(Zeichen 2.973)
Apropos Hans Bernd Gisevius (III)
PDF Apropos Hans Bernd Gisevius (III)
Auf Seite 86 seines Buches »Bis zum bittern Ende« [1946] schreibt Hans Bernd Gisevius:
„In der Tat war besagter [Adolf] Rall auf Geheiß der Gestapo nach Berlin beordert und eingehend verhört worden. Diese Vernehmungen hatten sich in [Hubert] Geißels [Kriminalrat] Zimmer abgespielt. Nach ihrer Beendigung wurde der Häftling eines Nachts aus dem Polizeipräsidium geholt. Angeblich sollte es sich um eine kurze Gegenüberstellung handeln. In Wirklichkeit mußte er sich in der Prinz-Albrecht-Straße bis aufs Hemd ausziehen.
Dann fuhren sie zu viert, den vor Kälte und Todesangst zitternden [Adolf] Rall unten ins Auto gepfercht, zur Stadt hinaus. Dort, wo die Gelegenheit günstig schien, machten sie halt, und was sich dann ereignete, wußte jener unbekannte SA-Mann, er hieß [Karl] Reineking, scheußlich plastisch zu berichten.
Sie sahen an einem Waldesrande ein freies Feld liegen, und in der Nähe erspähten sie eine Aussichtsbank. Auf diese mußte sich [Adolf] Rall setzen, worauf sie ihn gemeinsam erwürgten. Nach [Karl] Reinekings Schilderung soll es eine endlose Zeit gedauert haben, bis ihr Opfer tot war: zumindest scheinen den Mördern bei diesem üblen Geschäft die Minuten zu Stunden geworden zu sein.
Darauf ließen sie die Leiche auf der Bank lehnen und machten sich am nahen Acker daran, ein Grab zu schaufeln. Doch wer beschrieb ihren Schrecken, als sie plötzlich ein Geräusch hörten, sich umdrehten und von weitem die Leiche weglaufen sahen.
Der Anblick des im hellen Mondschein und mit dem flatternden Hemde davonspringenden Toten war selbst für die abgebrühten Totschläger der SA grauenerregend.
Noch größer war indessen die Angst der Mordbuben, alles könne entdeckt werden. Eilig rannten sie hinter der Leiche her, und jetzt würgten sie so gründlich, bis ihr wirklich das Atmen verging. Hastig wurde sie verscharrt. Man konnte es [Karl] Reineking glauben, daß ihm und seinen Kumpanen sehr unbehaglich wurde, als sie bereits am nächsten Mittag auf diesen peinlichen Zwischenfall angesprochen wurden.
Es gibt Jugendeindrücke, die man niemals vergißt. Ähnlich geht es mir mit dieser Schilderung der Ermordung des [Adolf] Rall. Wenngleich ich späterhin tausenderlei schlimmere Sachen gehört habe, so steht dieses gespenstische Bild immer wieder vor meinen Augen.
Die sausende Autofahrt, die Mondscheinnacht, der Mann im Hemd, die Würgerei, der Tote auf der Bank, die Leiche, die fortläuft — ich gebrauche diese Ausdrucksweise, weil sich [Karl] Reineking ihrer bediente ―, nicht zu vergessen dieses hastige, unzulängliche Verbuddeln, so daß das Verbrechen nach wenigen Stunden offenkundig ist: ich finde dieses trostlose Gemälde in seiner Plastik so eindringlich, daß ich es aus Chronistenpflicht festhalten muß, wenn ich über die Geschichte des Reichstagsbrandes schreibe. Aber welchen Verbrechens hatte sich besagter [Adolf] Rall schuldig gemacht, daß er zunächst tagelang in der Gestapo vernommen und daran anschließend im Nachtdunkel ermordet werden mußte? Und wer war dieser [Karl] Reineking, der so plötzlich in unserem Blickfeld erschien? Nun, jetzt war es nicht mehr schwer die weiteren Ermittlungen zu tätigen. Wir erkannten, wo wir anzusetzen hatten. [Hubert] Geißel mochte schweigen, so viel er wollte, [Karl] Reineking war ein um so größerer Schwätzer. Neuling auf gestapistischen Boden, fühlte er sich hochgeehrt, als [Arthur] Nebe sich mehrfach seiner annahm, mit ihm eine Konferenz unter vier Augen abzuhalten.“
(Seite 86-87)
Anmerkung 2023: Der Kriminalrat Hubert Geißel hat sich am 26. September 1938 umgebracht. Weil über diesen „öffentlichen“ Selbstmord wenig bekannt ist, hat Jens Dobler im Dezember 2022 einen Artikel geschrieben.
Dort schreibt er: „Am Montag, den 26. September 1938 gegen 22.15 Uhr erschießt Hubert Geißel zunächst seine Frau und dann sich selbst. Die Tat findet öffentlich, unmittelbar am Polizeipräsidium Neukölln in der Wildenbruchstraße 4 statt.“
Ein ausführlicher Bericht findet sich im „Archiv für Polizeigeschichte Nr. 47, Heft 2/2021“. Im Netz: file:///home/jens/old/Downloads/Historiker-Nr78-3.pdf, abgerufen am 7. August 2023