Hallo Eugen, der Roman von Tucholsky wurde mehrfach verfilmt. Eine „Verfilmung“ stammt von Kurt Hoffmann. Sie kam 1963 ins Kino. Da war ich siebzehn und an solchen Themen durchaus interessiert. Doch irgendwie ist dieser Film an mir vorbeigegangen. Jahre später fiel mir dann die „Filmkritik“ vom Dezember 1963 in die Haende. Dort hatte der beruehmte Filmkritiker (beruehmt durch sein loses Mundwerk) Uwe Nettelbeck dieses Produkt zerissen. Jetzt kommt der Originalton von damals:
»Kurt Hoffmann hat Tucholskys Vorlage alle Unbeschwertheit genommen, ihr erotisches Fluidum zerstoert: Alles ist dumpf in traegem bundesrepublikanischem Wohlstandsmillieuu angesiedelt, schmeckt nach Ansichtspostkarten und buergerlicher Moral. Kaum sind die drei im Bett, geht das Nachttischlaempchen aus. Hoffman transponiert die Angelegenheit in die Zeit der Vogelfluglinie und erreicht das ihm moegliche Hoechstmaß an kritischer Einsicht, wenn er feststellt, daß es in Schweden deutsche Touristen gibt, die Bier trinken (uwe).« (uwe) war das Kuerzel unter dem Uwe Nettelbeck in der »Filmkritik« von Enno Patalas und Wilfried Berghahn schrieb. Die Kritik erschien im Dezemberheft 1963. Die »Filmkritik« hatte das Format, das auch Schulhefte (Din A 5) in dieser Zeit hatten, erschien monatlich und kostete im Einzelhandel 1.– DM. (In diesem Einzelhandel ist mir die »Filmkritik« nie begegnet).
Bei der spaeteren Besichtigung des Filmes mußte ich feststellen, Uwe Nettelbeck hatte sich geirrt. In dem Film von Kurt Hoffmann gibt es keine Nachttischlampe im Schlafzimmer. Und nun kommst Du, J.
(Zeichen 8.046) Kurt Tucholsky DIE HOCHTRABENDEN FREMDWÖRTER
In der Redaktionspost lag neulich ein Brief. «Liebe Weltbühne! Wenn ich diese Zeilen an dich richte, so bitte ich in Betracht zu ziehen, daß ich nicht ein Zehntel so viel Bildung besitze wie deine Mitarbeiter. Ich gehöre vielleicht zu den primitivsten Anfängern deiner Zeitschrift und bin achtzehn Jahre alt. Dieses schreibe ich dir aber nur, damit du dich über meine folgenden Zeilen nicht allzu lustig machst.
Aus deinen Aufsätzen habe ich ersehen, daß du trotz aller Erhabenheit über die politischen Parteien doch mit den Linksradikalen am meisten sympathisierst.
Schreibst du auch für einen Proleten, der sich in einem Blatt orientieren will, daß er objektiv urteilt? Für den aber ist es, was für den Fuchs die Weintrauben. Also: much to high.
Ich selbst bin auch nur ein Autodidakt und muß öfter das Lexikon zur Hand nehmen, wenn ich die Artikel verfolge. Wenn du darauf Wert legst, die Sympathie und das Interesse der revolutionären Jugend und der einfachen Arbeiterschaft zu erwerben, so sei gelegentlich sparsamer mit deinen hochtrabenden Fremdwörtern und deinen manchesmal unverdaulichen philosophischen Betrachtungen.
Hochachtungsvoll Erna G.»
Hm. Hör mal zu – die Sache ist so:
Etwa die gute Hälfte aller Fremdwörter kann man vermeiden; man solls auch tun – und daß du keine «Puristin» bist, keine Sprachreinigerin, keine von denen, die so lange an der Sprache herumreinigen, bis keine Flecke mehr, sondern bloß noch Löcher da sind, das weiß ich schon. Ich weiß auch, daß es wirklich so etwas wie «hochtrabende» Fremdwörter gibt; wenn einer in Deutschland «phänomenologisches Problem» schreibt, dann hat er es ganz gern, wenn das nicht alle verstehn. So wie sich ja auch manche Schriftsteller mit der katholischen Kirche einlassen, nur damit man bewundre, welch feinen Geistes sie seien . . . Soweit hast du ganz recht. Aber nun sieh auch einmal die andre Seite.
Es gibt heute in Deutschland einen Snobismus der schwieligen Faust, das Fremdwort «Snobismus» wollen wir gleich heraus haben. Es gibt da also Leute, die, aus Unfähigkeit, aus Faulheit, aus Wichtigtuerei, sich plötzlich, weil sie glauben, da sei etwas zu holen, den Arbeitern zugesellen, Leute, die selber niemals mit ihrer Hände Arbeit Geld verdient haben, verkrachte Intellektuelle, entlaufene Volksschullehrer, Leute, die haltlos zwischen dem Proletariat der Arme und dem des Kopfes, zwischen Werkstatt und Büro hin- und herschwanken – und denen nun plötzlich nichts volkstümlich genug ist. Maskenball der Kleinbürger; Kostüm: Monteurjacke. Nein, du gehörst nicht dazu – ich erzähle dir nur davon. Und da hat nun eine Welle von «Arbeiterfreundlichkeit» eingesetzt, die verlogen ist bis ins Mark.
Man muß scharf unterscheiden:
Schreibt einer für die Arbeiter, für eine Leserschaft von Proletariern, so schreibe er allgemeinverständlich. Das ist viel schwerer als dunkel und gelehrt zu schreiben – aber man kann vom Schriftsteller verlangen, daß er gefälligst für die schreibe, die sein Werk lesen sollen. Der Proletarier, der abends müde aus dem Betrieb nach Hause kommt, kann zunächst mit so einem Satz nichts anfangen:
«Die vier größten Banken besitzen nicht ein relatives sondern ein absolutes Monopol bei der Emission von Wertpapieren.»
Dieser Satz aber ist von Lenin («Der Imperialismus als jüngste Etappe des Kapitalismus»), und der Satz ist, bei aller Klarheit des Gedankens, nicht für die Straßenpropaganda geschrieben. Denn hier läuft die Grenzlinie:
Die einen betreiben den Klassenkampf, indem sie ihre Schriften verteilen lassen, sie wirken unmittelbar, sie wenden sich an jedermann – also müssen sie auch die Sprache sprechen, die jedermann versteht. Die andern arbeiten für den Klassenkampf, indem sie mit dem wissenschaftlichen Rüstzeug der Philosophie, der Geschichte, der Wirtschaft zunächst theoretisch abhandeln, wie es mit der Sache steht. Lenin hat beides getan; der Fall ist selten.
Die zweite Art Schriftstellerei kann nun nicht umhin, sich der Wörter und Ausdrücke zu bedienen, die bereits vorhanden sind. Ich habe mich stets über die Liebhaber der Fachausdrücke lustig gemacht, jene Affen des Worts, die da herumgehen und glauben, wer weiß was getan zu haben, wenn sie «Akkumulation des Finanzkapitals» sagen, und denen das Maul schäumt, wenn sie von «Präponderanz der innern Sekretion» sprechen. Über die wollen wir nur lachen.
Vergiß aber nicht, daß Wörter Abkürzungen für alte Denkvorgänge sind; sie rufen Gedankenverbindungen hervor, die bereits in den Menschen gleicher Klasse und gleicher Vorbildung schlummern und auf Anruf anmarschiert kommen – daher sich denn auch Juristen oder Kleriker oder Kommunisten untereinander viel leichter und schneller verständigen können als Angehörige verschiedener Gruppen untereinander.
Es ist nun für einen Schriftsteller einfach unmöglich, alles, aber auch alles, was er schreibt, auf eine Formel zu bringen, die jedem, ohne Bildung oder mit nur wenig Bildung, verständlich ist. Man kann das tun.
Dann aber sinkt das Durchschnittsmaß des Geschriebenen tief herunter; es erinnert das an den Stand der amerikanischen Tagesliteratur, die ihren Ehrgeiz daran setzt, auch in Bürgerfamilien gelesen werden zu können, bei denen kein Anstoß erregt werden darf.
Und so sieht diese Literatur ja auch aus. Will man aber verwickelte Gedanken, die auf bereits vorhandenen fußen, weil keiner von uns ganz von vorn anfangen kann, darstellen, so muß man sich, wenn nicht zwingende Gründe der Propaganda vorliegen, der Fachsprache bedienen. Keiner kommt darum herum.
Auch Lenin hat es so gehalten. Oder glaubst du, daß seine Schrift «Materialismus und Empiriokritizismus» (*) für jeden Proletarier ohne weiteres verständlich sei? Das ist sie nicht. Wer über Kirchengeschichte des zweiten Jahrhunderts schreibt, kommt ohne die lateinischen Ausdrücke der damaligen Zeit nicht aus.
Soll er eine Übersetzung beigeben? Schopenhauer platzte vor Wut bei dem Gedanken, solches zu tun; er wurzelte aber – bei aller Größe – in dem Ideal der humanistischen Bildung seiner Zeit und seiner Klasse; er hatte recht und unrecht.
Es gibt heute bereits eine Menge Schriftsteller und Zeitschriften, die jedem fremdsprachigen Zitat die Übersetzung folgen lassen; es ist Geschmackssache.
Ich tue es selten; ich zitiere entweder gleich auf deutsch oder manchmal, wenns gar nicht anders geht, lasse ich die fremdsprachigen Sätze stehn – dann nämlich, wenn ich das, was in den fremden Wörtern schlummert, nicht übertragen kann.
Man kann alles übersetzen – man kann nicht alles übertragen. Es gibt zum Beispiel gewisse französische Satzwendungen, Wörter . . . die sind so durchtränkt von Französisch, daß sie auf dem Wege der Übersetzung grade das verlieren, worauf es ankommt: Klang, Melodie und Geist.
Nun kenne ich das Gefühl sehr wohl, das einen beseelt, der solches liest und der nicht oder nicht genügend Französisch kann. Man kommt sich so ausgeschlossen vor. Man fühlt die eigne Schwäche; man wird böse, wütend . . . und man wälzt diese Wut, die eigentlich der eignen Unkenntnis (verschuldet oder nicht) gilt, auf den andern ab.
Ich spreche zum Beispiel miserabel Englisch und verstehe es kaum, und es hat jahrelang gedauert, bis ich mit dem Verstande dieses dumpfe Wutgefühl aus mir herausbekommen habe. Lese oder höre ich heute Englisch, so schmerzt es mich, es nicht gut zu verstehen – aber ich bin auf den Schreibenden oder Sprechenden nicht mehr böse. Er kann doch nichts dafür, daß ich es so schlecht gelernt habe.
Siehst du, so ist das.
Es ist kein Verdienst der Söhne, wenn ihre Väter so viel Geld hatten, daß sie die Söhne aufs Gymnasium schicken konnten, gewiß nicht und was in den meisten Fällen dabei herauskommt, wissen wir ja auch. Aber unterscheide gut, Erna, zwischen den beiden Gattungen, die da Fremdwörter gebrauchen: den Bildungsprotzen, die sich damit dicke tun wollen, und den Schriftstellern, die zwischen «induktiv» und «deduktiv» unterscheiden wollen und diesen Denkvorgang mit Worten bezeichnen, die geschichtlich stets dieser Bezeichnung gedient haben. Die Intellektuellen eines Volkes sollen nicht auf dem Niveau von schnapsdumpfen Gutsknechten stehn – sondern der Arbeiter soll in Stand gesetzt werden, die intellektuellen Leistungen der Gemeinschaft zu verfolgen. Nicht: reinlich gewaschene Körper sind ein Abzeichen von Verrat am Klassenkampf – sondern: alle sollen in die Lage gesetzt werden, sich zu pflegen. Den Körper, Erna, und den Geist.
Zuerst erschienen in WB (Die Weltbühne), 16/573 ―15.04.30, III/418 Abgeschrieben im Dritten Band der Gesamtausgabe (Dünndruck, Seite 418 – 421)
Leider hatte ich bei meinen Sonderzeichen nicht das verwandte Zeichen in dem Buchdruck. Deswegen habe ich diese Zeichen genommen: « ―»
Hier die Wiederholung:„Soll er eine Übersetzung beigeben? Schopenhauer platzte vor Wut bei dem Gedanken, solches zu tun; er wurzelte aber – bei aller Größe – in dem Ideal der humanistischen Bildung seiner Zeit und seiner Klasse; er hatte recht und unrecht:“
Damit man es nicht suchen muß: (*)Empiriokritizismus= (Duden Fremdwörterbuch) Seite 265 = erfahrungskritische Erkenntnistheorie, die sich unter Ablehnung der Metaphysik allein auf die kritische Erfahrung beruft. Präponderanz= Duden Fremdwörterlexikon Seite 799 = Übergewicht (z.B. eines Staates)Sekretion= (Duden Fremdwörterbuch) Seite 901- 1.) (Med.) = Vorgang der Produktion und Absonderung von Sekreten durch Drüsen 2.) (Geol.) = das Ausfüllen von Hohlräumen im Gestein durch Minerallösungen. induktiv= Seite 433 (Duden Fremdwörterbuch) 1.) Vom Einzelnen zum Allgemeinen hinführend. 2) Durch Induktion wirkend. deduktiv= Seite 199 (Duden Fremdwörterbuch)= Den Einzelfall aus dem Allgemeinen ableitend.
Hallo Eugen, ich habe den Text in einem alten Kursbuch gefunden. (Kursbuch 56 vom Juni 1979) (gerade 44 Jahre alt geworden). Es gibt ihn leider nicht einzeln. Man muß immer ganze Bücher kaufen. Und das macht die Generation, die letzte, die nach uns kommt, bestimmt nicht. Und deswegen habe ich Dir den Text extra abgeschrieben. Hans Magnus Enzensberger hätte bestimmt nichts dagegen gehabt. Ich habe zwar zweimal Korrektur gelesen, aber der Teufel steckt ja im Detail, wie wir beide wissen. Viel Spass beim Lesen, Jens
Brief an Eugen: Wenn Wahlen etwas aendern wuerden, waeren sie verboten.
Hallo Eugen, ich hatte es ganz vergessen. Erst die Meteorologen haben mich wieder daran erinnert. Ich wollte Dir noch was zu Deinem Text auf dem T-Shirt schreiben. Als Postkarte. Aber dann ist mir eingefallen, dass Du ja mitgeteilt hast, dass Du umgezogen bist.
Ich aber Deine neue Anschrift gar nicht kenne. Also die Meteorologen haben den letzten Orkan mit Windgeschwindigkeiten von 150 km/h, was, wie ich als ehemaliger Schiffsingenieursassistent der OPDR weiss, nicht wenig ist und 12 m hohe Wellen erzeugen kann, was auch nicht wenig ist, jedenfalls haben sie ihm den Namen Eugen gegeben. Also kurz, der Sturm Eugen hat mich daran erinnert, dass ich Dir den Ratschlag geben wollte, das T-Shirt mit der Aufschrift:
»Wenn Wahlen etwas aendern wuerden, waeren sie verboten«
so lange nicht mehr anzuziehen oder zu verwenden, wie die Herkunft dieses Zitates nicht eindeutig geklaert ist. Von Tucholsky stammt das Zitat mit Sicherheit nicht. Wer sagt uns denn, das es nicht vielleicht aus »Mein Kampf« stammt? Genau. Niemand. Obwohl ich der Einzige bin, den ich kenne, der sich durch das Exemplar, das meine Eltern zur Hochzeit 1935 vom Standesbeamten bekommen hatten (anbei ein Foto von meiner Mutter mit ihrer Tochter geb. am 11. August 1937) durchgebissen hatte.
Das war, als die kommentierte Neuauflage (in einem bayrischen Verlag erschienen) herausgekommen war und ich im Rundfunk einer Diskussion von Pädagogen gelauscht habe, die der Frage galt, ob die kommentierte Neuauflage von »Mein Kampf« im Unterricht behandelt werden solle.
Meine Meinung war, aber mir hoert ja keiner zu, unbedingt. Ich hatte bemerkt, dass mir Schulmeister in meiner Schulzeit die Lektuere von Brecht, Tucholsky u. a. auf diese Weise vermiest hatten. Erst im zarten Alter von 50 Jahren habe ich dann begonnen, diese Autoren zu lesen.
Das ist genug fuer heute. Was bleibt, ist die Suche nach dem Erfinder und der Erfinderin dieses Zitates. Von mir ist dagegen folgender Satz:
»Wer ungueltig waehlt, wird wenigstens gezaehlt«
(Zitat von J. in einer Mail an seinen Freund E., nachdem unbekannte Meteorologen am 4. Mai einen Orkan benannt hatten.)
«Achtung Unwetter:
Heute rauscht Sturm Eugen über Deutschland! (das wetter.com)»
Die Kämpfe, die Heine und Börne gegen die Zensur auszufechten hatten, standen unter dem Zeichen des Rotstifts. Der Zensor strich.
Die Kämpfe, die der Film gegen die Zensur auszufechten hat, stehen unter dem Zeichen der Schere. Der Zensor schneidet.
Eine Pressefreiheit gibt es nicht, so man nämlich fragt: «Frei wovon?» Eine Buchfreiheit gibt es so einigermaßen. Jedesmal aber, wenn die Technik ein neues Mittel zur Reproduktion von Meinungsäußerungen erfunden hat, fährt den reaktionären Stieseln ein Schreck ins Gebein. Und jedesmal fallen auch prompt die sogenannten Fortschrittsparteien auf diesen Schreck herein.
«Man kann doch aber nicht jeden Film . . . » Genau, genau so hat einst die fromme Geistlichkeit gesprochen, als die Buchdruckerkunst aufkam und jedes Buch das Imprimatur des Erzbischofs oder seines Landesherrn tragen mußte; damals druckte man nur mit allerhöchster Erlaubnis. Es hat lange gedauert, bis sich die Literatur aus diesen Fesseln befreit hat.
Was Radio und Film heute produzieren, ist chemisch gereinigtes Zeug, das seinen Naturgeschmack verloren hat. Der Äther ist eine einzige große Kinderstube, die Filmleinewand ein Sabberlätzchen, das man dem Baby Masse vorgehängt hat. Immer hübsch ein Löffelchen nach dem andern, und nur Milchbrei.
Es ist, wie am Beispiel des Buches zu sehn, einfach dummes Zeug, zu sagen, dass die gewöhnlichen Strafgesetze nicht ausreichten. Natürlich ist ein Bild eindrucksvoller als der Buchstabe. Wenn aber wirklich Schweinereien fotografiert werden oder Roheiten oder Beleidigungen, so kommt man mit dem Strafgesetz allemal aus. Rundfunk und Radio sind in Mitteleuropa in der Hand der herrschenden Klasse, und da sind sie nicht gut aufgehoben: sie verbiegt die neuen Instrumente, so dass sie lange nicht alles hergeben, was sie hergeben könnten.
Was jene flaue Ausrede von der «Gesinnung der Andersdenkenden» angeht, «die man nicht verletzen dürfe», so ist das Unfug. Man gewöhne die Herren Schulze und Levi daran, dass sie einen Film, der ihnen nicht gefällt, links oder rechts liegen lassen, und daran, dass man eine Antenne auch erden kann. Die Diktatur dieser Mittelmäßigkeiten ist beinah so schlimm wie der kaum noch verhüllte Faschismus, der im Film und im Radio wütet. Diese Zensur besteht aus Frechheit und aus Angst.
Sie hat nicht einmal System.
Der einzige Pol in der Verbote Flucht ist die deutliche Tendenz gegen links: die Aktien könnten wackeln, wenn jemand einmal aufzeigt, was an der Fabrikation einer Glühlampe nun wirklich verdient wird. Von Thema darf nicht gesprochen werden, sagte jener kaiserliche Schutzmann, ergriff seinen Helm und löste die Versammlung auf. Sonst aber ist von einem Grundgedanken bei dieser lächerlichen Zensur nichts zu merken.
Oft ist die Kirche beleidigt, das ist sie ja immer, und ein Scherzgedicht wie das von Klabund über die Heiligen Drei Könige darf zwar gedruckt werden, allerdings nicht ohne dass der Sozialdemokrat Braun in einem jämmerlichen Entschuldigungsschreiben an das Zentrum die Verse «unflätig» nennt – oh, Bebel, Bebel! Gedruckt: ja. Aber im Rundfunk verbreitet werden darf es nicht. Jede Erklärung dieser Inkonsequenz ist eine Lüge. Rundfunk und Film sind einfach wirksamer als das Buch; sie haben sich aber noch nicht ihre Freiheit erkämpft. Also kann man sie knuten, also kann man sie zensurieren.
Lest Bücher! Sie sind kleine Inseln der Freiheit im Meer der Zensur.
Erstveröfffentlichung Ignaz Wrobel, Die Weltbühne, 26.05.1931, Dünndruckausgabe, Kurt Tucholsky. Gesammelte Werke, Drei Bände, Band III 1929-1932, Seite 865-866.
SO VERSCHIEDEN IST ES IM MENSCHLICHEN LEBEN! Ich reiste im Traum nach Kottbus und ließ dortselbst meine Handtasche stehen. Jetzt muß ich zurückträumen und sie holen.
Willst du eine reizende Damenbekanntschaft machen? Vergiß, dich zu rasieren.
Die Militaristen irren. Es ist gar nicht die Aufgabe der Pazifisten, sie zu überzeugen – sie sollen vielmehr in einem Kampf, der kein Krieg ist, besiegt, nämlich daran gehindert werden, über fremdes, ihnen nicht gehöriges Leben zu verfügen. Man mache sie unschädlich; einzusehen brauchen sie gar nichts. Ich bin für militaristischen Pazifismus.
Die meisten berliner Theater- und Kabarett-Abende gehören dem einen oder dem andern Typus an: jüdische Hochzeit oder münchner Atelierfest.
Die Apologetik der katholischen Kirche – : das ist wie ein Luftschiff auf Rädern.
«Wozu noch Lust? Ich liebe ihn doch!» Da war sie neunzehn Jahre. «Wozu noch Liebe? Sie belustigt mich doch!» Da war er vierzig Jahre. Als sie fünfzig wurden, kam er in die zweite Jugend und liebte, wieder. Sie hatte nie aufgehört, zu lieben.
Ein boxender Buchhändler, der mäßige Vorträge über Plato hält -: kein Mensch hörte danach hin. Zieht sich aber derselbe Mann einen Kaplansrock an: dann bibbert das Publikum. Bei den Männern tauchen die alten Kinderideen von der Größe der Kirche auf, und die Damen denken: «Darf er? Er darf nicht. Tut ers? Wenn ja, mit wem? Und warum nicht mit mir?» Wie interessant kann doch Plato sein!
Solch ein friedliches Land -! Da tragen die Polizisten noch Säbel. Welche Hochachtung hat doch der Franzose vor der Sprache! «Il a trouvé ce mot . . . » Das Wort war vorher da, der Autor hat es nur gefunden.
Es gibt Auslandskorrespondenten, die wollen die fremden Völker, zu denen man sie geschickt hat, nicht erkennen. Sie wollen sie durchschauen.
Manche Schriftsteller sammeln große Männer. «Haben Sie schon Mussolini? Ich habe ihn doppelt!»
Sie sprach so viel, dass ihre Zuhörer davon heiser wurden. Nie geraten die Deutschen so außer sich, wie wenn sie zu sich kommen wollen.
Er besuchte alle Premieren – nicht aus Liebe zur Kunst, sondern um als erster Nein sagen zu können.
Lungenhaschee . . . das sieht aus wie: «Haben Sie das gegessen, oder werden Sie das essen?»
Zwei Kriegsminister: Churchill kann Trotzki nur verhöhnen. Aber Trotzki kann Churchill mitdenken.
Gott schuf Kluge, Dumme, ganz Dumme und Geschäftsführer der SPD-Presse.
Die Engländer werden mit ihren Arbeitslosen nicht fertig; die Franzosen quälen ihre Strafgefangenen, die männlichen in Guayana und die weiblichen in Rennes, dass es einen Hund jammern kann; die Jugoslawen quetschen mißliebigen Politikern die Fingernägel ab, die Ungarn den ihren die Hoden, und die Rumänen befassen sich liebevoll mit den gefangenen Frauen – alle, alle aber sind sich darin einig, dass das Sowjetsystem ein verrottetes System sei. So verschieden ist es im menschlichen Leben! Peter Panter.
(Erstveröffentlichung unter dem Namen Peter Panter in Die Weltbühne vom 26. Mai 1931, Buchveröffentlichung in LL = Lerne lachen ohne zu weinen. Zitiert nach Kurt Tucholsky, Gesammelte Werke, Band III, Dünndruckausgabe. Seite 864 – 865) Die Suchmaschine übersetzt: Il a trouvé ce mot = Er hat dieses Wort gefunden. Der VEB Duden von 1984 schreibt: Apologetik = die, – (Verteidigung, bes. der christl. Glaubenslehren)
«Das Englische ist eine einfache, aber schwere Sprache. Es besteht aus lauter Fremdwörtern, die falsch ausgesprochen werden». (Kurt Tucholsky, Seite 833, Dritter Band der Gesamtausgabe)
Neulich
habe ich alte Jahrgänge des <Brenner>
gelesen, einer Zeitschrift, die in Innsbruck erschienen ist und wohl
noch erscheint . . . Das war eine merkwürdige Lektüre.
Es
gibt eine Menge verhinderter Katholiken, meist sind es Juden, denen
ist die katholische Kirche nicht katholisch genug, oder sie erscheint
ihnen überhaupt nicht als katholisch. Ich mag mich nicht
gern mit der
Kirche auseinandersetzen; es hat ja keinen Sinn, mit einer
Anschauungsweise zu diskutieren, die sich
strafrechtlich hat schützen
lassen.
Mit
so unhonorigen Gegnern trete ich nicht gern an. Was aber jene
verhinderten Katholiken angeht, die es gern sein möchten, es aber
nicht sein können und die darunter leiden, wie nur ein Mensch leiden
kann: es sind das nicht nur die forschen Konvertiten, die da toben.
Es ist noch etwas andres.
Da
ist eine ganze Literaturgattung, die schlägt der Welt ununterbrochen
das <Neue
Testament>
auf den Kopf und wundert sich, daß es nicht gut klingt. Das höchste
Pathos blüht hier; kaum einer kann gewaltigere Töne finden als der,
der aufzeigt: Siehe, die Welt lebt nicht,
wie Christus es gelehrt hat. Es gibt nur noch ein Pathos, das höher
ist: das ist das Pathos über Christus hinweg.
Im
<Brenner> nun, dessen Sauberkeit,
Tapferkeit und Reinheit nicht bezweifelt werden kann, gehts hoch her.
Und dabei ist mir etwas aufgefallen.
Da
ist zum Beispiel Theodor Haecker, ein Schriftsteller von beachtlichem
Format, wenn man nicht genau hinsieht. Wenn man aber genauer
hinsieht, dann zeigt sich unter dem Lärm der donnernden Moralpauken
ein kleiner Mann, der es dem Hermann Bahr aber ordentlich gibt, und,
auf einmal, Hosianna, Amen und Ite missa est, sind wir mitten im
fröhlichen Gezänk eines Literaturcafés. Frommer Schwannecke. Es
scheint, als ob diese Sorte Literaten sich erst religiös sichern
müssen, bevor sie loshacken.
Sie
haben nie begriffen, daß es christlich, mehr: daß es philosophisch
wäre, zu schweigen und vorüberzugehn. Ja, wenn ein Gläubiger
aufschreit und dem Wahnwitz der Welt einen Spiegel entgegenhält, von
dem jene nachher sagt, es sei ein Zerrspiegel, weil sie nicht glauben
kann, daß sie so gemein aussähe! Wer dieses aber allmonatlich,
regelmäßig und mit hitziger Wonne tut: der ist kein Christ, und
wenn er zehnmal den ganzen Kierkegaard übersetzt hat. Der ist genau
dasselbe wie Hermann Bahr, nur mit umgekehrtem Vorzeichen.
Und
schließlich ist psychopathische Lebensuntüchtigkeit noch kein
Christentum, und <das Böse> ist kein Schimpfwort. Wenn einer
mit seinem Leben und nun gar mit dem Leben nicht fertig wird, so wird
solch ein Anblick dadurch nicht schöner, daß er sich auf die Bibel
beruft.
Die
geheime Wonne, dem andern aber ordentlich eins zu versetzen, wird
hier durch Moralinsäure legalisiert und durch eine verfälschte
Himmelssüßigkeit, die nach Sacharin schmeckt und durchaus von
dieser Erde stammt. Das Ziel ist vielleicht gut; die Kämpfer sind es
mitnichten. Und die Hälfte ihrer Religion besteht in der Verachtung
der Ungläubigen; das hält warm und ist ein schönes seelisches
Unterfutter.
Viel
Rauch um diesen Brenner. Schade um die reine Flamme.
Der
Zustand der gesamten menschlichen Moral läßt sich in zwei Sätzen
zusammenfassen: We ought to. But we don’t.
Wenn
Stefan Zweig einen erkälteten Magen hat –: schreibt er sich dann
etwas auf die eigne Bauchbinde –?
Das Englische ist eine einfache, aber schwere Sprache. Es besteht aus lauter Fremdwörtern, die falsch ausgesprochen werden.
Scharfe Sozialkritiker sind in ihren Nicht-Vaterländern sehr beliebt, nur dürfen es grade keine Kommunisten sein.
Sonst aber hat es der Deutsche gern, wenn der Amerikaner die amerikanische Kultur demoliert; wir haben uns immer sehr für die Freiheit der andern interessiert.
Man
kann jeden schreibenden Menschen bis ins Mark daran erkennen, wie er
das Wort <ich> setzt. Manche sollten es lieber nicht setzen.
Hitler setzt es. «Wenn ich in Deutschland spreche, so strömen mir
die Menschen zu . . . » Der Ton ist vom Kaiser entlehnt, und das
Ganze hat etwas Gespenstisches: denn dieses <ich> ist überhaupt
nicht da. Den Mann gibt es gar nicht; er ist nur der Lärm, den er
verursacht.
Die einen haben nichts zu essen und machen sich darüber Gedanken, das kann zur Erkenntnis ihrer Lage führen: und das ist dann Marxismus; die andern haben zu essen und machen sich keine Gedanken darüber: und das ist dann die offizielle Religion. So verschieden ist es im menschlichen Leben! (Peter Panter, Die Weltbühne, 14. April 1931, erste Buchveröffentlichung in LL=Lerne Lachen ohne zu weinen)
Die
Suchmaschine übersetzt: We ought to. But we don’t. = Wir sollen.
Aber wir tun es nicht.
Wikipedia
schreibt:
Ite
missa est
=
spätlatteinisch
für Gehet hin,
ihr seid gesandt, wörtlich
geht, das ist
die Entlassung
bzw. Geht, sie
ist gesandt.
In
der deutschsprachigen Fassung Gehet
hin in Frieden,
ist es der
Entlassungsruf
am Ende der
heiligen Messe
im römischen
Ritus. Er wird
vom Diakon
oder Zelebranten
gerufen, die
Gläubigen antworten mit Deo
gratias. Dank
sei Gott,
bzw.
Dank sei Gott dem Herrn.
(Die beiden Sätze (Das Englische ist eine einfache, aber schwere Sprache. Es besteht aus lauter Fremdwörtern, die falsch ausgesprochen werden.) sind herausgerissen aus dem Text: So verschieden ist es im menschlichen Leben. Aus Kurt Tucholsky. Gesammelte Werke, Band III, 1929- 1932, Dünndruckausgabe, Seite 832-834. Zuerst erschienen unter dem Namen Peter Panter, Die Weltbühne, vom 14. April 1931.)
Motto:
Der eigne Hund macht keinen Lärm – er bellt nur. (Alte Weisheit)
Donnerwetter,
ist
das ein Krach! Was ist das?
(Achselzucken.) – «Das
sind Lösers, die Leute, die über uns wohnen. Das ist jeden Abend
so.» Und da sagt ihr nichts? – «Wir
haben schon raufgeschickt: da ist nichts zu machen. Sie haben gesagt,
unseretwegen können sie sich keinen Bodenbelag . . . Himmelkreuz,
man glaubt reineweg, die kommen mit der Decke runter! Nu hör bloß
mal an – der Kalk rieselt richtig . . . Ruhe! – Ruhe!»
Ja,
Kuchen. Was machen die Leute da oben in ihrer Wohnung?
Sprechen
wir nicht von den wildgewordenen Hausfrauen. Die Reinmache-Megären
sind weniger zahlreich geworden; dafür sind auch die Wohnungen von
vernünftigen Familien sauberer. Aber was stampfen, was klopfen, was
rücken die Leute über uns?
Alles,
was man nur mit einem einzigen Sinn wahrnehmen kann, wirkt
merkwürdig; die andern vier Sinne liegen gespannt auf der Lauer, und
das Gehirn ist gezwungen, aus der einen, unvollkommenen Wahrnehmung
alles andere zu kombinieren. Und so kombinieren wir denn, nachdem das
Ohr schmerzlich aufgenommen hat:
Lösers
machen Manöver. Lösers räumen jeden Abend ihre Wohnung aus . . .
sie hängen ihre sämtlichen Einrichtungsgegenstände zum Fenster
hinaus, räumen sie wieder ein . . . Nein, sie rollen zwei kleine
Kanonenkugeln, Andenken aus dem Weltkriege, fröhlichen Gemütes
durch die Korridore. Sie spielen Zirkus: schlagen der Länge lang
hin, stehen wieder auf, schlagen wieder hin . . . Sie haben einen
Kraftmenschen engagiert, der – nu hör doch bloß mal einer an! –
das Büfett aufhebt und probiert, ob es, wenn man es auf den Boden
hinfallen läßt, federt – was machen diese Leute? Ruhe!
Ich
will es dir genau sagen, was sie machen. Dasselbe wie du.
Sie
gehen auf und ab. Sie rücken ein paarmal Möbelstücke hin und her,
was deinem Ohr zweck- und sinnlos erscheint, was aber ganz vernünftig
anmutet, wenn man bei ihnen oben ist. Sie lassen ihre Kinder tollen .
. .
Zugegeben:
es gibt rücksichtslose Wohnungsnarren. Es scheint, dass manche Leute
ihrem am Tage im Geschäft unterdrückten Willen zu Hause
Spielfreiheit geben – da toben sie sich aus. Es gibt ausdauernde
Auf- und Abgeher, solche, die, vom Teufel der Ruhelosigkeit geplagt,
durch die Wohnung jagen . . . es ist so viel unbefriedigtes Gefühl
in dem, was sie so treiben . . . Ja, aber wo sollten sie das alles
tun, wenn nicht zu Hause! Den Tag über ist ihr Leben mit lauter
Schildern umgattert: DU DARFST NICHT! . . . VERBOTEN! . . .
UNTERSAGT! – Einmal, ein einziges Mal will der Mensch das
Überflüssige tun, das dem Leben erst die richtige Würze gibt. Und
da toben sie sich denn aus.
Es
ist ein Jammer. Was ist ein Jammer? Der Wohnungsbau ist ein Jammer.
Denn da wir dem Idealzustand, wo jede Familie ihr Häuschen hat, noch
sehr fern sind, ist die große Mehrzahl aller Leute in den
Großstädten gezwungen, in Mietshäusern zu wohnen – sie sind
schon so froh, wenn sie darin überhaupt eine Wohnung finden. Und was
sind das für Häuser?
Was
die Architekten machen, ist ziemlich klar. Sie bauen die neuen Häuser
aus einer Mischung von kaltgewordener Zigarrenasche und gestoßenen
Ziegeln. Jeder <Fachmann>
wird hier aufbrausen und uns erklären, dass es so ist, dass es nicht
so ist, warum es gar nicht anders sein kann . . . das müssen wir uns
mit Gleichmut anhören. Genau so wie den Lärm über uns, unter uns,
neben uns . . .
Es
muß eine raffinierte Berechnungsmethode geben, nach der die Häuser
grade noch stehenbleiben, wenn jemand das hohe C in ihnen singt. Es
sind liebe Baulichkeiten: niest jemand im Keller, so kann man getrost
auf dem Boden «Zur Gesundheit!»
wünschen, und mit dieser Papparchitektur wird das immer schlimmer.
Großstadthäuser aus den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts
wirken heute schon wie die alten Ritterburgen. Die neuen erzittern,
wenn man sie nur ansieht, und wenn ein ungezogener Knabe in ihnen
aufstampft, dann fallen die Hypotheken vom Dach. Was machen die Leute
bloß da oben – ?
Eine
Lärmsicherung gibt es nicht. Man hat Versuche mit Korkböden
gemacht; die sind teuer, sie dämpfen den Schall wohl – aber sie
ersticken ihn nicht ganz. Und so rumort es über den Köpfen hinweg,
ganze Artillerieregimenter fahren auf und fahren wieder ab – was
machen die Leute bloß?
Du
mußt mit ihnen aufstehen und mit ihnen zu Bett gehen. Du lebst ein
fremdes Leben mit. Stille, das kostbarste Gut, ist dir versagt. Und
wenn sie selbst still sind, wenn sie dicke Teppiche haben, die
Obermieter, wenn sie selbst – o seltener Fall! – aus Rücksicht
für dich Hausschuhe tragen . . . dann ist da noch immer der
schrecklichste der Schrecken.
vomiert «Huhu – huhu – haha – huhu – hiiiii –» Was ist das? Eine Lokomotive im Tunnel? Ach nein. Das ist Fräulein Lieschen Hasensprung, die sich im Gesang übt. Sie gleitet die Skalen gar oftmals hinauf und hinab; sie schleift die Töne im Hals, bis der Hals rauh und die Töne glatt sind, und wenn sie nicht singt, dann spielt sie Klavier. Das Klavier klingt, wie wenn man Wurstpellen auf eine Sardinenbüchse gespannt hat, das Spiel schmeckt nach Wurst und nach Sardinen. Und das geht den ganzen Tag – stunden – – stundenlang . . .
Und wenn sie nicht Klavier spielt, dann vomiert (*) der Lautsprecher, damit die andern Leute auch eine Freude haben. Krach muß sein, sonst macht das ganze Leben keinen Spaß.
Aber
– aber – was machen sie bloß da oben? Rollen die ihren Ofen
durch die Zimmer? Vielleicht haben sie dem Schreibtisch Punkte
aufgemalt, und nun würfeln sie damit . . Oder die lieben Kinderchen
spielen ein gemütliches Spiel, wie das Kinder so tun:
<Schweineschlachten in Oberbayern>
oder <Chaplin und die Flöhe>.
Horch – welch ein Skandal! Unser Kronleuchter zittert und klingelt
mit dem Glas. Man fühlt ordentlich den Boden schwanken. Alles in mir
zittert. So –
So
geht das nicht mehr weiter. Jetzt schreibe ich drei Briefe: einen an
die Polizei, einen an den Hausverwalter und einen an die
rücksichtslosen Mieter. Ich will mir nur noch den Tisch hierher
rücken, die Lampen dahin, so – und den Stuhl hierhin, und noch den
kleinen Rauchtisch daneben – so – und dann gehts los.
Und
unter mir denkt sich einer: «Was macht
dieser Panter da oben eigentlich?»
Er schreibt drei Briefe. Gegen den Lärm. Erstveröffentlichung unter dem Namen Peter Panter in Der Uhu, Das neue Monatsmagazin, Verlag Ullstein, Juni1930, Heft Nr. 9, Seite 89, zitiert nach Kurt Tucholsky, Gesammelte Werke in drei Bänden, Dünndruckausgabe, Band III, Seite 459 – 461. (*) vomieren. Nein das Wort hat sich Tucholsky nicht ausgedacht, es ist sogar in meinem VEB Duden von 1984 abgedruckt und steht: Vomieren = sich erbrechen. Na sowas.
Apropos Alexanderplatz (Nach wem ist er benannt, der Berliner Alexanderplatz?)
Hallo Wiebeke, das muss eine Nacht im Januar oder Februar gewesen sein. Wir, die Deutschen waren damals noch zu zweit, (bzw. nach einer anderen Theorie auch zu dritt. Wolfgang Neuss, der Stern meiner Jugend und Tucholskyleser (Gripsholm), hat daraus gemacht: Eine typische Tucholsky Sauerei, was solln wir hier denn zu Dritt? Ich hatte jedenfalls gerade mein Stipendium von meinem Konto bei der Sparkasse der Stadt Berlin West abgeholt (440,– DM) und ueber den Bahnhof Friedrichstrasse die Stadt in Richtung des Ostteils verlassen, der sich damals laecherlicherweise Hauptstadt der DDR nannte. Ich weiss nicht mehr wie, aber mein letzter Aufenthalt war in der Muenzstrasse in einer Kneipe gewesen. (Mit einer Toilette im Keller). Als ich dann kurz vor Ladenschluss (24.00 Uhr) wieder im Traenenpalast war, um die Rueckreise anzutreten, stellte ich zu meinem Entsetzen fest, dass mein Pass, mein Visum und mein Stipendium in einem unbeachteten Augenblick (ich war zum Pinkeln in der Toilette im Keller) den Besitzer gewechselt hatten. Die Geschichte ist natuerlich noch laenger, aber hier kuerze ich sie jetzt ab.
Auf diesem Wege gelangte ich jedenfalls in das sagenumwobene Polizeipreaesidium am Alexanderplatz und hatte genuegend Zeit, ueber alles nachzudenken. Den ueberaus freundlichen Polizeibeamten (Sie nannten sich damals Volkspolizei – VP) habe ich mehrfach gebeten, mich in eine Zelle zu stecken, weil es auf dem Flur so schweinekalt war. Hat er nicht gemacht, mit dem Hinweis, ich wuerde morgen zur Bildzeitung laufen und dort schildern, wie man mich im Arbeiter- und Bauernparadies misshandelt haette. (Der VP hatte das Paradies in seinem Redebeitrag anders genannt, hab ich aber vergessen wie.) Obwohl ich versicherte, dieses nicht zu tun, hat er mich lieber weiter im Flur frieren lassen.
Jedenfalls haben wir zusammen die Nacht verbracht, nicht wie Du jetzt denkst. Wir sind mit seinem Trabant durch die naechtliche Hauptstadt der DDR gefahren, haben den Kneipenwirt aus dem Schlaf geholt und gefragt, ob er vielleicht zufaellig meinen Pass und mein Geld gefunden haette, hatte er aber nicht, wie er aus dem Fenster rief. Und, meine Hauptsorge, es war noch niemand auf meinem Pass in den Westteil der Stadt gelangt, was ich ueberaus freundlich von dem Dieb fand. Es haette sonst leicht so aussehen koennen, als dass ich meinen Pass an einen ausreisewilligen DDR Buerger verkauft haette, der die Absicht gehabt hatte, das Paradies der Arbeiter und Bauern lieber zu verlassen, und was der Gedanken der Klassenfeinde sonst noch so gewesen sein koennten. Nicht so ungeduldig sein. Deine Frage wird schon noch gestellt und auch beantwortet werden.
Jedenfalls, als mein Repertoire erschoepft war, habe ich dem VP genau diese Frage gestellt. Die, die Du mir auch gestellt hast. Die, nach wem ist der Alexanderplatz in Berlin genannt. Und da der Mann hochgebildet war, wusste er auch gleich eine Antwort. Der Alexanderplatz ist nach dem russischen Zaren Alexander, ich glaub es war der I., benannt worden. Ob das nun aber ein Vorname oder ein Nachname dieses Zaren war, habe ich damals nicht gefragt.
Offensichtlich waren die Russen mit ihren Peinigern immer auf Du, sonst waere ja Iwan, der Schreckliche auch ein Herr namens Herr Iwan gewesen. Ich weiss, das wolltest Du jetzt gar nicht alles wissen, aber so ist das nun mal. Das Leben ist kein Zuckerschlecken. Das Buch ist (falls Du noch nicht alles ueber den Stalinismus und die verfickte deutsche Revolution der Matrosen weisst) eine spannende Lektuere. Fehlt noch, wie es zu dem englischen Ausdruck kam: A little drink in the morning time, ist better, als den ganzen Tag gorkeinen, aber das ist eine andere Geschichte.
Achja, das Buch das ich Dir empfehlen wollte. Es hat den nicht gerade verkaufskraeftigen Titel: Von Kiel bis Leningrad. Bei der Nennung der Stadt Kiel kommt bei mir sofort die Idee der Langeweile und bei der Nennung der Stadt Leningrad kommt mir auch irgend was Langweiliges ueber die verlorene Diktatur des Proletariats in den Sinn. Jedenfalls kein Grund fuer eine Geldausgabe. Ohne langweilige Buecher kann man sich auch gut langweilen. Dieses Buch jedoch, man wuerde es nicht denken, ist tatsaechlich spannend. Und auch noch lieferbar. Erschienen im Berliner Basis Druck Verlag, und auch nicht ganz billig. Und mit vielen Worterklaerungen, 311 an der Zahl. Nur das Wort Sledowatel (auch Sledovatel), das mir zuerst auf Seite 263 aufgefallen ist, wird leider nicht erklaert. Doch die Suchmaschine Metager.org hat es gefunden: Sledovatel = Ermittler, Vernehmungsbeamter!
Das sollte der Basis Druck Verlag bei einer Neuauflage als Nummer 312 noch hinzufuegen. Achso: Das Buch heisst: Von Kiel bis Leningrad. (Untertitel: Erinnerungen eines revolutionaeren Matrosen 1917 – 1930) Autor ist Hermann Knüfken, ISBN : 978-3-86163-110-1, hat 474 Seiten und kostet 28,00 Euro in der gebundenen Ausgabe. Verlag: BasisDruck Verlag. Schliemannstr. 23 10437 Berlin, 030 44576 80. www. basisdruck.de
Und noch ein Text, der es wert ist, das man ihn zitiert.
Aus: . . . „Wo waren sie im Kriege Herr – ? . . . “Ich habe mich dreieinhalb Jahre im Kriege gedrückt, wo ich nur konnte – und ich bedaure, dass ich nicht, wie der große Karl Liebknecht, den Mut aufgebracht habe, Nein zu sagen und den Heeresdienst zu verweigern. Dessen schäme ich mich. „Noch ein Text, der“ weiterlesen