist das ein Krach! Was ist das? (Achselzucken.) – «Das sind Lösers, die Leute, die über uns wohnen. Das ist jeden Abend so.» Und da sagt ihr nichts? – «Wir haben schon raufgeschickt: da ist nichts zu machen. Sie haben gesagt, unseretwegen können sie sich keinen Bodenbelag . . . Himmelkreuz, man glaubt reineweg, die kommen mit der Decke runter! Nu hör bloß mal an – der Kalk rieselt richtig . . . Ruhe! – Ruhe!»

Ja, Kuchen. Was machen die Leute da oben in ihrer Wohnung?

Sprechen wir nicht von den wildgewordenen Hausfrauen. Die Reinmache-Megären sind weniger zahlreich geworden; dafür sind auch die Wohnungen von vernünftigen Familien sauberer. Aber was stampfen, was klopfen, was rücken die Leute über uns?

Alles, was man nur mit einem einzigen Sinn wahrnehmen kann, wirkt merkwürdig; die andern vier Sinne liegen gespannt auf der Lauer, und das Gehirn ist gezwungen, aus der einen, unvollkommenen Wahrnehmung alles andere zu kombinieren. Und so kombinieren wir denn, nachdem das Ohr schmerzlich aufgenommen hat:

Lösers machen Manöver. Lösers räumen jeden Abend ihre Wohnung aus . . . sie hängen ihre sämtlichen Einrichtungsgegenstände zum Fenster hinaus, räumen sie wieder ein . . . Nein, sie rollen zwei kleine Kanonenkugeln, Andenken aus dem Weltkriege, fröhlichen Gemütes durch die Korridore. Sie spielen Zirkus: schlagen der Länge lang hin, stehen wieder auf, schlagen wieder hin . . . Sie haben einen Kraftmenschen engagiert, der – nu hör doch bloß mal einer an! – das Büfett aufhebt und probiert, ob es, wenn man es auf den Boden hinfallen läßt, federt – was machen diese Leute? Ruhe!

Ich will es dir genau sagen, was sie machen. Dasselbe wie du.

Sie gehen auf und ab. Sie rücken ein paarmal Möbelstücke hin und her, was deinem Ohr zweck- und sinnlos erscheint, was aber ganz vernünftig anmutet, wenn man bei ihnen oben ist. Sie lassen ihre Kinder tollen . . .

Zugegeben: es gibt rücksichtslose Wohnungsnarren. Es scheint, dass manche Leute ihrem am Tage im Geschäft unterdrückten Willen zu Hause Spielfreiheit geben – da toben sie sich aus. Es gibt ausdauernde Auf- und Abgeher, solche, die, vom Teufel der Ruhelosigkeit geplagt, durch die Wohnung jagen . . . es ist so viel unbefriedigtes Gefühl in dem, was sie so treiben . . . Ja, aber wo sollten sie das alles tun, wenn nicht zu Hause! Den Tag über ist ihr Leben mit lauter Schildern umgattert: DU DARFST NICHT! . . . VERBOTEN! . . . UNTERSAGT! – Einmal, ein einziges Mal will der Mensch das Überflüssige tun, das dem Leben erst die richtige Würze gibt. Und da toben sie sich denn aus.

Es ist ein Jammer. Was ist ein Jammer? Der Wohnungsbau ist ein Jammer. Denn da wir dem Idealzustand, wo jede Familie ihr Häuschen hat, noch sehr fern sind, ist die große Mehrzahl aller Leute in den Großstädten gezwungen, in Mietshäusern zu wohnen – sie sind schon so froh, wenn sie darin überhaupt eine Wohnung finden. Und was sind das für Häuser?

Was die Architekten machen, ist ziemlich klar. Sie bauen die neuen Häuser aus einer Mischung von kaltgewordener Zigarrenasche und gestoßenen Ziegeln. Jeder <Fachmann> wird hier aufbrausen und uns erklären, dass es so ist, dass es nicht so ist, warum es gar nicht anders sein kann . . . das müssen wir uns mit Gleichmut anhören. Genau so wie den Lärm über uns, unter uns, neben uns . . .

Es muß eine raffinierte Berechnungsmethode geben, nach der die Häuser grade noch stehenbleiben, wenn jemand das hohe C in ihnen singt. Es sind liebe Baulichkeiten: niest jemand im Keller, so kann man getrost auf dem Boden «Zur Gesundheit!» wünschen, und mit dieser Papparchitektur wird das immer schlimmer. Großstadthäuser aus den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wirken heute schon wie die alten Ritterburgen. Die neuen erzittern, wenn man sie nur ansieht, und wenn ein ungezogener Knabe in ihnen aufstampft, dann fallen die Hypotheken vom Dach. Was machen die Leute bloß da oben – ?

Eine Lärmsicherung gibt es nicht. Man hat Versuche mit Korkböden gemacht; die sind teuer, sie dämpfen den Schall wohl – aber sie ersticken ihn nicht ganz. Und so rumort es über den Köpfen hinweg, ganze Artillerieregimenter fahren auf und fahren wieder ab – was machen die Leute bloß?

Du mußt mit ihnen aufstehen und mit ihnen zu Bett gehen. Du lebst ein fremdes Leben mit. Stille, das kostbarste Gut, ist dir versagt. Und wenn sie selbst still sind, wenn sie dicke Teppiche haben, die Obermieter, wenn sie selbst – o seltener Fall! – aus Rücksicht für dich Hausschuhe tragen . . . dann ist da noch immer der schrecklichste der Schrecken.

vomiert «Huhu – huhu – haha – huhu – hiiiii –» Was ist das? Eine Lokomotive im Tunnel? Ach nein. Das ist Fräulein Lieschen Hasensprung, die sich im Gesang übt. Sie gleitet die Skalen gar oftmals hinauf und hinab; sie schleift die Töne im Hals, bis der Hals rauh und die Töne glatt sind, und wenn sie nicht singt, dann spielt sie Klavier. Das Klavier klingt, wie wenn man Wurstpellen auf eine Sardinenbüchse gespannt hat, das Spiel schmeckt nach Wurst und nach Sardinen. Und das geht den ganzen Tag – stunden – – stundenlang . . .

Und wenn sie nicht Klavier spielt, dann vomiert (*) der Lautsprecher, damit die andern Leute auch eine Freude haben. Krach muß sein, sonst macht das ganze Leben keinen Spaß.

Aber – aber – was machen sie bloß da oben? Rollen die ihren Ofen durch die Zimmer? Vielleicht haben sie dem Schreibtisch Punkte aufgemalt, und nun würfeln sie damit . . Oder die lieben Kinderchen spielen ein gemütliches Spiel, wie das Kinder so tun: <Schweineschlachten in Oberbayern> oder <Chaplin und die Flöhe>. Horch – welch ein Skandal! Unser Kronleuchter zittert und klingelt mit dem Glas. Man fühlt ordentlich den Boden schwanken. Alles in mir zittert. So –

So geht das nicht mehr weiter. Jetzt schreibe ich drei Briefe: einen an die Polizei, einen an den Hausverwalter und einen an die rücksichtslosen Mieter. Ich will mir nur noch den Tisch hierher rücken, die Lampen dahin, so – und den Stuhl hierhin, und noch den kleinen Rauchtisch daneben – so – und dann gehts los.

Und unter mir denkt sich einer: «Was macht dieser Panter da oben eigentlich?»

Er schreibt drei Briefe. Gegen den Lärm. Erstveröffentlichung unter dem Namen Peter Panter in Der Uhu, Das neue Monatsmagazin, Verlag Ullstein, Juni1930, Heft Nr. 9, Seite 89, zitiert nach Kurt Tucholsky, Gesammelte Werke in drei Bänden, Dünndruckausgabe, Band III, Seite 459 – 461. (*) vomieren. Nein das Wort hat sich Tucholsky nicht ausgedacht, es ist sogar in meinem VEB Duden von 1984 abgedruckt und steht: Vomieren = sich erbrechen. Na sowas.

Kurt Tucholsky. Die deutsche Pest

Kurt Tucholsky Die deutsche Pest

«Es ist aber merkwürdig, wie leicht und glatt dieselben <korrekten> Historiker und Publizisten, welche das ganze Zeter-Alphabet und Flüchewörterbuch erschöpfen, um den rot-republikanischen Schrecken zu verdonnern, über die Abscheulichkeiten und Gräßlichkeiten hinwegschlüpfen, welche der weiß-royalistische Schrecken von 1794–95 in Szene gesetzt hat. Natürlich übrigens! Für Thron und Altar ist ja alles erlaubt. Mag jedoch der Grundsatz mit so schamloser Offenheit gepredigt und geübt werden, wie in unsrer niederträchtigen Zeit geschieht, immerhin gibt es noch einen über die trübe Sphäre der Knechtseligkeit, über die wüste Region zügelloser Parteileidenschaft hocherhabenen Standpunkt der Sittlichkeit, von welchem herab die echte und rechte Seherin Historia den Wahrspruch tut –: Die roten Schreckensmänner handelten sittlicher als die weißen, denn jene standen in Bann und Zwang einer großen Idee, während diese nur von der gemeinsten Selbstsucht getrieben wurden.» Johannes Scherr: <Menschliche Tragikomödie>

Die Schande des neuen Republikschutz-Gesetzes, das noch den kleinsten Schreiber, wenn er nur pensionsberechtigt ist, zu einer Rechtsperson höheren Grades erhebt und die unbequemen Links-Oppositionellen rechtlos läßt, wird Wahrheit werden. Die Stagnation der öffentlichen Moral ist vollkommen; kaum ein Windhauch geht über diese scheinbar so bewegte Fläche. Deutschland ist ein lautes Land – aber die Massen treten an Ort. Was das neue Gesetz uns bieten wird, geht aus der jetzigen Lage klar hervor. So instinktlos diese Republik ist, die sich noch niemals gegen ihre wirklichen und gefährlichen Gegner zu schützen gewußt hat, weil sie gar nicht geschützt sein will – in einer Beziehung haben Verwaltung und Rechtsprechung den richtigen Instinkt. Das zeigt sich in der Behandlung der Nationalsozialisten.Die behaupten, <revolutionär> zu sein, wie sie denn überhaupt der Linken ein ganzes Vokabular abgelauscht haben: <Volkspartei> und <Arbeiterpartei> und <revolutionär>; es ist wie ein Konkurrenzmanöver. Daß bei der herrschenden Arbeitslosigkeit des Landes und der Direktionslosigkeit der bürokratisierten Sozialdemokratie die Arbeiter scharenweise zu den Nazis laufen, darf uns nicht wundern.

Revolutionär sind die nie gewesen. Die Geldgeber dieser Bewegung sind erzkapitalistisch, der Groll, der sich in den Provinzzeitungen der Partei, in diesen unsäglichen <Beobachtern> ausspricht, ist durchaus der von kleinen Leuten: Erfolg und Grundton dieser Papiere beruhen auf Lokalklatsch und übler Nachrede. «Wir fragen Herrn Stadtrat Normauke, ob er die Lieferungen an die Stadt nicht durch Fürsprache seines Schwagers erhalten hat, der seinerseits dem Oberbürgermeister . . . » Das freut die einfachen Leute; es zeigt ihnen, dass sich die Partei ihrer Interessen annimmt, es befriedigt ihre tiefsten Instinkte – denn der Kleinbürger hat drei echte Leidenschaften: Bier, Klatsch und Antisemitismus. Das wird ihm hier alles reichlich geboten: Bier in den Versammlungen, Klatsch in den Blättern und Radau-Antisemitismus in den großmäuligen Parolen der Partei. Was ist nun an diesem Getriebe revolutionär? Junge Leute, die tagaus, tagein im Büro sitzen; Studenten, die mit ihren paar Groschen kaum das Brotstudium bezahlen können, von echtem Studium ist schon lange nicht mehr die Rede; Arbeitslose, denen jede Abwechslung recht ist . . . aus solchen Menschen setzen sich die <Sturm-Abteilungen> zusammen, die vor Gericht nicht einmal soviel Mut haben, auch nur den Namen aufrechtzuerhalten. «Wir SA-Leute sind Sportabteilungen . . . was dachten Sie?» Die Deutschen sind stets ein Gruppenvolk gewesen; wer an diesen ihren tiefsten Instinkt appelliert, siegt immer. Uniformen; Kommandos; Antreten; Bewegung in Kolonnen . . . da sind sie ganz. Der Zulauf zu diesen sehr risikolosen und romantisch scheinenden Unternehmungen ist groß; das moderne Leben mechanisiert die Menschen, das Kino allein kann das Bedürfnis nach Abwechslung nicht befriedigen. Also rauf auf die Lastwagen!

Wenn diese nationalsozialistische Bewegung eine echte Volksbewegung, eine revolutionäre Bewegung wäre, wenn eine rechte Revolution alte Rechtsbegriffe hinwegschwemmte und zur Durchsetzung ihres Systems eine Diktatur errichtete – so könnte man das sauber bekämpfen. Wer für den Klassenkampf eintritt, kann sich nicht grundsätzlich gegen Diktaturen wenden, höchstens gegen die Ziele, für die sie eingesetzt werden. Ein Belagerungszustand kann unter Umständen politisch zu bejahen sein – es kommt auf die Idee an, die ihn geboren hat. Von einer revolutionären Idee ist jedoch bei den Nazis nicht das Leiseste zu bemerken. Ich nehme hier ausdrücklich die ihnen nicht unmittelbar angeschlossenen und noch sehr einflußlosen Gruppen aus, die zunächst im geistigen Kampf stehen: die Handvoll Leute um Jünger, Schauwecker und die andern. Ich kann zwar nicht sehen, was damit gewonnen ist, dass man mit Ausdrücken wie <magisch> und <mitteleuropäischer Raum> um sich wirft . . . auch die Vokabel <Fronterlebnis> wird ja wohl nicht über die wahnwitzige Güterverteilung der kapitalistischen Gesellschaftsunordnung hinweghelfen – Romantiker glauben immer, wenn sie bewegt seien, bewegten sie auch schon dadurch die Welt. Selbst echte seelische Erschütterung ist noch kein Beweis für die Nützlichkeit und den Wert einer Idee. Die Straßennazis lassen von dieser Geistigkeit auch nicht einen Hauch verspüren. Politische Kinder . . . «Politische Kinder», heißt es einmal bei Scherr, «welchen man ja, vorab in Deutschland, bis zur Stunde einbilden, einpredigen, einschwindeln konnte und kann, Revolutionen würden willkürlich gemacht, von Sprudel- und Strudelköpfen, von Habenichtsen und Taugenichtsen, von einer Handvoll <Literaten, Advokaten und Juden>, willkürlich gemacht und aus purem Mutwillen.»

Und nun tobt das gegen einen <Bolschewismus> der nicht einmal da ist; denn die Arbeiter sind gespalten, und die typische Angestelltengesinnung haben die Kommunisten, von Moskau leider sehr falsch belehrt, in Deutschland niemals zu erfassen vermocht. Dergleichen ist wohl auch unvorstellbar für ein russisches Gehirn, aber nicht minder real. Die kommunistischen Parolen holen vielleicht die Arbeiter aus den Betrieben, niemals aber die Angestellten aus den Büros. Und ohne die kann man keine Revolution machen. Die Nazis terrorisieren viele kleine und manche Mittelstädte, und zwar tun sie das mit der Miene von Leuten, die ungeheuer viel riskieren; sie machen immer ein Gesicht, als seien sie und ihre Umzüge wer weiß wie illegal. Sie sind aber durchaus legal, geduldet, offiziös. Und hier beginnt die Schuld der Republik: eine Blutschuld. Polizei und Richter dulden diese Burschen, und sie dulden sie in der durchaus richtigen Anschauung: «Mitunter ist es ja etwas reichlich, was hier getrieben wird. Keinen Totschlag! Nicht immer gleich schießen . . . Aber, trotz allem: Diese da sind Blut von unserm Blut, sie sind nicht gegen, sondern für die Autorität – sie sind, im allertiefsten Grunde, für uns, und sie sind nur deshalb nicht ganz und gar für uns, weil wir ihnen nicht stramm genug sind und zu sehr republikanisch. Wir möchten ja auch gerne . . . aber wir dürfen nicht . . . Diese lächerlichen republikanischen Minister . . . die Geheimräte da oben am grünen Tisch . . . wir möchten ja ganz gerne. Und tun unser Möglichstes. Zurücktreten! Nicht stehen bleiben! Na ja . . . aber es sind unsre, unsre, unsre Leute.»

Es sind ihre Leute. Es sind so sehr ihre Leute, dass die verschiedenartige Behandlung, die Kommunisten und Nationalsozialisten durch Polizei und Rechtsprechung erfahren, gradezu grotesk ist. Man stelle sich einmal vor, was geschähe, wenn in der <Weltbühne> stände, man müsse den Führer der Zentrumspartei zum <Schweigen bringen . . . Nie davon sprechen – immer daran denken> –: zwölf Juristen erster Klasse zerbrächen sich die Dialektik, um aus diesen Sätzen herauszulesen, was sie für eine Verurteilung brauchten, und die Urteilsbegründung wäre eine reine Freude für jeden Kandidaten der großen Staatsprüfung. Man stelle sich vor, was geschähe, wenn – wie es umgekehrt in Schweidnitz geschehen ist – ein jüdischer Angeklagter in einem Strafprozeß die Geschmacklosigkeit besäße zu sagen: «Der Regierungsvertreter lächelt mich dauernd so hämisch an, wie das nur Gojims zu tun pflegen» – mit Recht ließe der Vorsitzende den Sprecher abführen, und der Prozeß ginge, was ja zulässig ist, ohne den Angeklagten zu Ende. Und man stelle sich vor, was geschähe, wenn der Vorsitzende dies zu tun unterließe. Aufforderung zur Berichterstattung an den Aufsichtführenden, Bericht ans Justizministerium, <anderweitige Verwendung> des Richters und wahrscheinlich unter Anwendung der üblichen Mittel: Pensionierung. Linksleute sind vogelfrei. Führen die Arbeiter einen der ihren zu Grabe, den üble Gefängnisärzte zu Tode gequält haben, dann stürzen sich hundert Polizisten dazwischen, «unter Anwendung des Gummiknüppels», wie es in den polizeiseligen Blättern der Mitte heißt.

Die scheuen sich, die Wahrheit zu sagen: es wird geprügelt, wie die Kosaken nicht saftiger geprügelt haben. Brüllen die Nationalsozialisten die Straßen entlang, so wird zwar von den Polizeibeamten nicht grade salutiert, aber sie lassen den Zug lächelnd passieren. Jugend muß sich austoben . .- . Hiervon gibt es nur sehr wenige Ausnahmen. Auf den Straßen fließt Blut, und die Republik unternimmt nichts, um dem Einhalt zu tun. Von Mordandrohungen schon gar nicht zu sprechen. Nach dem neuen Schutzgesetz, das diese Republik nötig hat, kann jeder satirische Vers gegen den Portier des Reichskanzlerpalais einem Staatsanwalt die Karriere verbessern; auf der andern Seite können die Nazis gegen <nichtbeamtete> Publizisten Drohungen ausstoßen, die selbst unter dem Seligen klar und eindeutig unter den § 111 des Strafgesetzbuches gefallen wären (Aufforderung zur Begehung strafbarer Handlungen). Heute geht das als Redeblümchen und Würze der Propaganda glatt durch. Und kommt es selbst einmal zu einem Prozeß: wie beschämend sehen diese Prozesse aus! Die Zeugen sind, wenn sie vom Reichsbanner oder gar aus Arbeiterkreisen kommen, die wahren Angeklagten, die Anwälte der Nazis treten wie die Staatsanwälte auf, und die Staatsanwälte sind klein und häßlich und kaum zu sehen. Die Richtersprüche entsprechend. Das große Wort vom <Landfriedensbruch> hat hier keine Geltung; und wenn eine ganze Stadt von den Hitlerbanden auf den Kopf gestellt wird, so erscheint das in den Begründungen der Freisprüche als harmlose Bierhausprügelei. Kein Wunder, wenn diesen Knaben der Kamm schwillt: sie riskieren ja nichts. Um so mehr riskiert der Arbeiter. Eifrige Polizeipräsidenten verhängen über ihren Machtbereich jedesmal einen kleinen privaten Belagerungszustand, wenn es bei einem Fabrikstreit Randal gibt, und wie da gehauen, geprügelt, verhaftet wird, daran ändert auch das Vokabular nichts, das dann von <zwangsgestellt> spricht. Der Zörgiebels gibt es viele im Reich, und alle, alle sehen nur nach links. Von rechts her scheint keine Gefahr zu drohen. Die Redakteure der <Roten Fahne> verfügen über ein reiches Schimpfwörterbuch, die Hitlergarden verfügen über Waffen, Autos und Geld . . . das ist der Unterschied.

Der Landfrieden aber wird bei uns nur von links her gebrochen. Es ist eine Schande. Solange solche Männer wie Klausener in den preußischen Ministerien, wo es noch am liberalsten zugeht, die Personalpolitik machen, kann das nicht besser werden. Einen deutschen Landfrieden gibt es nicht mehr. Stände heute ein Erzberger oder ein Maximilian Harden auf und sprächen sie in den Mittelstädten der Provinz und nun gar in Sachsen und Bayern: sie würden abermals niedergeschlagen werden. Vielleicht machte die Ortspolizei schwache Versuche, sie zu schützen; vor den Richtern kämen die Mörder mit einer vergnügten Verhandlung davon. Kein Wunder. Man höre sich die Vorlesungen der Universitäten an, man sehe die dort von den Behörden geduldeten Umtriebe, und man wird sich nicht wundem, dass eine so vorgebildete Richterschaft die Verbrechen der Nationalsozialisten im Herzen und im Grunde bejaht. Diese Unabsetzbaren halten derartige Morde für den Ausfluß des Volkswillens. Strafen? Die sind für die Arbeiter. Was die öffentliche Meinung anlangt, so geht sie mit den Völkischen zu milde um. Es liegt das zunächst an dem berliner Aberglauben, der Kurfürstendamm sei die Welt, und solange eine Reinhardt-Premiere nicht gestört würde, könne das Ganze doch unmöglich so schlimm sein. Die sehen die Gefahr immer erst, wenn ihnen die Gegner auf den Teppich des Eßzimmers spucken. Siegfried Jacobsohn hat mir einmal von Konrad Haenisch erzählt, wie er den in der Nacht vor dem Kapp-Putsch im Theater traf: der Gute lächelte und winkte auf alle Fragen beschwichtigend ab . . . Am nächsten Tage saßen die Herren im Auto, und Berlin wehrte sich allein. An dem völkischen Teil der deutschen Industrie hängt der Vorwurf, dass sie Mörder finanziert; sie wird diesen Vorwurf lächelnd einstecken wie ihre Tantiemen. Denn noch nie haben sich diese Menschen ein Geschäft durch die <Moral> verderben lassen. So wird unsre Luft verpestet. Und wenn wir uns diese einseitig geschützte Republik ansehen, diese Polizeibeamten und diese Richter, dann entringt sich unsern Herzen ein Wunsch:

Gebt uns unsern Kaiser wieder!

Erstveröffentlichung unter dem Namen Ignaz Wrobel, Die Weltbühne vom 13. Mai.1930, Nr. 20, S. 718. Zitiert nach: Kurt Tucholsky, Gesammelte Werke, Dreibändige Ausgabe (Dünndruckpapier), Deutscher Bücherbund, Band III (1929 – 1932), Seite 439 – 443.

Kurt Tucholsky 1928 in Paris
Grafik Hans Hillmann

Kurt Tucholsky. Tucholskys Rezepte gegen Grippe

Rezepte gegen Grippe. Beim ersten Herannahen der Grippe, erkennbar an leichtem Kribbeln in der Nase, Ziehen in den Füßen, Hüsteln, Geldmangel und der Abneigung, morgens ins Geschäft zu gehen, gurgele man mit etwas gestoßenem Koks sowie einem halben Tropfen Jod. Darauf pflegt dann die Grippe einzusetzen. Die Grippe – auch <spanische Grippe>, Influenza, Erkältung (lateinisch: Schnuppen) genannt – wird durch nervöse Bakterien verbreitet, die ihrerseits erkältet sind: die sogenannten Infusionstierchen. Die Grippe ist manchmal von Fieber begleitet, das mit 128° Fahrenheit einsetzt; an festen Börsentagen ist es etwas schwächer, an schwachen fester – also meist fester. Man steckt sich am vorteilhaftesten an, indem man als männlicher Grippekranker eine Frau, als weibliche Grippekranke einen Mann küßt – über das Geschlecht befrage man seinen Hausarzt. Die Ansteckung kann auch erfolgen, indem man sich in ein Hustenhaus (sog. <Theater>) begibt; man vermeide es aber, sich beim Husten die Hand vor den Mund zu halten, weil dies nicht gesund für die Bazillen ist. Die Grippe steckt nicht an, sondern ist eine Infektionskrankheit. Sehr gut haben meinem Mann ja immer die kalten Packungen getan; wir machen das so, dass wir einen heißen Grießbrei kochen, diesen in ein Leinentuch packen, ihn aufessen und dem Kranken dann etwas Kognak geben – innerhalb zwei Stunden ist der Kranke hellblau, nach einer weiteren Stunde dunkelblau. Statt Kognak kann auch Möbelspiritus verabreicht werden. Fleisch, Gemüse, Suppe, Butter, Brot, Obst, Kompott und Nachspeise sind während der Grippe tunlichst zu vermeiden – Homöopathen lecken am besten täglich je dreimal eine Fünf-Pfennig-Marke, bei hohem Fieber eine Zehn-Pfennig-Marke. Bei Grippe muß unter allen Umständen das Bett gehütet werden – es braucht nicht das eigene zu sein. Während der Schüttelfröste trage man wollene Strümpfe, diese am besten um den Hals; damit die Beine unterdessen nicht unbedeckt bleiben, bekleide man sie mit je einem Stehumlegekragen. Die Hauptsache bei der Behandlung ist Wärme: also ein römisches Konkordats-Bad. Bei der Rückfahrt stelle man sich auf eine Omnibus-Plattform, schließe aber allen Mitfahrenden den Mund, damit es nicht zieht. Die Schulmedizin versagt vor der Grippe gänzlich. Es ist also sehr gut, sich ein siderisches Pendel über den Bauch zu hängen: schwingt es von rechts nach links, handelt es sich um Influenza; schwingt es aber von links nach rechts, so ist eine Erkältung im Anzuge. Darauf ziehe man den Anzug aus und begebe sich in die Behandlung Weißenbergs. Der von ihm verordnete weiße Käse muß unmittelbar auf die Grippe geschmiert werden; ihn unter das Bett zu kleben, zeugt von medizinischer Unkenntnis sowie von Herzensroheit. Keinesfalls vertraue man dieses geheimnisvolle Leiden einem sogenannten <Arzt> an; man frage vielmehr im Grippefall Frau Meyer. Frau Meyer weiß immer etwas gegen diese Krankheit. Bricht in einem Bekanntenkreis die Grippe aus, so genügt es, wenn sich ein Mitglied des Kreises in Behandlung begibt – die andern machen dann alles mit, was der Arzt verordnet. An hauptsächlichen Mitteln kommen in Betracht: Kamillentee. Fliedertee. Magnolientee. Gummibaumtee. Kakteentee. Diese Mittel stammen noch aus Großmutters Tagen und helfen in keiner Weise glänzend. Unsere moderne Zeit hat andere Mittel, der chemischen Industrie aufzuhelfen. An Grippemitteln seien genannt: Aspirol. Pyramidin. Bysopeptan. Ohrolax. Primadonna. Bellapholisiin. Aethyl-Phenil-Lekaryl-Parapherinan-Dynamit-Acethylen-Koollomban-Piporol. Bei letzterem Mittel genügt es schon, den Namen mehrere Male schnell hintereinander auszusprechen. Man nehme alle diese Mittel sofort, wenn sie aufkommen – solange sie noch helfen, und zwar in alphabetischer Reihenfolge, ch ist ein Buchstabe. Doppelkohlensaures Natron ist auch gesund. Besonders bewährt haben sich nach der Behandlung die sogenannten prophylaktischen Spritzen (lac, griechisch; so viel wie <Milch> oder <See>). Diese Spritzen heilen am besten Grippen, die bereits vorbei sind – diese aber immer. Amerikaner pflegen sich bei Grippe Umschläge mit heißem Schwedenpunsch zu machen; Italiener halten den rechten Arm längere Zeit in gestreckter Richtung in die Höhe; Franzosen ignorieren die Grippe so, wie sie den Winter ignorieren, und die Wiener machen ein Feuilleton aus dem jeweiligen Krankheitsfall. Wir Deutsche aber behandeln die Sache methodisch: Wir legen uns erst ins Bett, bekommen dann die Grippe und stehen nur auf, wenn wir wirklich hohes Fieber haben: dann müssen wir dringend in die Stadt, um etwas zu erledigen. Ein Telefon am Bett von weiblichen Patienten zieht den Krankheitsverlauf in die Länge. Die Grippe wurde im Jahre 1725 von dem englischen Pfarrer Jonathan Grips erfunden; wissenschaftlich heilbar ist sie seit dem Jahre 1724. Die glücklich erfolgte Heilung erkennt man an Kreuzschmerzen, Husten, Ziehen in den Füßen und einem leichten Kribbeln in der Nase. Diese Anzeichen gehören aber nicht, wie der Laie meint, der alten Grippe an – sondern einer neuen. Die Dauer einer gewöhnlichen Hausgrippe ist bei ärztlicher Behandlung drei Wochen, ohne ärztliche Behandlung 21 Tage. Bei Männern tritt noch die sog, <Wehleidigkeit> hinzu; mit diesem Aufwand an Getue kriegen Frauen Kinder. Das Hausmittel Cäsars gegen die Grippe war Lorbeerkranz-Suppe; das Palastmittel Vanderbilts ist Platinbouillon mit weichgekochten Perlen. Und so fasse ich denn meine Ausführungen in die Worte des bekannten Grippologen Professor Dr. Dr. Dr. Ovaritius zusammen: Die Grippe ist keine Krankheit – sie ist ein Zustand –! 

Zitiert nach der dreibändigen Ausgabe Kurt Tucholsky, Gesammelte Werke, Band III (Dünndruckausgabe), Seite 777-779. Zuerst erschienen unter dem Namen Peter Panter in der Vossischen Zeitung, am 3. Februar 1931.

Grafik Hans Hillmann
Keine Bürste ohne Würste

Frau Friedrich im Lande der Pandemie

PDF Frau Friedrich im Lande der Pandemie

Grafik Hans Hillmann

Frau Friedrich im Lande der Pandemie. Frau Friedrich von der FFA hat es wirklich schwer. Ihre Arbeit bei der FFA ist: Die Erfassung der Umsatzzahlen der Kinos. Nun finden seit fast 12 Monaten in den Kinos keine Umsätze mehr statt. Das weiß auch Frau Friedrich. Das weiß auch der Chef von Frau Friedrich. Sein Name tut hier nichts zur Sache. Vermutlich ein Mann. Warum sollte es anders sein? Die FFA ist eine Staatsveranstaltung. Sie soll den Bürgern dienen. Den Bürgern dienen ist das eine. Aber wer dauerhaft dienen und dafür auch bezahlt werden will, der muß seine Tätigkeit, wenn sie nicht durch Wirkung in Erscheinung tritt, dokumentieren, präsentieren, legitimieren. Nun sind die Kinos seit 12 Monaten, mit kleinen Unterbrechungen, geschlossen. Umsätze finden nicht statt. Und dennoch gibt es Menschen, deren Tätigkeit darin besteht, die (nicht vorhandenen Umsätze) zu erfassen, zu dokumentieren, zu präsentieren und damit ihre Tätigkeit zu legitimieren. Frau Friedrich von der FFA könnte einfach, wie die Kinobesitzer und Kinoangestellten schön zu Hause sitzen und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen, wären da nicht die Gesetze, in denen eine solche Auszeit nicht vorgesehen ist. Also geht sie täglich an ihren Nichtarbeitsplatz und schickt an die vorhandenen Kinos (geschätzt 3001 und mehr) die Aufforderung zur Nullmeldung. Aktuell für die Monate Januar und Februar 2021. Und keiner in der FFA oder anderswo kann diesen Unsinn stoppen, wollte er oder vielleicht sogar sie, es. Der Präsident oder die Präsidentin von der FFA? Man weiss es nicht. Und so schickt Frau Friedrich von der FFA weiter ihre Aufforderungen zur Umsatzmeldung in die Lande. Man kann sich schließlich nicht nur mit dem Impfen und der Früherkennung der Krankheiten beschäftigen. Es muß auch andere Tätigkeiten im Lande der Pandemie geben! Jawoll! Frau Friedrich von der FFA hat es wirklich schwer. 20. März 2021 Jens Meyer vom 3001 Kino in Hamburg.