Ein Artikel, der im März 2006 erschienen ist. Zu einem Zeitpunkt als noch nicht bekannt war, auf welche Weise das Waterloo Kino in den Besitz von Clara Esslen und Heinz Heisig gekommen war. Vor allem deshalb, weil keiner gefragt hatte. (Landgericht Hamburg, Wiedergutmachungskammer AZ: 1 WiK 2/59)
Hallo Eugen, Deine Fragen sind nicht einfach zu beantworten. Aber ich versuche es mal. Die Suche nach Henschel und warum. Hier ist die PDF und einige Fotos zu Ablenkung.
In einem Schlund ist die Geschichte der jüdischen Kinobesitzer in Hamburg verschwunden.
Erst den Nachgeborenen ist aufgefallen, dass große Teile der Kinogeschichte fehlen. Und das dieses Fehlen Gründe hat. Der »Henschel Film— & Theaterkonzern OHG«. Eine Geschichte, die im Dezember 1895 in Paris begann und erst mit ihrer vollständigen Aufklärung endet.
Sie haben uns angelogen, als sie behaupteten, sie hätten gekauft oder geerbt. So war es nicht. Sie haben nicht gekauft und auch nicht geerbt. Sie haben geraubt und gestohlen. Sie haben die jüdischen Kinobesitzer bestohlen. Und viele haben ihnen dabei geholfen.
Vier Fotos, die uns Rolf Arno Streit aus Belo Horizonte in Brasilien 1990 zur Verfügung gestellt hat. Hamburg.
[Fotos aus Hamburg von links oben nach rechts unten: Hamburger Hauptbahnhof vom Glockengiesserwall mit Straßenbahnschienen, Gänsemarkt mit Lessingtheater und Hamburger Anzeiger, Alster in Richtung Hotel Vier Jahreszeiten mit Alsterpavillon, Karl Muck Platz in Richtung Innenstadt, rechts das Hochhaus des DHV. [Deutschnationaler Handlungsgehilfen Verband]
In der Mitte die Kaiser Wilhelm Straße. Die heißt heute noch so. Der Karl Muck Platz wurde vor einigen Jahren umbenannt in: Johannes Brahms Platz. Das Gebäude des DHV wurde auch umbenannt in »Johannes Brahms Kontor«. Vermutlich dachte man bei der Umbenennung daran, so kriegt man endlich die braune Farbe runter, die vom DHV.
Die Geschichte der jüdischen Kinobesitzer in Hamburg begann im Jahre 1895 in Paris und endete in Brasilien, Mexiko, USA und Australien. Überall dort, wohin die geflohen waren, denen man in Deutschland ihre Kinos geraubt hatte und die auch noch nach dem Krieg ihre Stimme erheben konnten, weil sie den deutschen Mördern entkommen waren.
Eine erste Spur fand ich auf dem Jüdischen Friedhof in Hamburg Ohlsdorf. Der Grabstein von Hermann Urich Sass.
Meine Suche begann – eher zufällig – 1970 in Berlin. Während meines Studiums an der Deutschen Film- und Fernsehakademie (dffb): Ich interessierte mich auch für die Geschichte der Kinos. Hier gab es die Tageszeitungen des deutschen Films: die »Licht Bild Bühne« (LBB) und den »Kinematograph«. In Hamburg waren diese Zeitungen zu der Zeit nicht vorhanden, bzw. nicht zugänglich.
Wer einmal längere Zeit vor einem solchen Mikrofilm Lesegerät gesessen hat, kennt die Langweiligkeit dieser Arbeit. Diese vielen Nachrichten, die man alle nicht braucht. Ich hatte natürlich Vermutungen. Aber eigentlich wußte ich nicht, was ich suchte. Die Licht Bild Bühne erschien täglich, sechs mal in der Woche. Sie hatte viele Seiten. Gezählt habe ich nicht. Aber dann half mir der Zufall. Der Zufall hieß Paul von Hindenburg.
Jener Mann, der Adolf Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt hatte. Sehr schlecht für die deutsche Geschichte. Aber gut für mich. Ohne diesen Zufall hätte ich die Meldung vom Tode des Kinounternehmers Hermann Urich Sass niemals gefunden. Sie steht in der selben Ausgabe, in der auch von der Machtübertragung an Adolf Hitler berichtet wird. Ein paar Jahre später bekomme ich darüber Kenntnis, das beide Meldungen in einem Zusammenhang stehen.
Am Sonnabend, den 28. Januar1933 erscheint eine 13 Zeilen Meldung, die mit folgenden Worten endet: . . . dass “ . . . Herr Urich Sass, eine leitende Persönlichkeit im Henschel Konzern in Hamburg, am 27. Januar im Alter von 45 Jahren, einem Herzversagen erlegen“ sei.
Wäre er an einem anderen Datum verstorben, hätte ich die Suche nach dem Henschel Film- und Theaterkonzern vermutlich abgebrochen. Die Beerdigung soll am Montag, d. 30. Januar 1933 auf dem Jüdischen Friedhof in Hamburg Ohlsdorf um 3 Uhr stattfinden, so wird es angekündigt.
Die Geschichte der Kinobesitzerfamilie Henschel begann mit Frida und James Henschel und ihrer Reise nach Paris.
Ursprünglich war Jeremias Henschel in die Fußstapfen seines Vaters getreten und hatte sich im Verkauf von Stoffen und Herrengarderobe versucht. Erfolglos. Heute nennt man es modern Insolvenz.
Mit dem selbstgewählten Vornamen James begann eine neue Episode im Leben der Familie Henschel. Eigentlich sollte es ein Laden mit Schallplatten werden. Aber dann entdeckte Frida in Paris eine lange Schlange. Dort wurden zum ersten Mal diese beweglichen Bilder gezeigt, die sie damals »Lebende Photographien« nannten. Frida erkannte als erste die ungeheuren Möglichkeiten, die ein solches Geschäft in Hamburg haben würde.
[Das Foto entstand am 18. Oktober 1930 vor dem Hotel Europäischer Hof in Baden-Baden in Deutschland. (v. l. n. r. Frida (Frederica) Henschel (geb. Blumenthal), James Henschel und ihre Tochter Bianca Henschel (Bianca Kahn, die am 5. Mai 1931 den portugiesischen Konsul Dr. Isidor Kahn in Den Haag heiratete und nach Holland auswanderte].
Das Foto stammt von Rolf Arno Streit (Enkel von Frida und James Henschel) aus Belo Horizonte, (Brasilien).
Wann Frida und James Henschel nach Paris gefahren waren, das konnten die Enkelkinder (in Mexiko und Brasilien) von James Henschel nur vermuten. Es könnte am 28. Dezember 1895 gewesen sein, als die Brüder Lumiere im Grand Cafe im Boulevard des Capucines zum ersten Mal ihren Projektor vorgestellt haben.
Verbürgt ist der Besuch der Brüder Skladanowsky in Paris am 28. Dezember 1895. Ein paar Tage vorher (Im November 1895 waren sie mit ihrem Projektor in Hamburg gewesen). Sie hatten eine Einladung nach Paris, ihren Projektor im Folies Bergère vorzustellen und haben dafür ein Honorar verlangt und bekommen. (Die Angaben schwanken zwischen 2.500,00 und 4.500,00 französischen Franc). Aber zu einer Vorstellung ihres Projektors in Paris ist es nicht mehr gekommen. Frida und James Henschel haben damals erkannt, welches Potential in dieser neuen Technik der Lebenden Photographien steckt.
Sie eröffneten im Dezember 1905 in der Bergstrasse (große) Nr. 11 in Altona ihr erstes Kino: Das Helios Theater mit 500 Sitzplätzen. Einen Monat später im Januar 1906 begann der Mietvertrag des »Belle-Alliance-Theater Vorführung lebender Photographien« an der Ecke Eimsbütteler Str. 2 / Schulterblatt 115. Das Kino wurde in den ehemaligen Ballsaal des Belle Alliance eingebaut, hatte 1.400 Sitzplätze und spielte von 15.00 Uhr Nachmittags bis 1.00 Uhr in der Nacht.
Die Eröffnung des Kinos war am 1. Mai 1906. (Aus: James Henschel erzählt Hamburgs Kino Geschichte. Artikel von Hermann Lobbes in der Licht Bild Bühne, Beilage vom Sonnabend, d. 16. August 1930).
Vor dem Kino war eine Haltestelle der elektrischen Straßenbahn. Der Licht Bild Bühne berichtete James Henschel im August 1930, dass der Tag mit den geringsten Einnahmen (56,00 RM) der Tag war, an dem die Zuschauer des Kinos sich lieber den Brand der Michaelis Kirche angesehen hatten, als ins Kino zu gehen. Das war Dienstag, der 3. Juli 1906.
Frida und Jeremias hatten fünf Kinder: Hedwig, Sophie, Bianca, Hanns und Gretel, die zwischen 1888 – 1895 geboren werden. Hanns meldete sich als Freiwilliger und „fiel“ am 31. Oktober 1916 als Unteroffizier an der Front in Frankreich (?). Jürgen Sielemann, Experte in Sachen jüdischer Geschichte, gibt einen anderen Ort an.
Zitat: „Ihr Bruder (Bianca Henschel) Hans Henschel (geb. 21. September 1893) fiel am 31. Oktober als Unteroffizier in einem Gefecht in Siebenbürgen.“
(Aus Liskor-Erinnern Heft 14, Seite 26).
Als Quelle nennt Jürgen Sielemann: 332-8 Meldewesen, A 30 Toten- und Verzogenenkartei 1892-1925, Mikrofilm K 6238, Karte Hans Henschel.
Da war Hanns Henschel 23 Jahre alt. Wie ich mir die Fotos angesehen habe, habe ich gedacht, zwischen die Bilder gehört noch unbedingt ein Text. Und da man bei Tucholsky inzwischen klauen darf, habe ich dies getan.
Auf Seite 1159 im Band 1 – (1907 – 1924 meiner dreibändigen Gesamtausgabe) gibt es zwei Texte »Wie uns aus« und »Sechzig Fotografien«. In dem zweiten Text geht es um sechzig Fotografien, über den Weltkrieg (1) die man in Paris kaufen kann.
Der Text ist von 1924. Da wurde der Weltkrieg noch nicht nummeriert. Am Ende schreibt Tucholsky: (Seite 1162 Band 1)
“Du schießt drüben immer den Kamerad Werkmeister tot – niemals den einzigen Feind, den du wirklich hast. Dein Blut verströmt für Dividende. Dein bißchen Sterben, dein armseliges Verrecken wird mühsam mit einer Gloriole von Romantik umkleidet, erborgt aus den Emblemen von Jahrhunderten, entliehen aus verschollenen Zeiten. Wirf deine Flinte weg, Mensch! Es wird immer Kriege geben? Solange du willst, wird es sie geben. Nagle dir diese Bilder an die Wand, zeig deinen Kindern, was das für eine Schweinerei ist: der Krieg; was das für eine Lüge ist: der Krieg; was das für ein Wahnsinn ist: der Krieg! Und dann setze dich mit deinen Arbeitsgenossen auf der anderen Seite hin, vertraue ihnen, denn es sind dieselben armen Luder wie du – und gib ihnen die Hand. Nieder mit dem Staat! Es lebe die Heimat!“
Grabstein auf dem Friedhof für die “Gefallenen“ des ersten Weltkrieges in Hamburg Ohlsdorf. Die Inschrift im Grabstein ist schwer lesbar. Unteroffz. (Unteroffizier) HANNS HENSCHEL, GEB. 21. September 1893, 5654 (Geboren), GEF. 31. Oktober 1916 5677 (Gefallen/Gestorben), INHABER (Inhaber) DESEIS. KREUZES (des Eisernen Kreuzes) UND DES (und des) HANSEAT. KREUZES (Hanseatischen Kreuzes).
Hanns Henschel wurde nur 23 Jahre alt. Bei Kriegsende (am 11. 11. 1918) war James Henschel 55 Jahre alt und die neu gegründete UFA (Gründung am 18. Dezember 1917) trat an ihn heran und unterbreitete ihm ein Kaufangebot für seine acht Kinos.
Eine Reihe von Kinos hatte das Ehepaar Henschel auf eigenen Grundstücken neu bauen lassen. So das Waterloo Theater in der Dammtorstrasse 14, das Lessingtheater am Gänsemarkt 46/48, das Palast Theater in der Wandsbeker Chaussee (bei späteren Recherchen stelle ich fest, dass die Ortsangabe falsch ist – das Palast Theater war nicht in der Wandsbeker Chaussee sondern in der Hamburger Strasse 5/7/9), die Harvestehuder Lichtspiele am Eppendorfer Baum 15.
James Henschel setzte die Bedingungen für den Verkauf an die UFA. Am 21. Februar 1918 wandelte er seine Kino Firma »J. Henschel« in die »J. Henschel GmbH« um. Der Vertrag sah vor, das seine beiden Schwiegersöhne Hermann Urich Sass (verheiratet mit Hedwig Urich Sass, geb. Henschel) und Hugo Streit (verheiratet mit Sophie Streit geb. Henschel) Geschäftsführer der »J. Henschel GmbH« wurden. Der Vertrag sah weiterhin vor, das alle Angestellten von der neu gegründeten Firma »J. Henschel GmbH« übernommen wurden. Weiterhin enthielt der Vertrag einen Passus, daß Hermann Urich Sass und Hugo Streit zu Direktoren der UFA für Norddeutschland ernannt wurden.
Ein »Organ Vertrag« wurde am 29. November 1919 zwischen James Henschel und der UFA geschlossen. Danach wurde die »J. Henschel GmbH« eine 100 %ige Tochtergesellschaft der UFA. Die »J. Henschel GmbH« blieb weiterhin Eigentümer der Grundstücke, auf denen die Kinos: »Palasttheater« (Hamburger Straße 5/7/9), »Lessingtheater« (Gänsemarkt 43), »Harvestehuder Lichtspiele« (Eppendorfer Baum 35), »Zentral Theater« (Wandsbeker Chaussee 162) standen, die an die UFA verpachtet wurden.
Das »Waterloo Theater« in der Dammtorstrasse 14 verkaufte James Henschel an Manfred Hirschel, der mit einer Schwester seines Schwiegersohnes Hugo Streit verheiratet war.
James Henschel erhielt aus diesem Vertrag einen Barerlös, der ausreichte, vierzehn Wohnhäuser mit über 100 Wohnungen zu kaufen.
Weiterhin sah der Vertrag eine Beteiligung auf 25 Jahre vor, in denen er mit 5 % an den Bruttoeinnahmen der verkauften Kinos und mit weiteren 2,5 % an den später erworbenen oder neu erbauten Kinos der UFA beteiligt ist.
1921 + 1926 verließen Hermann Urich Sass und Hugo Streit die UFA und gründeten die offene Handelsgesellschaft, den »Henschel Film- und Theaterkonzern«.
Acht Kinos wurden neu gebaut. Im Februar 1927 wurde an der Ecke Zirkusweg Reeperbahn 1 ein Neubau mit einem Kino mit 1556 Sitzplätzen eröffnet.
Der erste deutsche Tonfilm »Ich küsse ihre Hand Madam« mit Marlene Dietrich und Harry Liedtke wurde hier am 23. Januar 1929 gezeigt.
Architekt war Carl Winand. Die Baukosten betrugen etwa 500.000,00 RM. Hugo Streit und Hermann Urich Sass nannten das Kino »Schauburg am Millerntor«.
Die Tonpassage im Film war nur zwei Minuten und 12 Sekunden lang. Hugo Streit, Sophie Streit (geb. Henschel) mit der Schauburg Zeitung. Die Schlagzeile: Prominente sehen dich an: Lil Dagover, Emil Jannings
In der »Schauburg Millerntor» war am 21. Oktober 1929Sergej Eisenstein mit »zwei Akten« aus dem Film »Panzerkreuzer Potemkin«, dem »ersten Akt« aus dem Film »Generallinie« und »zwei Akten« aus dem Film »Zehn Tage, die die Welt erschütterten« zu Gast.
Der dunkle Teil der Geschichte, der von Selbstmord, Mord, Enteignung, Vertreibung und Zerstörung handelt. Und der Verdrängung all dieser Verbrechen. Der vom Reinwaschen und der angeblichen »Wiedergutmachung« handelt. Und wie bereitwillig alle bei den Ausplünderungen geholfen hatten. Die Geschichte der Täter, Opfer und der Zuschauer. Glaubwürdige Zeitzeugen waren in Hamburg, in Deutschland, nicht zu finden. In Brasilien, Mexiko und in Los Angeles wurde ich gefragt, warum das alles so lange gedauert hatte, bis endlich jemand kam und diese Fragen stellte. Mir fehlte damals eine Antwort.
Die Täter waren schon lange tot. Inzwischen waren auch die Erben der Täter gestorben. Und dennoch gibt es immer wieder Menschen, die das Unrecht von damals verstecken wollen. Es fällt ihnen nicht einmal auf. Im Gegenteil. Das vorhandene Material ist inzwischen auf zwölf Leitz Ordner, fünfzig CDs mit kopierten Akten und einem kurzen Film von der Eröffnung der Schauburg am Millerntor, Ecke Zirkusweg, angewachsen.
Dazu gehört ein kleiner Film mit den Interviews der Söhne, (Horst Urich Sass, Rolf Arno Streit, Carl Heinz Streit) die damals aus Deutschland fliehen konnten. Aus Belo Horizonte kommt dieses Bild vom »Palast Theater« von Frida und James Henschel in der Hamburger Strasse.
Wann dieses Foto entstanden ist, konnten mir die Enkelkinder von James Henschel (Die Brüder Rolf Arno Streit und Carl Heinz Streit) nicht mitteilen. Vermutlich ist das Foto nach der Eröffnung des Neubaus entstanden.
Da gibt es Vermutungen: Clara Esslen war die Tochter des Schuhmachermeisters Ferdinand Koglin und seiner Ehefrau Louise Koglin (manchmal auch Luise), geb. Betke (auch Bethge), die in der Kantstraße 2 in Berlin wohnten. Nun brauchte es eine Weile, um herauszufinden, um welche Kantstraße in Berlin es sich handelte. Wieder einmal gibt es von den Kantstraßen gleich mehrere: Sieben (1925). Eine in Charlottenburg, eine in Lichtenberg, eine in Lichtenrade, eine in Lichterfelde, eine in Mahlsdorf, eine in Steglitz und eine Neue Kantstraße, die ebenfalls in Charlottenburg ist.
Nach langem Suchen stellte sich heraus, es war die Kantstraße in Lichtenberg. Das Haus gehörte 1908 dem Schuhmachermeister Ferdinand Koglin. Es war ein Mehrfamilienhaus. Ein Haus mit zehn Wohnungen. Die Koglins wohnten im Erdgeschoß. Der Schuhmachermeister Ferdinand Koglin starb 1909.
Im Adressbuch der Firma Scherl ist ab 1910 die Witwe, Luise Koglin, geb. Betke, mit der Abkürzung»Schuhmmstrww.« eingetragen, was vermutlich »Schuhmachermeister Witwe« bedeuten soll.
1918 heiratete die Tochter des Schuhmachermeisters, Clara Koglin, Karl Friedrich Esslen aus Luxemburg, der Teilhaber einer Schuhcremefabrik in Berlin Kreuzberg war, deren Schuhcreme unter dem Namen »Collonil« verkauft wurde. Sie wohnten: »Am Treptower Park 34«. Dort wurde auch ihre Tochter Eva am 3. Juni 1918 geboren, die außer dem Namen Eva noch vier weitere Vornamen (Brunhilde, Klara, Elisabeth, Sieglinde) bekam.
Als ihre Mutter, Luise Koglin, 1918 starb, verkaufte die Erbin, Clara Esslen, geb. Koglin, das Haus an einen Mieter, der dort schon einige Jahre gewohnt hatte: An den Postschaffner A. Rosenberg. Auf Seite 115 des Scherl Adressbuches sind alle neun Mieter von 1918 aufgeführt: Bauchtisch, Borchert, Brünn, Engel, Hartkopf, Kunze, Rosenberg und Schabelski. Ein Maurer, ein Postschaffner, ein Bahnschaffner, zwei Former, zwei Witwen und eine Frau.
»Collonil«, die wasserabweisende Schuhcreme wurde ein Verkaufsschlager und so konnte Karl Friedrich Esslen 1925 zwei Zinshäuser, so wurden sie 1925 genannt, in Berlin Wilmersdorf am Kaiserplatz 11 und Kaiserplatz 12 kaufen. So steht es 1925 im Scherl Adressbuch von Berlin auf Seite 1389. 1925 gibt es in Berlin drei Kaiserplätze. Einen in Wilmersdorf, einen in Lichterfelde und einen in Lichtenrade.
Welche Kaiser dort jeweils gemeint sind, habe ich nicht nachgesehen. Der Kriegsverlierer wird es nicht gewesen sein, so ist meine Vermutung.
Apropos Dammthorhaus—Die Anwälte aus dem Dammthorhaus in der Dammthorstraße 14 in Hamburg. In dem Buch von Dr. Heiko Morisse »Jüdische Rechtsanwälte in Hamburg — Ausgrenzung und Verfolgung im NS-Staat« [erschienen im Christians Verlag Hamburg 2003] [ISBN 3-7672-1418-0] sind einige von Ihnen versammelt, die im Dammthorhaus, Dammthorstrasse 14 in Hamburg, ein Büro hatten: Dazu gehören:Bauer, Otto Herbert Dr., (IV. Etage Mieter von 1933-1936). Geboren am 10. September 1896 in Hamburg. „Auf seiner Geburtsurkunde ist die jüdische Religionszugehörigkeit der Eltern vermerkt.“ schreibt Björn Eggert in seinem Text, der zur Verlegung des Stolpersteines in der Körnerstrasse 3 in Hamburg veröffentlicht wurde. Später konvertierte Dr. Otto Herbert Bauer zum Christentum. Er ließ sich in der evangelischen Petrikirche in Hamburg taufen. Wann diese Taufe stattgefunden hatte, ist nicht überliefert.
Er war »Kriegsfreiwilliger« im Ersten Weltkrieg. Im Januar 1915 wurde er verletzt und im Dezember 1915 wegen einer Lähmung des linken Arms infolge einer Schußverletzung als »vorläufig untauglich« entlassen.
Im Januar 1917 machte Otto Herbert Bauer in Cuxhaven das Abitur. Danach studierte er in München, Heidelberg und Leipzig ― Jura. 1922 promovierte Bauer zum Dr. jur. in Leipzig. Im Juli 1928 erhielt er seine Zulassung als Rechtsanwalt in Hamburg.
In der Firma von Eugen Esslen, dem zwei Jahre jüngeren Bruder von Karl Friedrich Esslen, wurde ihm 1930 Prokura erteilt. In der Mönckebergstraße 8 hatten der Rechtsanwalt Dr. Otto Herbert Bauer und der Kaufmann Eugen Esslen 1930 ihre Büroräume.
Nach dem Tode von Karl Friedrich Esslen am 16. Juli 1930 wurde Dr. Otto Herbert Bauer zeitweise zum Geschäftsführer von dessen Firma: »Karl Eßlen, Weinkellerei, Trier, Verkaufszentrale Mühlenbeck bei Berlin Gesellschaft mit beschränkter Haftung« ernannt. Von der Witwe Clara Esslen, die diese GmbH geerbt hatte.
Mit der Hilfe von Rechtsanwalt Dr. Otto Herbert Bauer wurde der Sitz dieser Firma von Mühlenbeck bei Berlin nach Hamburg verlegt und in „Waterloo Filmtheater GmbH“ umbenannt. 1932 heiratete Otto Herbert Bauer Gertrud Jacob, die aus Berlin stammte.
Bis zum 10. Oktober 1933 war Dr. Otto Herbert Bauer, zusammen mit Manfred Hirschel Geschäftsführer der in „Waterloo Filmtheater GmbH“ umbenannten Weinhandelsfirma. Rechtsanwalt war er von 1928 bis zum seinem Berufsverbot am 30. November 1938. Ein Fundstück: Der Rechtsanwalt Dr. jur. Otto Herbert Bauer, geboren 1896, schrieb in einem Brief an seine Tochter in den USA:
„1000 sollen deportiert werden. Auch wir gehören dazu, obwohl wir doch Christen sind. Einige nehmen sich das Leben. Wohin man mich schicken wird, das weiß niemand. Aber ich danke dem allmächtigen Gott, daß ich die Kraft aufgebracht habe, dich geliebtes Kind, vor diesem Schicksal zu bewahren.“ (Zitiert nach: Hans Jürgen Benedict, Kein Trost, nirgends? Aus dem Artikel: »In der S-Bahn reckten die Leute die Hälse«. Europäische Verlagsanstalt 2022) (ISBN 978-3-86-130-8). Anmerkung: Aus andrer Quelle gibt es eine Tochter von Otto Herbert Bauer mit Namen Ruth Ingrid Bauer. Die ist am 27. Mai 1933 in Hamburg geboren. Die wäre also 1938 erst fünf Jahre alt gewesen. Leider liegt mir das Buch, in dem der Brief zitiert wird, nicht vor. Vermutlich gibt es in dem Buch eine Quellenangabe. Da Otto Herbert Bauer am 10. September 1896 geboren ist, wäre eine ältere Tochter durchaus möglich. Muß man noch mal herausfinden.
1942 wurde Dr. Otto Herbert Bauer verhaftet und im KZ Fuhlsbüttel eingesperrt. Am 27. August 1942 wurde er ins KZ Mauthausen deportiert und am 18. September 1942 dort ermordet.Die Räume im Dammthorhaus, Dammthorstraße 14, 4. Stock, hatte er von 1933 – 1936 gemietet. Behrens, Emil Dr., (Mieter II. Etage im Dammthorhaus) Geboren am 24. November 1859 in Teterow (Mecklenburg, 50 Km südlich von Rostock). Jüdisch. Rechtsanwalt von 1888 bis zum Berufsverbot am 30. November 1938. Am 15. Juli 1942 Deportation nach Theresienstadt. Dort wurde er ermordet. Die Räume im Dammthorhaus, Dammthorstraße 14, im 2. Stock, hatte er von 1914 – 1934 gemietet.
Beith, Eduard Dr., (Mieter II. Etage im Dammthorhaus) Geboren am 24. April 1882 in Hamburg. Jüdisch. 1935 nach England emigriert. Am 27. April 1937 in London gestorben. Die Räume im Dammthorhaus, Dammthorstraße 14, im 2. Stock, hatte er von 1914 – 1934 gemietet.
Levy, Louis Dr., (Mieter II.Etage im Dammthorhaus) Geboren am 20. September 1891 in Hamburg. Jüdisch. Rechtsanwalt seit 1920. Im Juli 1934 nach Palästina emigriert. Am 25. Juni 1971 in Nahariya (Israel) gestorben. Die Räume im Dammthorhaus, Dammthorstraße 14, im 2. Stock, hatte er von 1920 – 1934 gemietet.
Oppenheimer, Albert Bruno Dr., (Mieter II. Etage im Dammthorhaus) Geboren am 27. Dezember 1892 in Hamburg. Jüdisch. Rechtsanwalt von 1921 bis zum Berufsverbot am 30. November 1938. Im August 1941 emigriert in die USA. Gestorben am 4. April 1983 in Chicago. Die Räume im Dammthorhaus, Dammthorstraße 14, im 2. Stock, hatte er von 1921 – 1934 gemietet.
Oppenheimer, Philipp genannt Paul Dr., (Mieter II. Etage im Dammthorhaus) Vater des Rechtsanwaltes Dr. Albert Oppenheimer. Geboren am 21. April 1854 in Hamburg. Jüdisch. Gestorben am 17. November 1937 in Hamburg. Die Räume im Dammthorhaus, Dammthorstraße 14, im 2. Stock, hatte er von 1914 – 1934 gemietet.