in meinem Buechersortiment befinden sich drei Ausgaben des Buches von Christian Geissler: »Wird Zeit, daß wir leben«. Zwei Auflagen aus der Zeit als Christian Geissler noch lebte und und eine aus der Zeit als er nicht mehr lebte. Erstmals war das Buch 1976 im Rotbuch Verlag Berlin erschienen. Meine Exemplare sind aus den Jahren 1976 und 1979. Taschenbuecher. Das von 1979 mit der Auflagenennung 11.-13. Tausend. 236 Seiten. Die Ausgabe von 2013 ist gebunden, hat 316 Seiten und ist im Verbrecher Verlag Berlin erschienen. Hinzugefuegt ist ein Nachwort von Detlef Grumbach und eine „Editorische Notiz“ auf Seite 317.
In dieser heißt es u. a.: »Das Glossar war bereits Bestandteil der Erstausgabe, geprägt von einer pointierten Mischung aus Fakten und Standpunkten. Für heutige Leser wurden hier und da die Fakten behutsam ergänzt, die typische Diktion Geisslers wurde aber so weit wie möglich beibehalten«.
Das entspricht leider nicht den Tatsachen. In der ersten und in der von mir 1979 erstandenen Ausgabe dieses Buches gibt es kein »Glossar«. Christian Geissler hat dieses Wort vermieden. Er hat den sieben Seiten am Ende des Buches die Ueberschrift »Anmerkungen« gegeben. Es handelt sich um 61 Anmerkungen. Die Anzahl ist in der Auflage von 2013 gleich geblieben. Verteilt auf zehn Seiten, während es in den ersten Auflagen sieben Seiten waren.
Apropos: Fakten behutsam ergaenzt. Die neuen Anmerkungen sind nicht nur laenger oder kuerzer geworden, sondern auch anders. Los gehts mit den Hungerdachluken. Bei Christian Geissler einfach und klar: (9) „Hungerdachluken. Beim Hamburger Aufstand im Oktober 1923, als die arbeitenden Massen hungerten, kämpften die Revolutionäre zum Schrecken der Weißen klug aus dem Hinterhalt, z. B. aus barmbeker Dachluken.“
Dem Behutsamergaenzer der Ausgabe von 2013 ist das nicht genug und er oder sie fügt deshalb an: „Der Hamburger Aufstand war eine von der militanten Sektion der KPD in Hamburg am 23. Oktober 1923 begonnene Revolte. Ziel war der bewaffnete Umsturz in Deutschland nach dem Vorbild der russischen Oktoberrevolution 1917. Im Laufe des Aufstands wurden in Hamburg und Schleswig-Holstein insgesamt 24 Polizeireviere besetzt.“ (Liest sich wie bei Wikipedia abgeschrieben. Und siehe da: ist es auch. Nur der zweite abgeschriebene Satz wurde ein wenig veraendert, oder sollte es etwa umgekehrt sein?)
Besonders auffaellig ist es bei der Anmerkung 10 auf Seite 230. Im Original (1976 und 1979) von Christian Geissler steht:
„rede Genosse Mauser!vgl. Majakowski, linker Marsch: Entrollt euren Marsch / Burschen von Bord / Schluß mit dem Zank und Gezauder / still da, ihr Redner / du hast das Wort / rede, Genosse Mauser . . . .Die Rede ist hier von der C 96, einem der beliebtesten Modelle aus dem Hause von Paul v. Mauser, die erste wirklich brauchbare Pistole mit verriegeltem Verschluß und mit einem 10- und später auch 20- Schuß-Magazin, das vor dem Abzug liegt. Zusätzlicher Vorteil: Die Waffe hatte eine Einrichtung zur Anbringung eines Anschlagschaftes. Im revolutionären Rußland nannte man die diese Waffe auch »Bolo-Mauser«. Bolo war der in der Umgangssprache entstandene Ausdruck für Bolschewik. Eine spanische Version dieser Pistole war bei den chinesischen Genossen der zwanziger Jahre als Maschinenpistole recht verbreitet. Wenn die Mauser auch bei uns jetzt durch andere, handlichere Konstruktionen ersetzt ist, erfreut sie sich doch in manchen Länder noch eines außerordentlichen Zuspruchs.“
In der Neuausgabe von 2013 wird daraus: „rede Genosse Mauser!Zitat aus dem Gedicht »Linker Marsch« von Wladimir Majakowski, später vertont von Hanns Eisler: »Entrollt euren Marsch / Burschen von Bord / Die Rede ist hier von der Mauser C 96, einer der ersten Selbstladepistole.“
Zwei Revolutionen sind verschwunden. Stattdessen erfaehrt der »Leser von heute«, wer die Musik dazu gemacht hat. Naechstes Beispiel: hauptvollblut und wasistdas Während es bei Christian Geissler kurz und buendig heißt: »Kurzfassung der Schwerpunkte lutherischer Glaubenslehre«schwafelt der Faktenbehutsamergaenzereditor vom Verbrecherverlag von Paul Gerhard, Johann Krüger, Martin Luther und dem Kleinen Katechismus.
Auch das Stichwort »im Krieg in Kiel« erfaehrt eine erstaunliche Veraenderung. Während Christian Geissler schreibt: »Die November Revolution 1918 begann am 3.11. mit dem bewaffneten Aufstand der Matrosen in Kiel. Als auf den Schiffen des III. Geschwaders umfangreiche Verhaftungen vorgenommen wurden, erhoben sich die Matrosen und begannen den Kampf um die Befreiung ihrer Kameraden.«
Daraus macht der Faktenbehutsamergaenzer des Verbrecherverlags (natuerlich ohne Namensnennung und Begruendung): »Der Kieler Matrosenaufstand fand Anfang November 1918 – gegen Ende des Ersten Weltkrieges – statt. Auch der Rest dieses geaenderten Textes ist nicht besser. Da mutiert die Revolution zu einem »Impuls der Ausbreitung der Unruhen«. Auch die EK –Offiziere von Christian Geissler werden von dem Faktenbehutsamergaenzer umgearbeitet. Bei Christian Geissler steht unter Nr. 160: EK-OffiziereOffiziere mit dem sog. Eisernen Kreuz, also mit Praxis aus dem ersten Weltkrieg, vgl. BGS-Offiziere mit Nazikriegspraxis. Daraus wird: (213) EK-Offiziere, die mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet waren, also im Ersten Weltkrieg gedient hatten. Geissler vergleicht sie mit Offizieren des Bundesgrenzschutzes »mit Nazikriegspraxis«.
Verschwunden ist das Wort sog. und sie wurden mit Eisernen Kreuz „ausgezeichnet, weil sie also im Ersten Weltkrieg gedient hatten“ und nicht schnöde mit dem EK ausgezeichnet. Christian haette sicher gefragt: Wem gedient?
Alles eher aergerlich, wie ich finde. Aber natuerlich kein Grund, diese Ausgabe nicht zu kaufen und zu lesen. Vielleicht kann der Verlag ja eine Beilage mit den Originalanmerkungen von Christian Geissler beilegen, so liesse sich der entstandene Schaden begrenzen, J.
Hallo Eugen, es gibt in dem Buch von Christian Geissler nur einen Fehler. Der befindet sich auf Seite 150 der zweiten Auflage. Mal sehn, ob Du den findest. Hier ist der Ausschnitt, J.
Hallo Eugen, heute ist Sonntag, der zweite Juni. Ein Schreiben vom Verleger (Verbrecherverlag) oder von dem ersten Vorsitzenden der Christian Geissler Gesellschaft e. V. ist bisher nicht angekommen. Es ging um die Frage, wer da in dem Text von Christian Geissler (Wird Zeit, dass wir leben) rumgepfuscht hat und noch nicht einmal dazu steht, J.
bald habe ich es geschafft. Ich bin schon auf Seite 507 des zweiten Bandes, insgesamt 570 Seiten. Ich weiss wirklich nicht, wie der Weltruhm von Hans Christian Andersen entstanden ist. Er ist wirklich der Koenig der Langweiler. Mit einer Einschraenkung. Er hat mir ein neues Wort beigebracht, das ich bis dahin nicht kannte und bevor ich es wieder vergesse, schreibe ich es Dir: Dryade. Vermutlich kennst Du dieses Wort. Ich habe es in meinem Fremdwoerter Buch gefunden. »Dryade« = »weiblicher Baumgeist«.
Daneben habe ich dann noch gefunden: Diszession. Das werde ich demnaechst mal benutzen. Eigentlich merkwuerdig, dass es niemand benutzt, wo es doch so oft eingesetzt werden koennte. Auch dieses Wort kennst Du vermutlich, aber die Bedeutung, die mir mein Fremdwoerter Buch preis gibt, moechte ich Dir nicht vorenthalten: Diszession = Uebertritt zu einer anderen Partei.
Wie derjenige genannt wird, der diesen Vorgang vollzieht, habe ich nicht herausgefunden. Diszessionent? Zwei sehenswerte Filme, geschrieben von Holger Karsten Schmidt habe ich auf der Medieathekseite der ARD gefunden. Beziehungsweise hat mich mein Neffe Joerg darauf hingewiesen. Der hat son aehnlichen Geschmack wie ich. Die sind beide in der Reihe »Harter Brocken« entstanden und vorhanden: »Die Faelscherin« und der zweite ebenfalls gelungen: »Die Kronzeugin«, vielleicht kennst Du die, die sind schon beide etwas aelter.
Apropos Worte, warum immer das Wort »Fokus« benutzt wird, muss etwas mit unserer Kultur zu tun haben: Es ist so viel nichtssagender als das Wort »Brennpunkt«, das ich benutze. Achso: Die Walde Anzeige. Ich hab eine Mail an Doro geschickt.
Die ist noch in Berlin und hat auch mal in der Walde gewohnt, sie hat eine Tochter, die gleichaltrig ist mit Hannes. Jedenfalls hat sie auf meine Mail reagiert und will heute oder morgen mal in die Stabi in Berlin gehen. Heisst die wirklich Stabi in Berlin?
Auf meinem Balkon sind jetzt 50 Grad und da haben die Leute Angst, dass der Russe kein Gas mehr schickt und wir frieren muessen. Hoffentlich wird der Heini von der FDP Diszessionent, das waers doch.
Was ich fast vergessen hätte. Da gibt es ein Heft der Filmkritik vom Mai 1970 bei mir. Darin ein Artikel, auf Seite 254 – (die haben ihre Hefte immer durchnummeriert, die erste Seite des Heftes hat die Nummer 229) mit der Überschrift: »Emotion Pictures«, darunter in Klammern »(Slowly Rockin‘ On)«, weiss der Teufel, was er uns damit sagen wollte, von dem damals noch völlig unbekannten Wim Wenders.
Er berichtet, dass er in München in Nachtvorstellungen Western von John Ford gesehen hatte, „in schlechten Kopien, häufig schlecht synchronisiert, das ist schmerzhaft, aber schwieriger ist es, das immer unwilliger reagierende Publikum zu ertragen, das einem ständig vor Augen führt, daß sich die scheußlichen Z-Filme die Zukunft gesichert haben, die Bilder, die einem die Sicht versperren und die Töne, die einen übers Ohr hauen“.
Auf Seite 256 dann ein Hinweis, auf eine Schallplatte von den Rolling Stones: “Die beste Platte von den Rolling Stones ist ihre einzige amerikanische: LIVEr than you‘ll ever be, und der Titel ist so gut wie die Musik, ist ein Raubdruck von Mitschnitten bei der Amerikatournee der Stones aus dem letzten Jahr. Lebendiger und kraftvoller und metallischer und aggressiver haben sie nie vorher auf einer Platte gesungen“.
Man beachte dabei, dass der Artikel im Mai 1970 erschienen ist. Heute hat die Raubkopie Platte schon einen Wikipedia Eintrag. Und dabei stellt sich heraus: Der illegale Mitschnitt hat das Wort »Bootleg« was die Suchmaschine mit Stiefelschaft und Schmuggel übersetzt, bekommen und soll mit einem Tonbandgerät der Firma UHER entstanden sein.
Genauer mit einem UHER Report 4000. Ein legendäres Tonbandgerät, aber vermutlich in der Mono Ausführung. Und ich bin im Besitz eines Nachfolgemodelles der Firma UHER, das funktioniert: »UHER Report 1200 synchro«. Ein Stereo Gerät. Zwar hat der Akku vor einigen Jahren seinen Geist aufgegeben. Aber am Netz ist das Gerät voll funktionsfähig. Ich habe nicht nachgesehen, zu welchen Preis solche UHER Tonbandgeräte heute gehandelt werden, weil ich es nicht verkaufen will, so lange es noch so gut funktioniert. J.
Das Märchen von Ali und Fatima (Hab das am 19.10.79 im Rias gehört. Weil ich da aber schon fünf Tage nichts mehr gegessen hatte, kanns sein, daß mir beim Nacherzählen einiges durcheinander geraten ist).
Es war einmal ein mächtiger König im Morgenland, der, wie das in seinen Kreisen häufig vorkommt, eine wunderschöne Tochter hatte. Die hieß Fatima. Und weil es in diesen alten Märchen oft recht patriarchalisch zugeht, begann der König dann auch, nach einem geeigneten Schwiegersohn Ausschau zu halten, als Fatima zu einer Blüte des Orients herangewachsen war, wie es in einem zierlichen Sonett des Hofdichters Abu Klöpack ohne Übertreibung hieß. Die Bewerber standen Schlange: Prinzen aus fernen Ländern, smarte Vertreter der Ölmultis, berühmte Leinwandhelden und scharmante Abgesandte aus den Politbüros von Ländern, wo manches noch realer ist als der Sozialismus.
Es begab sich nun, daß der König einen Traum hatte: sein alter Kammerdiener Ali und Fatima wurden darin zum Ehepaar. Er erzählte seinem Wesir Egbert Dreckpferd von dem närrischen Traum, und die beiden hielten sich die Bäuche vor Lachen über solchen Unsinn. Als der König in der Nacht darauf abermals von der Vermählung seiner Tochter mit dem alten Kammerdiener träumte und wie sie nach der Feier auf einem weißen Schimmel davon ritten, erschrak er doch, denn es fiel ihm das alte jemenitische Sprichwort ein: ‚Dreimal geträumt ist fast schon geschehen‘. Als der König dem Wesir davon erzählte, meinte der: “Ach was, Träume sind Schaumgummibäume.“ Vor lauter Übereifer hatte er sich versprochen, denn er dachte an die vielen Bakschischs der Freier Fatimas, die ihm entgingen, wenn sie etwa mit einem Mann vermählt würde, dem der tüchtige Wesir keine Hoffnungen gemacht und von dem er noch keine kleinen Geschenke erhalten hatte.
Als der König aber in der folgenden Nacht zum drittenmal träumte, das sein alter Kammerdiener und seine junge Tochter Mann und Frau wurden, geriet er fast in Panik und rief Egbert Dreckpferd zu sich. Der Wesir versicherte, nach wie vor nicht an Träume zu glauben, hätte aber zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung dem König gern empfohlen, den alten Ali einen Kopf kürzer zu machen. Da er jedoch wußte, daß der König an dem alten Kammerdiener hing, unterbreitete er einen anderen Plan, den der König schließlich gut hieß. Er ließ Ali holen und sprach: “Ich habe einen wichtigen Auftrag für dich, von dem die Zukunft meiner Tochter abhängt. Du sollst die Berge des Schicksals aufsuchen und dich erkundigen, ob das Leben ein Traum und Träume Wirklichkeit sind. Frage auch nach dem Sinn des Lebens und ob es einmal eine Gesellschaft geben wird, in der alle Menschen glücklich sind und liebevoll miteinander umgehen.“
Der alte Ali sattelte sein nicht minder altes Kamel, packte Proviant in die Satteltaschen und ritt los. Der König hatte noch leichte Gewissensbisse, da weder er noch der Wesir wußten, ob es die Berge des Schicksals überhaupt gibt und er befürchten mußte, seinen alten Ali niemals wiederzusehen. Der zog indessen gemächlich, aber auch so stetig es sein altes Kamel zuließ, in die Welt hinaus und fragte überall nach den Bergen des Schicksals. So erreichte er eines Tages eine alleinstehende Dattelpalme, die ihn fragte, wie er denn in diese trostlose Gegend geraten sei. Ali sagte, er sei unterwegs zu den Bergen des Schicksals und habe im Auftrag seines Königs einige wichtige Fragen an das Schicksal zu richten. “Ach,“ seufzte die Dattelpalme.“Auch ich hätte eine Frage an das Schicksal: ich steh mir hier schon seit vielen Sommern den Stamm in die Blätter und trage keine Früchte. Ich weiß gar nicht, wozu ich auf der Welt bin.“ Ali wußte der Palme auch keinen Rat, versprach aber, das Schicksal auf ihr Problem anzusprechen, und zog weiter.
Er entkam mit knapper Not einem Wüstensturm und einer Horde Arabien-Touristen aus Schlamerika, die sofort ihre Fotoapparate zückten, als sie seiner ansichtig wurden, hängte einen Greiftrupp des BeKaA ab, der in ihm einen Drahtzieher des internationalen Terrorismus vermutete, und gelangte zu einem kleinen Tümpel. Auch der Tümpel war von der neugierigen Sorte und fragte Ali nach woher und wohin. Bereitwillig erzählte der auch dem Tümpel von seiner schicksalhaften Mission, und es stellte sich heraus, daß auch der Tümpel, der merkwürdigerweise etwas berlinerte, eine Frage an das Schicksal hatte. “Also weeßte,“ sagte der Tümpel,“ ich hab garkeen Bock mehr. Mein Wasser ist so schmutzich und übelriechend, datte denkst, Schering hätt seine Jauche in mir abjelassen, wa, und keen Mesch will in mir baden oder von mir trinken. Wat soll ik bloß machen, Alter?“
Ali wußte ihm auch nichts weiter zu raten als abzuwarten, bis er das Schicksal auch in dieser Sache interwjut habe, und bat ihn, in der Zwischenzeit nur nicht auszutrocknen. “Iwowerikdenn, I wo wer ik denn,“ blubberte der Tümpel. Nach jahrelanger Reise und als er die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte, gelangte Ali endlich doch in die Berge des Schicksals, und nach einigem hin und her erfuhr er, daß er in einem bestimmten Tal in einer Vollmondnacht die Pressesprecherin des Schicksals treffen könne. Tatsächlich traf er dort in der nächsten Vollmondnacht eine alte Frau, die bereit war, seine Fragen anzuhören. Und so fragte er, wie ihm aufgetragen war, ob das Leben ein Traum und Träume Wirklichkeit seien. Darauf nickte die Alte nur ein wenig (aber nicht etwa so stark und ausdauernd wie der Kammergerichtsrat Dr. Wolldecke in Berlin) mit dem Kopf, und das sollte heißen ein bißchen ja und ein bißchen nein.
Auch die Frage nach dem Sinn des Lebens, und die dritte Frage, ob es einmal eine Gesellschaft geben wird, in der alle Menschen frei und glücklich sind und liebevoll miteinander umgehen, entlockte der Alten nur ein Schmunzeln, das alles mögliche bedeuten konnte.
Ali gab sich damit zufrieden, aus Respekt vor der Alten und wagte nicht, weitere Fragen zu stellen. Aber er vergaß nicht die beiden Fragen, die er nicht im Auftrag des Königs zu stellen hatte. Als er von dem Unglück der Palme, die keine Datteln trug, erzählte, unterbrach ihn die Alte: die Palme habe überhaupt keinen Grund zur Traurigkeit, denn sie trage zwar keine Früchte, aber wenn sie wüßte, daß von ihren Blättern ein Tee gekocht werden könne, der alle Krankheiten und Gebrechen der Menschen heile, dann wäre die Palme wohl zufrieden. Und als Ali um Rat für den Tümpel fragte, da erwiderte die Alte nicht etwa, wie die geneigte Leserin im Zeitalter der globalen Energiekrise im allgemeinen und der linken Energiekrise im besonderen erwarten mag, daß das Wasser des Tümpels reines Erdöl sei. Vielmehr sagte sie, daß es mit dem Tümpel folgende Bewandtnis habe: Junge Menschen, die in ihm badeten würden alt und alte Menschen jung.
Ali bedankte sich höflich für die Auskünfte und erhielt von der Alten zum Abschied noch ein Bücherpäckchen. Darin waren ‚Gelebtes Leben‘ von Emma Goldmann,‘ Zum Glück gehts dem Sommer entgegen‘ von Christine Rochfort, ‚Do it‘ von Karl Marx, die ‚Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsfilosofie‘ von Jerry Rubin und auch sonst allerlei Wissenswertes, was beim Nachdenken über die drei ersten und nicht so besonders ausführlich oder zufriedenstellend beantworteten Fragen helfen mochte.
Außerdem steckte sie ihm noch eine AKW-Nee-Ansteckknopf mit einer leuchtend gelben Sonne an den Turban. “Dufte,“ sagte der Tümpel, als er von seinen besonderen Eigenschaften erfuhr, die Ali als erster erprobte, und wirklich und wahrhaftig verließ er den Tümpel so jung und schön wie Muhammed Ali Rom nach dem Gewinn der Goldmedalje. Da er auch das Kamel noch einmal durch den Tümpel führte, gings auf der Weiterreise wesentlich flotter.
Die Palme erkannte den jungen Mann zunächst gar nicht und war ganz verdattelt, als er sie anquatschte. Als sie erfuhr, welche Kraft in ihren Blättern steckte, da freute sie sich: “Wie schön ist es, etwas zu haben, das baum verschenken kann,“ sagte sie und offenbarte damit eine Einstellung, die es auch unter Menschen verdient hätte, etwas weiter verbreitet zu sein. Die Palme jedenfalls schenkte ihm einen ganzen Sack voll Blätter, und es dauerte nicht lange, bis Ali am Ausgangsort des Märchens angelangt war.
Als er den Palast betreten wollte, wurde ihm der Zutritt verwehrt, da ihn die Palastwache nicht erkannte. Ali schlenderte durch die Straßen der Residenz und erfuhr, daß der König schwer krank darniederliege, der Wesir Egbert Dreckpferd habe inzwischen noch den Beinamen Schreckschwert erhalten, da er sich die Krankheit des Königs zunutze mache, um das Volk unter die Knute zu zwingen.
Die schöne Fatima aber solle demnächst auf Betreiben Egberts zwischen Aristoteles Onassis, Hauard Hugs, König Scheisal, und noch so ein paar alten Geldsäcken meistbietend versteigert werden. Egbert warte nur noch, bis der König seine Augen für immer schließe. Das waren keine besonders guten Nachrichten, aber Ali mietete eine Hütte am Stadtrand und befestigte ein Schild über der Tür: Doktor Ali Ben Schixali Facharzt für alles mögliche. Hiermit gebe ich Kunde: Ich heile jede Wunde, jede Krankheit, jeden Schmerz, ob Niere, Lunge, Galle, Herz. Und als Fatima mal wieder durch die Straßen ritt, begleitet von ihrer Zofe und einem Rudel Leibwächter, ohne die Egbert sie nicht in die Stadt ließ, um vielleicht doch noch Rettung für ihren Vater zu finden, kam sie an Alis Hütte vorbei und staunte nicht schlecht, als der heilkundige Gelehrte alles andere als ein alter Knacker war.
Sie bat ihn mitzukommen, und als Ali am Krankenbett des Königs stand, ließ er heißes Wasser bringen und verlangte, mit dem König alleine zu bleiben. Dann brühte er einen Tee von den Palmenblättern und flößte ihn dem König ein, der nach dem ersten Schluck die Augen aufschlug. Nach dem zweiten Schluck richtete er sich auf, und nach dem dritten Schluck schnalzte er mit dem Finger und befahl seinen Dienern, Brathähnchen und Lammkeule, Pizza und Salate, Marzipan und Pistazienkerne, Wein und Mokka und einen Fruchteisbecher mit Schlagsahne, aber ein bißchen dalli, zu bringen. Und als Fatima den Retter ihres Vater geheiratet hatte, da vertraute der König seinem Schwiegersohn an, nun sei er restlos glücklich, es tue ihm nur leid, daß er seinen alten Kammerdiener Ali vor Jahren in die Wüste geschickt habe. Dazu sagte Ali gar nichts und grinste sich nur eins.
Der böse Wesir Egbert jedoch, der bei den Vermählungsfeierlichkeiten dem König noch ins Ohr geflüstert hatte: “Hab ichs nicht gesagt? Träume sind Schäume!“ wurde von den Mächten des Schicksals dessenungeachtet ans Jammergericht in Berlin verschlagen, wo er sich mit den Angeklagten rumärgern muß bis zum Herzinfakt. Und daß ihm Ali dann einen Tee kocht, das glaubt wohl keiner. So haben sich die Menschen oft ihr Schicksal selbst erworben. Und wenn sie nicht mehr leben tun, dann sindse halt gestorben. Firiz Scheytan
Erschienen in dem Buch: Märchen aus der Spaßgerilja, (Seite 21-27) Fritz Teufel und Robert Jarowoy, Verlag Libertäre Assoziation / Verlag roter Funke, ISBN 3-9226611-00-1 April 1980
Hallo Wiebeke, die Aufklärung über den wunderbaren Text von Mark Twain hätte ohne Dein Zutun nicht stattgefunden. Und damit die Erkenntnisse nicht verloren gehen und ohne Spuren zu hinterlassen gelesen und verbreitet werden können, habe ich den Text hier eingestellt. Nochmal Danke.
Die schreckliche deutsche Sprache Ein bisschen Bildung macht alle Welt verwandt. Sprüche 32,7
Ich
ging oft ins Heidelberger Schloss, um mir das Raritätenkabinett
anzusehen, und eines Tages überraschte ich den Leiter mit meinem
Deutsch, und zwar redete ich ausschließlich in dieser Sprache. Er
zeigte großes Interesse; und nachdem ich eine Weile geredet hatte,
sagte er, mein Deutsch sei sehr selten, möglicherweise ein «Unikat»;
er wolle es in sein Museum aufnehmen.
Wenn
er gewusst hätte, was es mich gekostet hat, meine Kunst zu erwerben,
so hätte er auch gewusst, dass es jeden Sammler ruinieren würde,
sie zu kaufen. Harris und ich arbeiteten zu dieser Zeit bereits seit
mehreren Wochen hart an unserem Deutsch, und wir hatten zwar gute
Fortschritte gemacht, aber doch nur unter großen Schwierigkeiten und
allerhand Verdruss, denn drei unserer Lehrer waren in der
Zwischenzeit gestorben.
Wer
nie Deutsch gelernt hat, macht sich keinen Begriff, wie verwirrend
diese Sprache ist. Es gibt ganz gewiss keine andere Sprache, die so
unordentlich und systemlos daherkommt und dermaßen jedem Zugriff
entschlüpft. Aufs Hilfloseste wird man in ihr hin und her
geschwemmt, und wenn man glaubt, man habe endlich eine Regel zu
fassen bekommen, die im tosenden Aufruhr der zehn Wortarten festen
Boden zum Verschnaufen verspricht, blättert man um und liest: «Der
Lernende merke sich die folgenden Ausnahmen.» Man überfliegt die
Liste und stellt fest, dass es mehr Ausnahmen als Beispiele für
diese Regel gibt. Also springt man abermals über Bord, um nach einem
neuen Ararat zu suchen, und was man findet, ist neuer Treibsand.
Dies
war und ist auch jetzt noch meine Erfahrung. Jedes Mal, wenn ich
glaube, ich hätte einen dieser vier verwirrenden Fälle endlich da,
wo ich ihn beherrsche, schleicht sich, mit furchtbarer und
unvermuteter Macht ausgestattet, eine scheinbar unbedeutende
Präposition in meinen Satz und zieht mir den Boden unter den Füßen
weg. Zum Beispiel fragt mein Buch nach einem gewissen Vogel (es fragt
immerzu nach Dingen, die für niemanden irgendwelche Bedeutung
haben): «Wo ist der Vogel?»
Die Antwort auf diese Frage lautet – gemäß dem Buch – , dass der Vogel in der Schmiede wartet, wegen des Regens. Natürlich würde kein Vogel so etwas tun, aber «Die Koffer waren gepackt, und er reiste, nachdem er seine Mutter und seine Schwestern geküsst und noch ein letztes Mal sein angebetetes Gretchen an sich gedrückt hatte, das, in schlichten weißen Musselin gekleidet und mit einer einzelnen Nachthyazinthe im üppigen braunen Haar, kraftlos die Treppe herabgetaumelt war, immer noch blass von dem Entsetzen und der Aufregung des vorangegangenen Abends, aber voller Sehnsucht, ihren armen schmerzenden Kopf noch einmal an die Brust des Mannes zu legen, den sie mehr als ihr eigenes Leben liebte, ab.»
«The
trunks being now ready, he de-after kissing his mother and sisters,
and once more pressing to his bosom his adored Gretchen, who, dressed
in simple white muslin, with a single tuberose in the ample folds of
her rich brown hair, had tottered feebly down the stairs, still pale
from the terror and excitement of the past evening, but longing to
lay her poor aching head yet once again upon the breast of him whom
she loved more dearly than life itself, parted.»
Es
ist jedoch nicht ratsam, zu lange bei den trennbaren Verben zu
verweilen. Man verliert bald unweigerlich die Beherrschung, und wenn
man bei dem Thema bleibt und sich nicht warnen lässt, weicht
schließlich das Gehirn davon auf oder versteinert. Personalpronomen
und Adjektive sind eine ewige Plage in dieser Sprache, und man hätte
sie besser weggelassen. Das Wort «sie» zum Beispiel bedeutet sowohl
«you» als auch «she» als auch «her» als auch «it» als auch
«they» als auch «them». Man stelle sich die bittere Armut einer
Sprache vor, in der ein einziges Wort die Arbeit von sechs tun muss
–noch dazu ein so armes, kleines, schwaches Ding von nur drei
Buchstaben. Vor allem aber stelle man sich die Verzweiflung vor, nie
zu wissen, welche dieser Bedeutungen der Sprecher gerade meint.
Das
erklärt auch, warum ich im Allgemeinen jeden, der «sie» zu mir
sagt, umzubringen versuche, sofern ich ihn nicht kenne. Nun zum
Adjektiv. Hier haben wir einen Fall, in dem Einfachheit ein Vorzug
gewesen wäre, und nur aus diesem und aus keinem anderen Grund hat
der Erfinder das Adjektiv so kompliziert gestaltet, wie es eben ging.
Wenn wir in unserer eigenen aufgeklärten Sprache von unserem «good
friend» oder unseren «good friends» sprechen wollen, bleiben wir
bei der einen Form, und es gibt deswegen keinen Ärger und kein böses
Blut. Im Deutschen jedoch ist das anders.
Wenn einem Deutschen ein Adjektiv in die Finger fällt, dekliniert und dekliniert und dekliniert er es, bis aller gesunde Menschenverstand herausdekliniert ist. Es ist so schlimm wie im Lateinischen. Er sagt zum Beispiel: Singular Nominativ: Mein guter Freund (my good friend) Genitiv: Meines guten Freundes (of my good friend) Dativ: Meinem guten Freunde (to my good friend) Akkusativ: Meinen guten Freund (my good friend) Plural N.: Meine guten Freunde (my good friends) G.: Meiner guten Freunde (of my good friends) D.: Meinen guten Freunden (to my good friends) A.: Meine guten Freunde (my good friends) Nun darf der Kandidat fürs Irrenhaus versuchen, diese Variationen auswendig zu lernen – man wird ihn im Nu wählen.
Vielleicht
sollte man in Deutschland lieber auf Freunde verzichten, als sich all
diese Mühe mit ihnen zu machen. Ich habe gezeigt, wie lästig es
ist, einen guten (männlichen) Freund zu deklinieren; das ist aber
erst ein Drittel der Arbeit, denn man muss eine Vielzahl neuer
Verdrehungen des Adjektivs dazulernen, wenn der Gegenstand der
Bemühungen weiblich ist, und noch weitere, wenn er sächlich ist.
Nun gibt es aber in dieser Sprache mehr Adjektive als schwarze Katzen
in der Schweiz, und sie müssen alle ebenso kunstvoll gebeugt werden
wie das oben angeführte Beispiel. Schwierig? Mühsam? Diese Worte
können es nicht beschreiben. Ich habe einen Studenten aus
Kalifornien in Heidelberg in einem seiner ruhigsten Augenblicke sagen
hören, lieber beuge er hundertmal beide Knie als auch nur einmal ein
einziges Adjektiv, und es handelte sich nicht etwa um einen Turner.
Der
Erfinder dieser Sprache scheint sich einen Spaß daraus gemacht zu
haben, sie auf jede Art, die ihm nur in den Sinn kam, zu
komplizieren. Wenn man zum Beispiel ein Haus oder ein Pferd oder
einen Hund beiläufig erwähnt, schreibt man diese Wörter wie
angegeben; aber wenn man sich auf sie im Dativ bezieht, hängt man
ein närrisches und unnötiges e an und schreibt sie «Hause»,
«Pferde», «Hunde».
Da
nun ein e oft den Plural bezeichnet (wie bei uns das s), kann es dem
Anfänger leicht passieren, dass er zwei Monate lang aus einem
Dativhund Zwillinge macht, bevor er seinen Irrtum entdeckt; und auf
der anderen Seite hat manch ein Anfänger, der sich solche Einbuße
nur schlecht leisten konnte, zwei Hunde erworben und bezahlt und nur
einen von ihnen erhalten, da er diesen Hund unwissentlich im Dativ
Singular kaufte, während er im Plural zu sprechen glaubte – wobei
das Recht gemäß den strengen Gesetzen der Grammatik natürlich auf
Seiten des Verkäufers war und das verlorene Geld daher nicht
eingeklagt werden konnte.
Im
Deutschen beginnen alle Substantive mit einem großen Buchstaben. Das
ist nun wahrhaftig mal eine gute Idee, und eine gute Idee fällt in
dieser Sprache durch ihr Alleinstehen notwendigerweise auf. Ich halte
diese Großschreibung der Substantive darum für eine gute Idee, weil
man ihr zufolge ein Substantiv fast immer erkennen kann, sobald man
es sieht. Hin und wieder irrt man sich allerdings und nimmt den Namen
einer Person fälschlich für den einer Sache und verschwendet viel
Zeit darauf, einen Sinn aus dem Ganzen herauszulesen. Deutsche Namen
bedeuten fast immer etwas, und das fördert die Täuschung des
Lernbeflissenen.
Ich
übersetzte eines Tages einen Satz, in dem es hieß, die wütende
Tigerin habe sich losgerissen und «den unglückseligen Tannenwald
gänzlich aufgefressen». Schon rüstete ich mich, dies zu
bezweifeln, da fand ich heraus, dass Tannenwald in diesem Falle der
Name eines Mannes war. Jedes Substantiv hat sein grammatisches
Geschlecht, und die Verteilung ist ohne Sinn und Methode. Man muss
daher bei jedem Substantiv das Geschlecht eigens mitlernen. Eine
andere Möglichkeit gibt es nicht.
Um
das fertig zu bringen, braucht man ein Gedächtnis wie ein
Terminkalender. Im Deutschen hat ein Fräulein kein Geschlecht, eine
Rübe dagegen schon. Welch eine übermäßige Hochachtung vor der
Rübe und welch eine kaltherzige Missachtung des Mädchens verrät
sich hier! Sehen Sie einmal, wie es sich gedruckt ausnimmt – ich
übersetze im Folgenden ein Gespräch aus einem der besten deutschen
Sonntagsschulbücher: Gretchen: «Wilhelm, wo ist die Rübe?»
Wilhelm: «Sie ist in der Küche.» Gretchen: «Wo ist das vielseitig
gebildete, schöne englische Mädchen?» Wilhelm: «Es ist in der
Oper.» Gretchen: «Wilhelm, where is the
turnip?» Wilhelm: «She has gone to the
kitchen.» Gretchen: «Where is the
accomplished and beautiful English maiden?»
Wilhelm: «It has gone to the
opera.»
Um
mit den deutschen Geschlechtern fortzufahren: Ein Baum ist männlich,
seine Knospen sind weiblich, seine Blätter sächlich; Pferde sind
geschlechtslos, Hunde sind männlich, Katzen weiblich – Kater
natürlich inbegriffen; Mund, Hals, Busen, Ellenbogen, Finger, Nägel,
Füße und Rumpf eines Menschen sind männlichen Geschlechts; was auf
dem Hals sitzt, ist entweder männlich oder sächlich, aber das
richtet sich nach dem Wort, das man dafür benutzt, und nicht etwa
nach dem Geschlecht des tragenden Individuums, denn in Deutschland
haben alle Frauen entweder einen männlichen «Kopf» oder ein
geschlechtsloses «Haupt». Nase, Lippen, Schultern, Brust, Hände,
Hüften und Zehen eines Menschen sind weiblich, und sein Haar, seine
Ohren, Augen, Beine, Knie, sein Kinn, sein Herz und sein Gewissen
haben gar kein Geschlecht. Was der Erfinder der Sprache vom Gewissen
wusste, wird er wohl vom Hörensagen gewusst haben. Aus obiger
Sektion wird der Leser ersehen, dass in Deutschland ein Mann zwar
glauben mag, er sei ein Mann, aber sobald er sich die Sache genauer
ansieht, müssen ihm Zweifel kommen:
Er
findet heraus, dass er in Wahrheit eine höchst lachhafte Mischung
darstellt. Und wenn er sich dann mit dem Gedanken trösten möchte,
dass doch immerhin ein verlässliches Drittel dieses Durcheinanders
männlichen Geschlechts sei, wird der demütigende zweite Gedanke ihn
sofort daran erinnern, dass er sich da um nichts besser steht als
irgendeine Frau oder Kuh im Lande. Eine Frau ist zwar im Deutschen
infolge eines Versehens des Erfinders der Sprache weiblich; ein Weib
jedoch ist es zu seinem Pech nicht.
Ein
Weib hat hier kein Geschlecht, es ist ein Neutrum; laut Grammatik ist
also ein Fisch «er», seine Schuppen «sie», ein Fischweib aber
keins von beiden. Ein Weib geschlechtslos zu nennen darf wohl als
eine hinter dem Sachverhalt zurückbleibende Beschreibung gelten.
Schlimm genug – aber übergroße Genauigkeit ist sicherlich noch
schlimmer. Ein Deutscher nennt einen Bewohner Englands einen
«Engländer». Zur Änderung des
Geschlechts fügt er ein «-in» an und bezeichnet die weibliche
Einwohnerin desselben Landes als «Engländerin».
Damit scheint sie ausreichend beschrieben, aber für einen Deutschen
ist das noch nicht exakt genug, also stellt er dem Wort den Artikel
voran, der anzeigt, dass das nun folgende Geschöpf weiblich ist, und
schreibt: «die Engländerin» (was soviel heißt wie «the
she-Englishwoman»). Meiner Ansicht nach ist diese Person
überbezeichnet. Schön. Aber auch wenn der Lernbegierige das
Geschlecht einer großen Anzahl von Substantiven auswendig gelernt
hat, hören die Schwierigkeiten noch nicht auf. Er kann nämlich
seine Zunge einfach nicht dazu bringen, die Dinge, die er
gewohnheitsmäßig mit «it» bezeichnet, nun auf einmal «he» und
«she» bzw. «him» und «her» zu nennen.
Mag
er sich auch im Geiste den deutschen Satz mit allen «hims» und
«hers» an der richtigen Stelle zurechtgelegt haben und sich unter
Aufbietung all seines Mutes anschicken, ihn auszusprechen – in dem
Augenblick, in dem er den Mund aufmacht, bricht seine Zunge aus der
Bahn aus, und die sorgfältig erarbeiteten männlichen und weiblichen
Formen kommen als lauter «its» ans Licht. Und selbst wenn er für
sich deutsch liest, nennt er diese Dinge immer «it», obwohl er doch
eigentlich folgendermaßen lesen müsste: [Es folgt der Text «Tale
of the Fishwife and its sad Fate»; dafür in der deutschen
Übersetzung eingefügt: Sehen Sie den Tisch, es ist grün.]
Wohl
in allen Sprachen sind Ähnlichkeiten in Aussehen und Klang zwischen
Wörtern, bei denen keine Ähnlichkeit der Bedeutung besteht, eine
ewige Quelle der Verwirrung für den Ausländer. Das ist in unserer
eigenen Sprache so und ganz besonders auch im Deutschen. Da hätten
wir zum Beispiel das lästige Wort «vermählt». Für mich hat es
eine so große – wirkliche oder nur eingebildete – Ähnlichkeit mit
drei oder vier anderen Wörtern, dass ich nie weiß, ob es
tatsächlich «verheiratet» bedeutet (wie mir das Wörterbuch beim
Nachschlagen immer wieder versichert) oder ob ich es nicht doch
wieder einmal mit «verschmäht», «gemalt» oder «verdächtigt»
verwechselt habe. Solche Wörter gibt es haufenweise, und sie sind
eine echte Plage.
Damit
die Schwierigkeiten noch größer werden, gibt es außerdem Wörter,
die einander zu ähneln scheinen, sich jedoch in Wirklichkeit ganz
und gar nicht ähneln; aber sie machen nicht weniger Ärger, als wenn
sie es wirklich täten. Da haben wir zum Beispiel das Wort
«vermieten» und das Wort «verheiraten». Ich habe von einem
Engländer gehört, der in Heidelberg bei einem Mann anklopfte und in
dem besten Deutsch, das ihm zur Verfügung stand, fragte, ob er ihm
sein Haus verheiraten könne.
Dann
gibt es da gewisse Wörter, die eins bedeuten, wenn man sie auf der
ersten Silbe betont, aber etwas ganz anderes, wenn man den Ton auf
die zweite oder letzte Silbe verschiebt. So kann man zum Beispiel mit
einem Menschen umgehen oder aber ihn umgehen – je nachdem, wie man
das Wort betont; und man darf sich darauf verlassen, dass man die
Betonung in der Regel auf die falsche Silbe legt und Ärger bekommt.
Das
Deutsche besitzt einige überaus nützliche Wörter. «Schlag», zum
Beispiel, und «Zug». Im Wörterbuch ist eine Dreiviertelspalte mit
«Schlag» gefüllt und eineinhalb Spalten mit «Zug». Das Wort
«Schlag» kann Hieb, Stoß, Streich, Rasse, Haus (z. B. für
Tauben), Lichtung, Feld, Enttäuschung, Portion, rasche Folge (wenn
es zu «Schlag auf Schlag» gedoppelt wird), sodann einen Anfall,
eine unangenehme Wirkung des Schicksals, eine ebensolche des
elektrischen Stroms und wahrscheinlich noch einiges mehr bedeuten.
Alles
das ist seine einfache und genaue, das heißt also: seine
beschränkte, seine gefesselte Bedeutung; aber es gibt außerdem noch
Möglichkeiten, es freizulassen, so dass es davonschweben kann wie
auf den Schwingen des Morgens und nie wieder zur Ruhe kommt. Man kann
ihm jedes beliebige Wort hinten anhängen und ihm so jede nur
gewünschte Bedeutung geben. Man kann bei der «Schlagader» anfangen
und dann Wort um Wort das ganze Wörterbuch anhängen, bis hin zu
«Schlagwasser», einem anderen Wort für Bilgewasser, und
«Schlagmutter», womit die Schwiegermutter gemeint ist. Nicht anders
steht es mit «Zug».
Genau genommen bedeutet «Zug» eine Fortbewegungsform, Kennzeichen, Merkmal, Charaktereigenschaft, Teil des Gesichtsausdrucks, Neigung, Hang, Marsch, Prozession, Wagenreihe, Schublade, Luftströmung, Gespann, Richtung, Schwarm, Register (an der Orgel), Schluck, einen Vorgang beim Schachspiel und beim Atmen – aber was es nicht bedeutet, nachdem all seine rechtmäßigen Anhänglinge angehängt worden sind, hat man bisher noch nicht herausgefunden.
Der Nutzen von «Schlag» und «Zug» ist einfach nicht zu überschätzen. Mit weiter nichts als diesen beiden Wörtern und dem Wort «also» bewaffnet, bringt der Ausländer auf deutschem Boden fast alles zuwege. Das deutsche Wort «also» entspricht der englischen Wendung «you know» und bedeutet überhaupt nichts – jedenfalls nicht beim Reden, wenn auch manchmal in einem gedruckten Zusammenhang. Sooft ein Deutscher den Mund aufmacht, fällt ein «also» heraus, und sooft er ihn zuklappt, zerbeißt er eins, das gerade entwischen wollte. Mark Twain 1880
Meine gute Freundin Wiebeke, die mich auf diesen Text von Mark Twain aufmerksam gemacht hat, hat berichtet, dass Mark Twain diesen Text in Englisch geschrieben und veröffentlicht hat. Daher kommt es auch, dass es verschiedene deutsche Übersetzungen dieses Textes gibt. Leider wird der Namen der Übersetzerin oder der Namen des Übersetzer oft nicht genannt. Eine Übersetzung von 2003 hat Ana Maria Brock angefertigt. Diese findet sich in der Buchausgabe von der Manuscriptum Verlagsbuchhandlung Tomas Hoof KG, Waltrop und Leipzig 2003 (8. Auflage). ISBN 3-933497-41-8 herausgegeben. Im Nachwort von Herausgeber Helmut Winter wird Mark Twain zitiert: „Ich habe das Deutsche Sprache gelernt und bin ein glücklicher kind, you bet. Geborn 1835; 5 Fuss 1/2 inches hoch; weight doch aber about 145 pfund; dunkel braun Haar und rhotes Moustache, full Gesicht mit sehr hohe Oren und leicht grau practvolles strahlende Augen und Verdammtes gut moral character!“ (Marc Twain, Author von Bücher)
Fehlt nur noch, was Kurt Tucholsky über die Englische Sprache geschrieben hat: «Das Englische ist eine einfache, aber schwere Sprache. Es besteht aus lauter Fremdwörtern, die falsch ausgesprochen werden.» zitiert nach: Kurt Tucholsky, Gesammelte Werke, Dünndruckausgabe, Band III, (1929 – 1932), Seite 833. Und ausserdem hat er in der Geschichte «Wo sind meine Schuhleisten – ? » auf Mark Twain hingewiesen. «Mark Twain hat mal eine Geschichte darüber geschrieben, wie Hausmädchen immer wichtige Briefe wegwerfen, dagegen irgendeinen alten Fetzen Papier einem beharrlich und vierzehn Tage lang immer wieder auf den Nachttisch packen . . . wo sind die Dinger? Unterm Bett . . . Jetzt muß ich armer, alter Mann mit meinem dicken Bauch mich auch noch bücken, das ist mir auch nicht an der Wiege gesungen worden. Mama konnte übrigens gar nicht singen. Da hätte sie eben das Grammophon andrehen sollen. Unterm Bett sind sie auch nicht. Also man sollte es nicht für möglich halten: haben denn diese Mädchen keine Leisten! Das ist doch keine so große Sache . . . Ich werde klingeln. Nein, ich werden nicht klingeln. Wir wollen doch mal sehen, ob die männliche Intelligenz nicht imstande ist, den Schleichwegen weiblichen Schafsinns zu folgen. Wahrscheinlich hat sie sie in den Nachttopf gelegt. Auch nicht. Im Schreibtisch . . . ? Mich soll das nicht wundern. Frauen sind zu allem fähig. Einmal in Gremsmühlen, lagen die Dinger in der Badewanne. « Ich dachte . . . » hat das Stubenmädchen nachher gesagt . . . » (Seite 854 Band III – Wo sind meine Schuhleisten -?) Erstveröffentlichung unter dem Namen Peter Panter in der Vossischen Zeitung, Verlag Ullstein, am 10. Mai 1931, zitiert nach der Gesamtausgabe Kurt Tucholsky, Band III, Dünndruckausgabe. Seite 854. Ich muß gestehen, dass ich mit dem Wort Schuhleiste nichts anfangen konnte. Deswegen habe ich mal nachgesehen. Das sind diese Dinger, die in Hamburg Schuhspanner heissen und die von Schustern gerne dazu benutzt werden, die Schuhe zu weiten.
SO VERSCHIEDEN IST ES IM MENSCHLICHEN LEBEN! Ich reiste im Traum nach Kottbus und ließ dortselbst meine Handtasche stehen. Jetzt muß ich zurückträumen und sie holen.
Willst du eine reizende Damenbekanntschaft machen? Vergiß, dich zu rasieren.
Die Militaristen irren. Es ist gar nicht die Aufgabe der Pazifisten, sie zu überzeugen – sie sollen vielmehr in einem Kampf, der kein Krieg ist, besiegt, nämlich daran gehindert werden, über fremdes, ihnen nicht gehöriges Leben zu verfügen. Man mache sie unschädlich; einzusehen brauchen sie gar nichts. Ich bin für militaristischen Pazifismus.
Die meisten berliner Theater- und Kabarett-Abende gehören dem einen oder dem andern Typus an: jüdische Hochzeit oder münchner Atelierfest.
Die Apologetik der katholischen Kirche – : das ist wie ein Luftschiff auf Rädern.
«Wozu noch Lust? Ich liebe ihn doch!» Da war sie neunzehn Jahre. «Wozu noch Liebe? Sie belustigt mich doch!» Da war er vierzig Jahre. Als sie fünfzig wurden, kam er in die zweite Jugend und liebte, wieder. Sie hatte nie aufgehört, zu lieben.
Ein boxender Buchhändler, der mäßige Vorträge über Plato hält -: kein Mensch hörte danach hin. Zieht sich aber derselbe Mann einen Kaplansrock an: dann bibbert das Publikum. Bei den Männern tauchen die alten Kinderideen von der Größe der Kirche auf, und die Damen denken: «Darf er? Er darf nicht. Tut ers? Wenn ja, mit wem? Und warum nicht mit mir?» Wie interessant kann doch Plato sein!
Solch ein friedliches Land -! Da tragen die Polizisten noch Säbel. Welche Hochachtung hat doch der Franzose vor der Sprache! «Il a trouvé ce mot . . . » Das Wort war vorher da, der Autor hat es nur gefunden.
Es gibt Auslandskorrespondenten, die wollen die fremden Völker, zu denen man sie geschickt hat, nicht erkennen. Sie wollen sie durchschauen.
Manche Schriftsteller sammeln große Männer. «Haben Sie schon Mussolini? Ich habe ihn doppelt!»
Sie sprach so viel, dass ihre Zuhörer davon heiser wurden. Nie geraten die Deutschen so außer sich, wie wenn sie zu sich kommen wollen.
Er besuchte alle Premieren – nicht aus Liebe zur Kunst, sondern um als erster Nein sagen zu können.
Lungenhaschee . . . das sieht aus wie: «Haben Sie das gegessen, oder werden Sie das essen?»
Zwei Kriegsminister: Churchill kann Trotzki nur verhöhnen. Aber Trotzki kann Churchill mitdenken.
Gott schuf Kluge, Dumme, ganz Dumme und Geschäftsführer der SPD-Presse.
Die Engländer werden mit ihren Arbeitslosen nicht fertig; die Franzosen quälen ihre Strafgefangenen, die männlichen in Guayana und die weiblichen in Rennes, dass es einen Hund jammern kann; die Jugoslawen quetschen mißliebigen Politikern die Fingernägel ab, die Ungarn den ihren die Hoden, und die Rumänen befassen sich liebevoll mit den gefangenen Frauen – alle, alle aber sind sich darin einig, dass das Sowjetsystem ein verrottetes System sei. So verschieden ist es im menschlichen Leben! Peter Panter.
(Erstveröffentlichung unter dem Namen Peter Panter in Die Weltbühne vom 26. Mai 1931, Buchveröffentlichung in LL = Lerne lachen ohne zu weinen. Zitiert nach Kurt Tucholsky, Gesammelte Werke, Band III, Dünndruckausgabe. Seite 864 – 865) Die Suchmaschine übersetzt: Il a trouvé ce mot = Er hat dieses Wort gefunden. Der VEB Duden von 1984 schreibt: Apologetik = die, – (Verteidigung, bes. der christl. Glaubenslehren)
«Das Englische ist eine einfache, aber schwere Sprache. Es besteht aus lauter Fremdwörtern, die falsch ausgesprochen werden». (Kurt Tucholsky, Seite 833, Dritter Band der Gesamtausgabe)
Neulich
habe ich alte Jahrgänge des <Brenner>
gelesen, einer Zeitschrift, die in Innsbruck erschienen ist und wohl
noch erscheint . . . Das war eine merkwürdige Lektüre.
Es
gibt eine Menge verhinderter Katholiken, meist sind es Juden, denen
ist die katholische Kirche nicht katholisch genug, oder sie erscheint
ihnen überhaupt nicht als katholisch. Ich mag mich nicht
gern mit der
Kirche auseinandersetzen; es hat ja keinen Sinn, mit einer
Anschauungsweise zu diskutieren, die sich
strafrechtlich hat schützen
lassen.
Mit
so unhonorigen Gegnern trete ich nicht gern an. Was aber jene
verhinderten Katholiken angeht, die es gern sein möchten, es aber
nicht sein können und die darunter leiden, wie nur ein Mensch leiden
kann: es sind das nicht nur die forschen Konvertiten, die da toben.
Es ist noch etwas andres.
Da
ist eine ganze Literaturgattung, die schlägt der Welt ununterbrochen
das <Neue
Testament>
auf den Kopf und wundert sich, daß es nicht gut klingt. Das höchste
Pathos blüht hier; kaum einer kann gewaltigere Töne finden als der,
der aufzeigt: Siehe, die Welt lebt nicht,
wie Christus es gelehrt hat. Es gibt nur noch ein Pathos, das höher
ist: das ist das Pathos über Christus hinweg.
Im
<Brenner> nun, dessen Sauberkeit,
Tapferkeit und Reinheit nicht bezweifelt werden kann, gehts hoch her.
Und dabei ist mir etwas aufgefallen.
Da
ist zum Beispiel Theodor Haecker, ein Schriftsteller von beachtlichem
Format, wenn man nicht genau hinsieht. Wenn man aber genauer
hinsieht, dann zeigt sich unter dem Lärm der donnernden Moralpauken
ein kleiner Mann, der es dem Hermann Bahr aber ordentlich gibt, und,
auf einmal, Hosianna, Amen und Ite missa est, sind wir mitten im
fröhlichen Gezänk eines Literaturcafés. Frommer Schwannecke. Es
scheint, als ob diese Sorte Literaten sich erst religiös sichern
müssen, bevor sie loshacken.
Sie
haben nie begriffen, daß es christlich, mehr: daß es philosophisch
wäre, zu schweigen und vorüberzugehn. Ja, wenn ein Gläubiger
aufschreit und dem Wahnwitz der Welt einen Spiegel entgegenhält, von
dem jene nachher sagt, es sei ein Zerrspiegel, weil sie nicht glauben
kann, daß sie so gemein aussähe! Wer dieses aber allmonatlich,
regelmäßig und mit hitziger Wonne tut: der ist kein Christ, und
wenn er zehnmal den ganzen Kierkegaard übersetzt hat. Der ist genau
dasselbe wie Hermann Bahr, nur mit umgekehrtem Vorzeichen.
Und
schließlich ist psychopathische Lebensuntüchtigkeit noch kein
Christentum, und <das Böse> ist kein Schimpfwort. Wenn einer
mit seinem Leben und nun gar mit dem Leben nicht fertig wird, so wird
solch ein Anblick dadurch nicht schöner, daß er sich auf die Bibel
beruft.
Die
geheime Wonne, dem andern aber ordentlich eins zu versetzen, wird
hier durch Moralinsäure legalisiert und durch eine verfälschte
Himmelssüßigkeit, die nach Sacharin schmeckt und durchaus von
dieser Erde stammt. Das Ziel ist vielleicht gut; die Kämpfer sind es
mitnichten. Und die Hälfte ihrer Religion besteht in der Verachtung
der Ungläubigen; das hält warm und ist ein schönes seelisches
Unterfutter.
Viel
Rauch um diesen Brenner. Schade um die reine Flamme.
Der
Zustand der gesamten menschlichen Moral läßt sich in zwei Sätzen
zusammenfassen: We ought to. But we don’t.
Wenn
Stefan Zweig einen erkälteten Magen hat –: schreibt er sich dann
etwas auf die eigne Bauchbinde –?
Das Englische ist eine einfache, aber schwere Sprache. Es besteht aus lauter Fremdwörtern, die falsch ausgesprochen werden.
Scharfe Sozialkritiker sind in ihren Nicht-Vaterländern sehr beliebt, nur dürfen es grade keine Kommunisten sein.
Sonst aber hat es der Deutsche gern, wenn der Amerikaner die amerikanische Kultur demoliert; wir haben uns immer sehr für die Freiheit der andern interessiert.
Man
kann jeden schreibenden Menschen bis ins Mark daran erkennen, wie er
das Wort <ich> setzt. Manche sollten es lieber nicht setzen.
Hitler setzt es. «Wenn ich in Deutschland spreche, so strömen mir
die Menschen zu . . . » Der Ton ist vom Kaiser entlehnt, und das
Ganze hat etwas Gespenstisches: denn dieses <ich> ist überhaupt
nicht da. Den Mann gibt es gar nicht; er ist nur der Lärm, den er
verursacht.
Die einen haben nichts zu essen und machen sich darüber Gedanken, das kann zur Erkenntnis ihrer Lage führen: und das ist dann Marxismus; die andern haben zu essen und machen sich keine Gedanken darüber: und das ist dann die offizielle Religion. So verschieden ist es im menschlichen Leben! (Peter Panter, Die Weltbühne, 14. April 1931, erste Buchveröffentlichung in LL=Lerne Lachen ohne zu weinen)
Die
Suchmaschine übersetzt: We ought to. But we don’t. = Wir sollen.
Aber wir tun es nicht.
Wikipedia
schreibt:
Ite
missa est
=
spätlatteinisch
für Gehet hin,
ihr seid gesandt, wörtlich
geht, das ist
die Entlassung
bzw. Geht, sie
ist gesandt.
In
der deutschsprachigen Fassung Gehet
hin in Frieden,
ist es der
Entlassungsruf
am Ende der
heiligen Messe
im römischen
Ritus. Er wird
vom Diakon
oder Zelebranten
gerufen, die
Gläubigen antworten mit Deo
gratias. Dank
sei Gott,
bzw.
Dank sei Gott dem Herrn.
(Die beiden Sätze (Das Englische ist eine einfache, aber schwere Sprache. Es besteht aus lauter Fremdwörtern, die falsch ausgesprochen werden.) sind herausgerissen aus dem Text: So verschieden ist es im menschlichen Leben. Aus Kurt Tucholsky. Gesammelte Werke, Band III, 1929- 1932, Dünndruckausgabe, Seite 832-834. Zuerst erschienen unter dem Namen Peter Panter, Die Weltbühne, vom 14. April 1931.)
Motto:
Der eigne Hund macht keinen Lärm – er bellt nur. (Alte Weisheit)
Donnerwetter,
ist
das ein Krach! Was ist das?
(Achselzucken.) – «Das
sind Lösers, die Leute, die über uns wohnen. Das ist jeden Abend
so.» Und da sagt ihr nichts? – «Wir
haben schon raufgeschickt: da ist nichts zu machen. Sie haben gesagt,
unseretwegen können sie sich keinen Bodenbelag . . . Himmelkreuz,
man glaubt reineweg, die kommen mit der Decke runter! Nu hör bloß
mal an – der Kalk rieselt richtig . . . Ruhe! – Ruhe!»
Ja,
Kuchen. Was machen die Leute da oben in ihrer Wohnung?
Sprechen
wir nicht von den wildgewordenen Hausfrauen. Die Reinmache-Megären
sind weniger zahlreich geworden; dafür sind auch die Wohnungen von
vernünftigen Familien sauberer. Aber was stampfen, was klopfen, was
rücken die Leute über uns?
Alles,
was man nur mit einem einzigen Sinn wahrnehmen kann, wirkt
merkwürdig; die andern vier Sinne liegen gespannt auf der Lauer, und
das Gehirn ist gezwungen, aus der einen, unvollkommenen Wahrnehmung
alles andere zu kombinieren. Und so kombinieren wir denn, nachdem das
Ohr schmerzlich aufgenommen hat:
Lösers
machen Manöver. Lösers räumen jeden Abend ihre Wohnung aus . . .
sie hängen ihre sämtlichen Einrichtungsgegenstände zum Fenster
hinaus, räumen sie wieder ein . . . Nein, sie rollen zwei kleine
Kanonenkugeln, Andenken aus dem Weltkriege, fröhlichen Gemütes
durch die Korridore. Sie spielen Zirkus: schlagen der Länge lang
hin, stehen wieder auf, schlagen wieder hin . . . Sie haben einen
Kraftmenschen engagiert, der – nu hör doch bloß mal einer an! –
das Büfett aufhebt und probiert, ob es, wenn man es auf den Boden
hinfallen läßt, federt – was machen diese Leute? Ruhe!
Ich
will es dir genau sagen, was sie machen. Dasselbe wie du.
Sie
gehen auf und ab. Sie rücken ein paarmal Möbelstücke hin und her,
was deinem Ohr zweck- und sinnlos erscheint, was aber ganz vernünftig
anmutet, wenn man bei ihnen oben ist. Sie lassen ihre Kinder tollen .
. .
Zugegeben:
es gibt rücksichtslose Wohnungsnarren. Es scheint, dass manche Leute
ihrem am Tage im Geschäft unterdrückten Willen zu Hause
Spielfreiheit geben – da toben sie sich aus. Es gibt ausdauernde
Auf- und Abgeher, solche, die, vom Teufel der Ruhelosigkeit geplagt,
durch die Wohnung jagen . . . es ist so viel unbefriedigtes Gefühl
in dem, was sie so treiben . . . Ja, aber wo sollten sie das alles
tun, wenn nicht zu Hause! Den Tag über ist ihr Leben mit lauter
Schildern umgattert: DU DARFST NICHT! . . . VERBOTEN! . . .
UNTERSAGT! – Einmal, ein einziges Mal will der Mensch das
Überflüssige tun, das dem Leben erst die richtige Würze gibt. Und
da toben sie sich denn aus.
Es
ist ein Jammer. Was ist ein Jammer? Der Wohnungsbau ist ein Jammer.
Denn da wir dem Idealzustand, wo jede Familie ihr Häuschen hat, noch
sehr fern sind, ist die große Mehrzahl aller Leute in den
Großstädten gezwungen, in Mietshäusern zu wohnen – sie sind
schon so froh, wenn sie darin überhaupt eine Wohnung finden. Und was
sind das für Häuser?
Was
die Architekten machen, ist ziemlich klar. Sie bauen die neuen Häuser
aus einer Mischung von kaltgewordener Zigarrenasche und gestoßenen
Ziegeln. Jeder <Fachmann>
wird hier aufbrausen und uns erklären, dass es so ist, dass es nicht
so ist, warum es gar nicht anders sein kann . . . das müssen wir uns
mit Gleichmut anhören. Genau so wie den Lärm über uns, unter uns,
neben uns . . .
Es
muß eine raffinierte Berechnungsmethode geben, nach der die Häuser
grade noch stehenbleiben, wenn jemand das hohe C in ihnen singt. Es
sind liebe Baulichkeiten: niest jemand im Keller, so kann man getrost
auf dem Boden «Zur Gesundheit!»
wünschen, und mit dieser Papparchitektur wird das immer schlimmer.
Großstadthäuser aus den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts
wirken heute schon wie die alten Ritterburgen. Die neuen erzittern,
wenn man sie nur ansieht, und wenn ein ungezogener Knabe in ihnen
aufstampft, dann fallen die Hypotheken vom Dach. Was machen die Leute
bloß da oben – ?
Eine
Lärmsicherung gibt es nicht. Man hat Versuche mit Korkböden
gemacht; die sind teuer, sie dämpfen den Schall wohl – aber sie
ersticken ihn nicht ganz. Und so rumort es über den Köpfen hinweg,
ganze Artillerieregimenter fahren auf und fahren wieder ab – was
machen die Leute bloß?
Du
mußt mit ihnen aufstehen und mit ihnen zu Bett gehen. Du lebst ein
fremdes Leben mit. Stille, das kostbarste Gut, ist dir versagt. Und
wenn sie selbst still sind, wenn sie dicke Teppiche haben, die
Obermieter, wenn sie selbst – o seltener Fall! – aus Rücksicht
für dich Hausschuhe tragen . . . dann ist da noch immer der
schrecklichste der Schrecken.
vomiert «Huhu – huhu – haha – huhu – hiiiii –» Was ist das? Eine Lokomotive im Tunnel? Ach nein. Das ist Fräulein Lieschen Hasensprung, die sich im Gesang übt. Sie gleitet die Skalen gar oftmals hinauf und hinab; sie schleift die Töne im Hals, bis der Hals rauh und die Töne glatt sind, und wenn sie nicht singt, dann spielt sie Klavier. Das Klavier klingt, wie wenn man Wurstpellen auf eine Sardinenbüchse gespannt hat, das Spiel schmeckt nach Wurst und nach Sardinen. Und das geht den ganzen Tag – stunden – – stundenlang . . .
Und wenn sie nicht Klavier spielt, dann vomiert (*) der Lautsprecher, damit die andern Leute auch eine Freude haben. Krach muß sein, sonst macht das ganze Leben keinen Spaß.
Aber
– aber – was machen sie bloß da oben? Rollen die ihren Ofen
durch die Zimmer? Vielleicht haben sie dem Schreibtisch Punkte
aufgemalt, und nun würfeln sie damit . . Oder die lieben Kinderchen
spielen ein gemütliches Spiel, wie das Kinder so tun:
<Schweineschlachten in Oberbayern>
oder <Chaplin und die Flöhe>.
Horch – welch ein Skandal! Unser Kronleuchter zittert und klingelt
mit dem Glas. Man fühlt ordentlich den Boden schwanken. Alles in mir
zittert. So –
So
geht das nicht mehr weiter. Jetzt schreibe ich drei Briefe: einen an
die Polizei, einen an den Hausverwalter und einen an die
rücksichtslosen Mieter. Ich will mir nur noch den Tisch hierher
rücken, die Lampen dahin, so – und den Stuhl hierhin, und noch den
kleinen Rauchtisch daneben – so – und dann gehts los.
Und
unter mir denkt sich einer: «Was macht
dieser Panter da oben eigentlich?»
Er schreibt drei Briefe. Gegen den Lärm. Erstveröffentlichung unter dem Namen Peter Panter in Der Uhu, Das neue Monatsmagazin, Verlag Ullstein, Juni1930, Heft Nr. 9, Seite 89, zitiert nach Kurt Tucholsky, Gesammelte Werke in drei Bänden, Dünndruckausgabe, Band III, Seite 459 – 461. (*) vomieren. Nein das Wort hat sich Tucholsky nicht ausgedacht, es ist sogar in meinem VEB Duden von 1984 abgedruckt und steht: Vomieren = sich erbrechen. Na sowas.
Die US-Amerikaner lieben ihr Land. Selbst ihre allmächtige und allgegenwärtige Stasi, die Central Intelligence Agency, lassen sie vertrauensvoll gewähren. Oder haben Sie jemals von einem demonstrierenden Ami den Ruf gehört: »CIA in the Production!« Na bitte. Die Jungs sollen ruhig machen, was sie wirklich können: spionieren, infiltrieren, zersetzen. Und Akten anlegen. Oder auch nicht. Kein Gott und kein Gauck, von den die Bespitzelten ganz zu schweigen, dürfen da reingucken.
Diese
Art Umgang mit den amerikanischen Stasiakten hat einen nicht zu
unterschätzenden sozialen Aspekt: Sie schafft Arbeit. Eine Menge
Leute, z. B. Journalisten, Buchautoren und Filmemacher, können eine
ganze Menge Geld damit verdienen.
Greifen wir nur einen Fall heraus: den Kennedy Mord. Die Protokolle, so denn überhaupt noch welche vorhanden sind, werden allerdings veröffentlicht. Wenn auch erst anno 2038, ganz 75 Jahre nach der Tragödie. Aber man hat ja schließlich ein Langzeitgedächtnis.
Unter den Augen
Tausender Schaulustiger war der jüngste Präsident der Vereinigten
Staaten am 22. November 1963 in Dallas erschossen worden. Der
blitzartig gefaßte Täter hieß nicht J. R. Ewing, sondern Lee
Harvey Oswald, war 24 Jahre alt, mit einer Russin (!) verheiratet und
selbstverständlich Kommunist.
Nachdem er zwei Tage
lang seine Unschuld beteuert hatte, wurde auch
er vor laufenden Kameras gekillt. Und zwar
vom mafiösen Nachtclubbesitzer Jack Ruby, den es kurze Zeit später
ebenfalls dahinraffte.
Als das neugierige Volk nach Aufklärung schrie, stellte der neue Prä-sident Lyndon B. Johnson eine Untersuchungskommission unter dem Vorsitz des Obersten Richters der USA Earl Warren zusammen.
Nun
dauerte es
nur noch zehn Monate, bis jedermann erfahren konnte, wie alles
gelaufen war.
Also: Oswald, das Kommunistenschwein, hatte die Tat ganz allein geplant und begangen. Aus einem uralten defekten Gewehr feuerte er innerhalb von acht Sekunden drei Schüsse auf sein 50 Meter entferntes bewegliches Ziel JFK ab. Eine Kugel erwies sich als zauberkräftig. Sie traf Kennedy erst in den Rücken und dann in den Hals. Danach verließ sie den Präsidenten, um den vor ihm sitzenden Gouverneuer Connally durch den Rücken in die Brust zu treffen, im freien Flug einen Speichenknochen seiner linken Hand zu zersplittern, sich anschließend durch seinen rechten Oberschenkel zu bohren und endlich direkt vor die wachsamen Polizisten zu rollen.
So und ähnlich überzeugend argumentierte der Warren Report. Wer sich beim Durchackern der 26 Bände nicht totgelacht hatte, kam unter Umständen auf die Idee, selbst Nachforschungen anzustellen. Es fanden sich Zeugen, die andere Schützen gesehen und drei weitere Schüsse gehört hat-ten. Die Spuren führten in die Unterwelt und ins Pentagon, zu FBI und CIA, und wer was ausgesagt hatte, das auf eine Verschwörung, gar auf einen Staatsstreich deutete, verstummte sehr bald und für immer.
Nun brach die Zeit der Vermarktung an. Mehr als 100 Fernsehsendungen wurden ausgestrahlt und mehr als 600 Bücher erschienen zum Fall Kennedy. Darunter »Auf der Spur der Mörder« von Jim Garrison, Bezirksstaatsanwalt von New Orleans. Er bewies, daß Oswald ein kleiner CIA-Spitzel war, der den tödlichen Schuß gar nicht geführt haben konnte. Er untersetzte auch die Komplott-Theorie durch einleuchtende Fakten.
Und nun wirds leider ein bißchen kriminell. Oliver Stone (»Platoon«) bemächtigte sich nämlich des Garrison-Reports und strickte es zu dem Hollywood Monumentalsschinken »JFK John F. Kennedy – Tatort Dallas« um.
Wieder und wieder zelebriert der manische Filmer
den Mordhergang in einer unentwirrbaren Verschlingung von
Dokumentaraufnahmen und nachgestellten Szenen. In trommelfeuerartiger
Abfolge von Wort und Bild entbietet er jeden Krümel der
Garrisonschen Recherchen.
Als Lockfett benutzt er dieses spezifische Hollywood-Schmalz,
von dem einem so richtig schön schlecht wird. Wenn beispielsweise
Sissy Spacek alias Mrs. Garrison
gurrt, der tote JFK möge sich ein bißchen gedulden, weil sie
dringend mit Mr. Garrison ins Bett will. Oder wenn der eins so nett
mit dem Wolf tanzenden Kevin Costner, nunmehr STONE-washed
wie ein magenkranker Hauptbuchhalter, als Jim Garrison Tränen
vergießt,
weil mit dem Mord an Kennedy »der
heimliche Mord im Herzen
des amerikanischen Traums«
stattgefunden habe.
Denn – und das ist
das Glaubensbekenntnis des Oliver Stone
– JFK war der Messias. Wäre uns der Erlöser
nicht schon wieder genommen worden, hätte es keinen Vietnamkrieg
gegeben, kein Watergate und keinen Golfkrieg. Frieden wäre auf Erden
und den Schwarzen wie den Weißen ein Wohlgefallen. Amen.
Und dann läßt Stone seinen Helden noch einen
denkwürdigen Satz sagen: »Wenn
das Alte nicht mehr funktioniert, dann geh einen Schritt weiter nach
Westen.«
Bis Amerika etwa? Besten Dank! Da sind mir einfach zu viele Spinner. Und vor allem viele zu viele unkontrollierbare Stasileute.
Renate Holland-Moritz
(1992)
Ach und Wolfgang Neuss hatte auch noch was zu den Kennedy Mördern gesagt, moment mal ich muss mal nachsehen, nachhören.
Wolfgang Neuss hat seinen Onkel und seine Tante in Treptow besucht. „Ein Glück, sagt er, daß dieser Oswald-Mörder Rubinstein heisst. Stell dir mal vor, der heisst zufällig Müller, Meier oder Schulze? Würden die Leute in der ganzen Welt noch glauben, wäre ein Deutscher gewesen!“ (Das jüngste Gerücht. Von und mit Wolfgang Neuss, LP Fontana 885405 Schallplatte 1964).
Aus dem Buch : Der Totale Neuss, Seite 302. Zitat: „1963 – Zwei Jahre nach dem Mauerbau steckt der Ost-West-Dialog in einer Krise. Nach zähen Verhandlungen zwischen den deutsch-deutschen Behörden kommt es zu einem Passierscheinabkommen, das Westberlinern ermöglicht, ihre Verwandten im Ostteil der Stadt zu besuchen. Im November fällt Kennedy, der noch im Juni vor dem Schöneberger Rathaus die Berliner mit dem Spruch »Ich bin ein Berliner« begeistert hatte, in Dallas einem Attentat zum Opfer. Der mutmaßliche Kennedy-Mörder Lee Harvey Oswald wird – bereits in Polizeigewahrsam – von Jack Rubinstein alias Ruby, einem Barbesitzer von zweifelhaftem Ruf, auf offener Straße erschossen. Die näheren Umstände des Kennedy-Mordes wurden nie aufgeklärt.“
Renate Holland-Moritz (R.H.M.) schreibt seit 50 Jahren in der Satire-Zeitschrift Eulenspiegel ihre Filmkritiken. Sie waren zu DDR-Zeiten Kult: Die Kinoeule. Interview mit Andreas Kurtz(A.K.)
Zur Person: Renate Holland-Moritz (R.H.M.) wurde in Berlin-Wedding geboren, wuchs aber in Südthüringen auf. Nach nicht abgeschlossenem Oberschulbesuch begann sie als Volontärin und Assistentin bei verschiedenen Berliner Tageszeitungen. Seit 1956 ist sie freiberufliche Mitarbeiterin der Satirezeitschrift „Eulenspiegel“. Seit 1960 veröffentlicht sie dort unter dem Titel „Kino-Eule“ Filmkritiken. Sie hat eine Vielzahl satirischer Erzählungen im „Eulenspiegel“ und in Büchern veröffentlicht, von denen zwei vom DDR-Fernsehen und der Defa auch verfilmt wurden.
(A.K.): Vor fünfzig Jahren erschien im Satiremagazin Eulenspiegel zum ersten Mal die Autorenzeile Renate Holland-Moritz. Wie kam es dazu? (R.H.M.): Die Phase des Ausprobierens hatte ich damals mit einundzwanzig schon hinter mir. Das war wie Heimkehr. Das war genau der Ort, an den ich wollte, ohne begründete Hoffnung, dass die Eulen-Leute auch mich wollten. Ich hätte denen von mir aus nichts angeboten. A.K Wer hat Sie dazu angestiftet? (R.H.M.) Mein väterlicher Freund Rudolf Hirsch, der legendäre Gerichtsreporter der Wochenpost. Der war dabei, als ich am Stammtisch der Gerichtsreporter erzählte, wie ich dauernd mit anderen jungen Mädchen verwechselt wurde und dadurch in die peinlichsten Situationen geriet. „Schreib das auf!“ sagte er, und nachdem er meine allererste Geschichte „Ich habe ein Dutzendgesicht“ gelesen hatte, wollte er, dass ich sie dem Eulenspiegel schicke. Eigentlich habe ich mich immer wie ein Preuße benommen, der Befehle ausführt. Es mussten nur Befehlsgeber sein, die ich mochte und ernst nehmen konnte. (A.K.) Sind Sie es noch? (R.H.M.) Ich werde immer preußischer. Zum Beispiel bei Lieferterminen. Mittlerweile ist für mich pünktlich, wenn ich überpünktlich liefere, ein oder zwei Tage vorher. Es wird schlimmer. Im Alter verschärfen sich eben alle Wesenszüge. Besonders die unangenehmen. (A.K.) Das mit den Gerichtsreportagen war ein Umweg? (R.H.M.) Gewissermaßen. Ich hatte im Schweinsgalopp eine zweijährige Lehrzeit in verschiedenen Ost-Berliner Redaktionen durchlaufen. Das fing bei der Vierteljahreszeitschrift „Sowjetwissenschaft“ an. Also, da war ich so was von falsch! Ich konnte ja noch nicht einmal ordentlich russisch. Dann kam ich in die Monatszeitschrift „Neue Gesellschaft“, danach in die „Friedenspost“ und von dort zur „BZ am Abend“, heute der Berliner Kurier. Aus der „BZ am Abend“ bin ich rausgeschmissen worden. (A.K.) Wie kam es dazu? (R.H.M.) Der stellvertretende Chefredakteur war hinter mir her. Aber der war mir hochgradig unsympathisch. Als er mitkriegte, dass ich einen anderen Kollegen favorisierte, hat er mich fristlos entlassen. Wegen unmoralischen Verhaltens. Eine typische Nummer aus den 1950er- Jahren: Verhältnisse am Arbeitsplatz waren unerwünscht, und das Verdikt traf immer die Frau. (A.K.) Hat Sie das aus der Bahn geworfen? (R.H.M.) Nee. Ich kannte ja genügend Leute in anderen Redaktionen, die alle sagten: Kommste eben zu uns. Sobald sie aber meine Kaderakte gelesen hatten, gab es plötzlich keine Vakanz mehr. Ich war 19 und habe keine Festanstellung mehr gekriegt. Musste also zusehen, wie ich mich freiberuflich durchschlage. (A.K.) So gerieten Sie unter die Gerichtsreporter? (R.H.M.) Genau. Rudolf Hirsch sagte: „Schreib Gerichtsberichte, das kann nämlich jeder. Aber sag’s nicht weiter.“ Später fand er, ich sei bei den Satirikern doch besser aufgehoben. (A.K.) Hat nie wieder eine Festanstellung gelockt? (R.H.M.) Im Eulenspiegel musste ich mal zwei Jahre als Humor-Redakteurin arbeiten, weil mein Freund John Stave gekündigt hatte. Erst wollte ich nicht, weil die ja schon um acht Uhr anfingen. Um die Zeit kann ich noch nicht klar denken. Also bin ich so gegen zehne, elfe eingetrudelt. Nach einem Riesenkrach mit Chefredakteur Peter Nelken kam ich dann pünktlich, hängte allerdings ein „Bitte nicht stören“-Schild an die Türklinke und packte mich erst mal für zwei Stündchen auf die Couch. Da hatte der Chef ein Einsehen und ließ mich zu Hause ausschlafen, zumal ich die gesamte Post in der S-Bahn zwischen Grünau und Friedrichstraße erledigte. Nelken sagte immer: „Ich bezahle meine Leute nicht für ihren Hintern, sondern für geleistete Arbeit.“ (A.K.) Haben Sie eigentlich jemals ihre Kaderakte zu Gesicht bekommen? (R.H.M.) Beim Eulenspiegel hatten wir eine Kader-Instrukteurin, eine ungeheuer nette, junge Frau. Wir haben immer mal in ihrem Zimmer zusammengesessen und Kaffee getrunken. Eines Tages stand der Safe offen, und ich fragte: „Was sind denn da für furchtbar geheime Dinger drin?“ – Darauf sie: „Zum Beispiel die Kaderakten. Willste mal in deine reinschauen?“(A.K.) Sie wollten natürlich? (R.H.M.) Na klar! Und ich fand die Aktennotiz von diesem stellvertretenden Chefredakteur der BZA, in der stand, meine fristlose Entlassung erfolge wegen politischer Unreife und zweifelhafter Moral. Die zweifelhafte Moral hat mich nicht um weitere Festanstellungen gebracht, nur die politische Unreife! Mit solchen denunziatorischen Eintragungen konnte man einem Menschen die Zukunft versauen. Mir ist es allerdings zum Segen ausgeschlagen. (A.K.) Ihre Klatschgeschichten, die 1986 unter dem Titel „Die tote Else – Ein wahrhaftiges Klatschbuch“ erschienen, sind eine geschickt getarnte Autobiografie. Wie kam es dazu? (R.H.M.) 1974 hatte ich eine Einladung von der Reichsbahn in West-Berlin zu einer Lesung. Ich habe mich natürlich wahnsinnig gefreut. Den Pass dafür durfte ich mir im Büro des Schriftstellerverbandes abholen. Ein paar Wochen später kriegte ich wieder eine Einladung zur West-Berliner Reichsbahn. Als ich mir erneut den Pass abholte, kam ich mit der zuständigen Kollegin ins Gespräch. Sie sagte, sie habe den schönsten Posten im ganzen Schriftstellerverband, denn zu ihr kämen nur gut gelaunte Leute. Wegen der bevorstehenden Westreisen. (A.K.) Kamen denn viele? (R.H.M.) Mehr und mehr, behauptete die Verbands-Kollegin. Dann gab sie mir den Tipp mit dem Vierteljahresvisum. Für den Antrag brauchte ich nur eine halbwegs glaubwürdige Recherche-Idee. Nach einem Blick in meine Unterlagen sagte sie: „Mensch, du bist ja in West-Berlin geboren! Für eine Autobiografie musst du an Ort und Stelle nach deinen Wurzeln suchen!“ (A.K.) Damals waren Sie noch nicht einmal 40. Bisschen früh für eine Autobiografie, oder? (R.H.M.) Das war auch mein Einwand. Den ließ sie aber nicht gelten: „Mit dem Suchen kann man gar nicht früh genug anfangen!“ So kam ich zu meinem ersten Vierteljahresvisum. Ab 1975 durfte ich dann auch jedes Jahr zur Berlinale. Klatsch galt in der DDR als besonders unappetitliche Erscheinungsform der bürgerlichen Publizistik. (A.K.) Wieso durften Sie trotzdem ein Klatschbuch schreiben? (R.H.M.) Erzählt habe ich Klatschgeschichten ja schon immer. Und irgendwann sagte Wolfgang Sellin, der damalige Chef vom Eulenspiegel-Buchverlag: „Du solltest das langsam mal aufschreiben! Damit man sagen kann: Steht auf Seite soundso, hast du schon erzählt!“ (A.K.) In diesen Geschichten geht es vordergründig immer um nationale und internationale Prominente. (A.K.) Wie viele Klatschbücher haben sich verkauft? (R.H.M.) In zwei Jahren erschienen drei Auflagen mit jeweils 20 000 Exemplaren. So schnell konnte man gar nicht gucken, wie die weg waren. Aber dann war die DDR weg und vorübergehend auch das Interesse an hausgemachten Büchern. Als es wieder erwachte, druckte der Eulenspiegel Verlag die Fortsetzung „Die tote Else lebt“, wovon es bereits die 4. Auflage gibt. (A.K.) Verkauften sich zu DDR-Zeiten alle Ihre Bücher so schnell? (R.H.M.) Ich hatte da mal ein Schockerlebnis. „Die Eule im Kino“, meine allererste Sammlung von Filmkritiken aus den Jahren 1960 bis 1980, stand drei Wochen in den Regalen der Buchhandlungen. Ich hatte das Gefühl: Nun ist alles vorbei! Eines meiner Bücher oberhalb des Ladentisches heißt: Kein Mensch will mehr etwas von mir wissen! Inzwischen gibt es „Die Eule im Kino“ Band I und Band II (1980-1990) nur noch antiquarisch, während Band III (1991-2005) im Handel ist. (A.K.) Warum durften Sie sich in der DDR mehr als andere Filmkritiker erlauben? Weil Sie bei einem Satireblatt waren? (R.H.M.) Das war nur am Anfang so. Da hat man gesagt, Satire braucht eine etwas längere Leine, sonst funktioniert sie nicht. Dann hatte dieser entsetzliche Joachim Herrmann als SED-Agitationschef den Ehrgeiz, aus Fernsehen und Defa eine Firma zu machen, die er zu leiten gedachte. Das wiederum hat SED-Kulturchef Kurt Hager nicht zugelassen, denn für ihn, den hochgebildeten Zyniker, war Joachim Herrmann ein indiskutabler Emporkömmling. Von da an war es dem Herrmann egal, wie mit der Defa in den Medien umgegangen wurde, folglich waren auch die Kritiken schärfer. (A.K.) Heutzutage gibt es Pressevorführungen, wenn neue Filme herauskommen. Wie war das damals? (R.H.M.) Da gab es die natürlich auch, und nach den Vorführungen der Defa-Filme zusätzlich Pressekonferenzen, bei denen sich die Schöpfer den Fragen und nicht seltenen Zornesausbrüchen der Kritiker stellen mussten. Da wurde wirklich mit harten Bandagen gearbeitet. Am meisten gefürchtet waren übrigens meine Kolleginnen Rosemarie Rehahn von der Wochenpost und Margit Voß vom Berliner Rundfunk. Die eine kämpfte mit dem Florett, die andere mit dem Degen, während ich die Dampframme bevorzugte. (A.K.) Stimmt es, dass ein Regisseur Ihnen mal Prügel angedroht hat? (R.H.M.) Ja, aber den Namen sage ich nicht. Schließlich lebt der Mann noch. Für welche Filmkritik? (R.H.M.) Das weiß ich nicht mehr. Aber seine Filme habe ich alle verrissen. Er konnte also zuschlagen, wann immer er wollte, er hätte immer recht gehabt. Dankenswerterweise verzichtete er darauf. (A.K.) In den 1960ern hat für anderthalb Jahre jemand anderes die Kino-Eule geschrieben. Warum? (R.H.M.) Weil ich einen Riesenknatsch mit der Redaktion hatte und ungeheuer stur war. So entkam ich der auch für Filmkritiker entsetzlichen Zeit des 11. ZK-Plenums, dem fast eine ganze Jahresproduktion der Defa zum Opfer fiel. Und ich hätte ohne diese Pause möglicherweise nie „Das Durchgangszimmer“ geschrieben. (A.K.) Wie fanden Sie den Film „Florentiner 73“, den das DDR-Fernsehen daraus gemacht hat? (R.H.M.) Ganz nett, aber Agnes Kraus war hervorragend. (A.K.) Haben Sie das auch geschrieben? (R.H.M.) Nein, das war ja ein Fernsehfilm. Aber auch über den Kinofilm „Der Mann der nach der Oma kam“ nach meiner Erzählung „Graffunda räumt auf“ habe ich nicht geschrieben. Das hat ein Kollege gemacht, nicht ganz so kritisch, wie ich es getan hätte. Trotzdem war es einer der erfolgreichsten Defa-Filme aller Zeiten. (A.K.) Ist Ihnen oft in Ihre Filmauswahl reingeredet worden? (A.K.) Von der Redaktion nie, weder damals noch heute. Im Jahre 1984 wünschte sich die ZK-Abteilung Agitation und Propaganda Lob für den misslungenen Clara-Zetkin-Film „Wo andere schweigen“ und Tadel für den sehr kritischen Gegenwartsfilm „Erscheinen Pflicht“. In beiden Fällen war ich anderer Meinung, und die durfte ich dann für mich behalten. (A.K.) Einmal haben Sie ein Bestechungsgeschenk angenommen. (R.H.M.) Eine sehr dekorative Eule für Ihre große Eulensammlung. (A.K.) Von Dean Reed, dessen Filme Sie bis dahin immer verrissen hatten. Und als Gegenleistung verlangte er eine positive Kritik für seinen nächsten Film. (R.H.M.) Weil es sich dabei um „Sing, Cowboy, sing“ handelte, konnte ich mich nicht an den Deal halten. Deshalb bat ich Freunde, die im Kulturmagazin des DDR-Fernsehens arbeiteten, mich unter irgendeinem Vorwand zu interviewen, um bei der Gelegenheit auf meine Eulensammlung zu sprechen zu kommen und die Herkunft des Prachtstücks zu erklären. Da habe ich dann eingeräumt, mich als korrupt erwiesen zu haben, aber nicht als korrumpierbar. Selbstverständlich könne Dean sein Eigentum wieder abholen – wenn er das Gesicht verlieren wolle. Dieser Halbsatz hat mir die Eule gerettet. (A.K.) Sie wohnen mit Ihrem Mann, Tausenden von Büchern und ungezählten Eulen aus allen denkbaren Materialien in einer großen Wohnung in der Leipziger Straße. Hatten Sie nie Lust, diese Hochhauswohnung gegen ein Häuschen im Grünen zu tauschen? (R.H.M.) Das lief genau umgekehrt. Wir haben in Bohnsdorf gewohnt, am südlichsten Zipfel Berlins in einem Reihenhaus der über 100 Jahre alten Arbeiterbaugenossenschaft Paradies. Wir hatten so ein Eckgrundstück, mit Garten dran und Garage drauf. Uns hat die Entfernung zur Stadt genervt. Mein Mann fuhr jeden Tag eine halbe Stunde rein und ein halbe Stunde wieder heim. Und ich musste wegen Zeitmangels dauernd Taxis nehmen. Vor dem endgültigen finanziellen Ruin haben wir lieber getauscht. (A.K.) Wann haben Sie sich zuletzt richtig über einen Film geärgert?(R.H.M.) Dauernd. Jedenfalls mehrmals wöchentlich. Zu DDR-Zeiten dachte ich oft, alle Schrecken, die ein Mensch im Kino erleben könnte, hätte ich bereits erlebt. Das war ein Irrtum. (A.K.) Über welchen Film haben Sie sich zuletzt gefreut? (R.H.M.) Über den wunderbaren „Volver“ des Spaniers Pedro Almodóvar. Und über die deutschen Produktionen „Wer früher stirbt, ist länger tot“ und „Die Könige der Nutzholzgewinnung“. Und wer immer noch nicht meine Lieblingsfilme „Alles auf Zucker“ von Dani Levy und „Sommer vorm Balkon“ von Andreas Dresen gesehen hat, der schere sich gefälligst hin. Darum möchte ich höflichst bitten. (A.K.) Was bereuen Sie im Rückblick auf Ihre Arbeit? (R.H.M.) Dass ich einen Rat von Friedrich Luft zu spät erhalten habe. Der sagte, Kritiker dürften mit den zu Kritisierenden nicht auf dem Duzfuß stehen. (A.K.) Hat Sie das schon mal in die Bredouille gebracht? (R.H.M.) Einmal. Es ging um Werner Bergmann, den langjährigen Kameramann von Konrad Wolf. Sein erster eigener, also von ihm auch geschriebener und inszenierter Film hieß „Nachtspiele“. Ich fand ihn misslungen und wollte eigentlich den Mantel des Schweigens darüber breiten. Aber dann hätten die bei der Defa mit Fug und Recht sagen können, mit der Eule muss man sich nur anfreunden, dann hält sie im Zweifelsfall die Klappe. Und deshalb habe ich geschrieben. Unter Qualen. Mit Tränenergüssen. Reichlich zwei Wochen später kam ein Brief von Werner Bergmann. Darin schrieb er, er habe die Zeit gebraucht, um mit dem Schlag in die Magengrube fertig zu werden. Nun aber wolle er sagen, was wäre Freundschaft, wenn sie Wahrheit nicht vertrüge. Das fand ich groß. (A.K.) Haben Sie verstanden, warum Ihre Rubrik im Eulenspiegel nach Jahrzehnten vom sehr markanten „Kino-Eule“ in ein nichts sagendes „Kino“ umbenannt wurde? Nein. (A.K.) Was raten Sie jungen Filmkritikern? (R.H.M.) „Immer deutlich sein. Die Anzahl der Fremdwörter auf ein vertretbares Maß reduzieren. Die Leser, unter denen es ja auch Nichtakademiker geben soll, müssen erkennen können, ob ihnen der Film empfohlen oder ob vor ihm gewarnt wird. Ein Kritiker muss von wiedererkennbarer Gesinnung sein. Früher kriegte ich manchmal Briefe, in denen stand: Wir gehen in jeden Film, den Sie verreißen, und es war noch immer ein gelungener Abend. Auch so entsteht Verlässlichkeit.“ Renate Holland Moritz. Vielleicht sollten wir uns ein paar Scheiben davon abschneiden,. meint Wessi J.
Auszug aus “Die tote Else“ Renate Holland-Moritz: “Aus ihnen wird wohl nichts werden, es sei denn, Sie gingen zum Film oder zur Presse.“ Dieser Stoßseufzer eines geplagten Studienrates, den meine geringen Kenntnisse im Fach Chemie tief erschüttert hatten, war als Beleidigung gedacht; ich aber hielt ihn für eine Art vernünftiger Berufsberatung. Also kündigte ich meiner Köpenicker Oberschule unmittelbar nach Absolvierung der 10. Klasse und begab mich auf Stellungssuche. Der Verlag Kultur und Fortschritt leistete sich Mai 1952 den Luxus, einen ahnungslosen 17 jährigen Teenager als Redaktionsvolontär einzustellen. Ich begann in einer wissenschaftlichen Vierteljahreszeitschrift und wurde mangels andrer Fähigkeiten mit der Zusammenstellung des Sachregisters für ein enzyklopädisches Werk betraut. “Das Alphabet werden Sie ja wohl beherrschen“, sagte der Chefredakteur. Damit irrte er. Zumindest war mir nicht geläufig, daß auch die jeweils nächstfolgenden Buchstaben der alphabetischen Ordnung bedurften. Als nach wenigen Wochen ruchbar wurde, daß bei mir “Arbeiterklasse“ den Vorrang vor “Akademie der Wissenschaften“ hatte, mußte ein fünfköpfiges Team von Slawistikstudenten engagiert werden, um die von mir gestiftete Konfusion zu entwirren. Einige der inzwischen gestandenen Professoren und Doktoren erinnern sich noch heute gern der so unverhofften wie beträchtlichen Nebeneinnahme.
Nach diesem Desaster übernahm mich Harald Hauser, Chefredakteur der im selben Verlag erscheinenden populärwissenschaftlichen Monatszeitschrift “Die neue Gesellschaft“. Hauser war ein guter Journalist und ein großer Mutmacher. Junge Leute, die viel lasen und respektvoll mit der Muttersprache umgingen, hatten seine Symphatie. Die allerdings verscherzte ich mir weitgehend, als ich eines Tages daranging, Gorki zu redigieren. Der Satz “Ein Mensch – wie stolz das klingt“, kam mir doch ein wenig dürftig vor, so daß ich änderte: “Ein Mensch zu sein – wie stolz das klingt!“ Danach gab mich Hauser ohne erkennbares Herzdrücken an die Wochenzeitschrift “Friedenspost“ weiter.
Hier stand ich unter der Obhut des stellvertretenden Chefredakteurs Heinz Stern, später langjähriger Chefreporter des “Neuen Deutschland“ und der mit Recht so beliebten Gazette “Das Magazin“. An die “Friedenspost“ werden sich heute höchstens noch einige ältere Mitglieder der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft erinnern, deren Zentralorgan das Blättchen darstellte. Eine gewisse dogmatische Kopflastigkeit und der für damalige Zeiten charakteristische hölzerne Stil hielten die Verkaufszahlen in Grenzen. Ich erinnere mich, daß vor allem die Zehnerkassierer der Freundschaftsgesellschaft hartnäckigen Beitragsschuldnern die Zeitschrift als eine Art Ablaßbrief aufschwatzten. Mir wurde die ehrenvolle Aufgabe zuteil, die letzte Seite redaktionell zu betreuen.Sie war zu zwei Dritteln dem Sport vorbehalten, während der sogenannte Keller dem Rätsel gehörte. Vom Sport verstand ich nun nachweisbar weniger als nichts. Das fiel zunächst gar nicht auf, denn mein ständiger Mitarbeiter Heinz Machatschek, der sich inzwischen einen Namen als populärwissenschaftlicher Autor seiner Hobbygebiete Schach, Weltraumfahrt und Heraldik gemacht hat, lieferte jede Woche druckreife Artikel zum Thema Sowjet-Sport. Aber eines unvergeßlichen Tages im Oktober 1953 kam die Wahrheit über mein sportliches Unvermögen an den Tag.
Ein großes internationales Fußballspiel war angesagt, nämlich das Freundschaftstreffen “Torpedo Moskau–ZSK Vorwärts. “Vorwärts“, die Mannschaft der Kasernierten Volkspolizei, gehörte, wie ich dem Agenturmaterial entnahm, der Liga an. “Torpedo“ hingegen stellte die drittbeste Mannschaft der Sowjetunion. Und das erschien mir nun mehr als ein Frevel. Also schrieb ich einen Brand-Artikel, in dem die Organisatoren des Spiels beschimpfte, weil sie den sowjetischen Meistern einen minderen Gegner zumuteten. Er endete mit den apodiktischen Worten: “Das Publikum erwartet mit Recht ein Spiel gleichwertiger Mannschaften, und dazu müßte man “Torpedo“ eine DDR Auswahl gegenüberstellen. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht“. Leider vermochte ich trotz aller Empörung nicht mehr als eine Druckspalte zu füllen. Deshalb besorgte ich mir die Fotos der elf sowjetischen Spieler und plazierte sie schön groß auf der Seite. Die ungenügenden “Vorwärts“ Kicker mußten sich mit einer namentlichen Aufstellung begnügen. Am 29. Oktober 1953 marschierte ich wie Zehntausende andere Berliner ins Walter-Ulbricht-Stadion. Zu meinem Entzücken sah ich, daß viele Fußballfans die “Friedenspost“ in der Hand hielten und mit weit aufgerissenen Augen meinen Beitrag lasen.
Zum erstenmal stand ich dem Phänomen gegenüber, gelesen und – wie mir schien – verstanden zu werden. Ich fieberte dem Beginn des Spiels vor allem seinem unvermeidlichem Ausgang entgegen. Plötzlich kam einer der gestandenen Sportjournalisten auf mich zu und sagte väterlich: “Also Kleene, am besten, du jehst janz schnell nach Hause. Wenns sein muß, schieß ick dir den Weg frei!“ Obwohl ich der dunklen Rede Sinn nicht verstand, gehorchte ich aufs Wort. Beim Verlassen des Stadions befragte ich immerhin noch den Zeitungsverkäufer am Kiosk, womit denn der sensationelle Verkaufserfolg der “Friedenspost“ zu erklären sei. Der Mann kicherte. “Es war wejen die Fotos von die Russen. Dafür hatten die richtijen Zeitungen wohl keenen Platz“. Zu Hause kroch ich fast ins Radio, wie später nur noch zu Zeiten der Friedensfahrt-Berichterstattung. Aber meine Niederlage war so total wie die der sowjetischen Gäste “Torpedo“ Moskau verlor gegen ZSK “Vorwärts“ mit 4:2 Toren. Ein Grund für mich, an dem viel zitierten Satz “Von der Sowjetion lernen, heißt siegen lernen“zu zweifeln. Ich weiß nicht, ob ein kausaler Zusammenhang zwischen meiner journalistischen Fehlleistung und dem Ableben der “Friedenspost“ bestand, jedenfalls wurde das Blättchen noch im November 1953 eingestellt“ .
Renate Holland-Moritz, in “Die tote Else – Ein wahrhaftiges Klatschbuch“, Eulenspiegel Verlag Berlin. 2. Auflage 1988.