Der Schlund der Geschichte-Die Henschel Kinos

PDF (Zeichen 11.759) Schlund der Geschichte Henschel Kinos

In einem Schlund ist die Geschichte der jüdischen Kinobesitzer in Hamburg verschwunden.

Erst den Nachgeborenen ist aufgefallen, dass große Teile der Kinogeschichte fehlen. Und das dieses Fehlen Gründe hat. Der »Henschel Film & Theaterkonzern OHG«. Eine Geschichte, die im Dezember 1895 in Paris begann und erst mit ihrer vollständigen Aufklärung endet.

Sie haben uns angelogen, als sie behaupteten, sie hätten gekauft oder geerbt. So war es nicht. Sie haben nicht gekauft und auch nicht geerbt. Sie haben geraubt und gestohlen. Sie haben die jüdischen Kinobesitzer bestohlen. Und viele haben ihnen dabei geholfen.

Vier Fotos, die uns Rolf Arno Streit aus Belo Horizonte in Brasilien 1990 zur Verfügung gestellt hat. Hamburg.

Fotoalbum Streit Hamburg
Hauptbahnhof, Gänsemarkt, Jungfernstieg, Karl Muck Platz

[Fotos aus Hamburg von links oben nach rechts unten: Hamburger Hauptbahnhof vom Glockengiesserwall mit Straßenbahnschienen, Gänsemarkt mit Lessingtheater und Hamburger Anzeiger,  Alster in Richtung Hotel Vier Jahreszeiten mit Alsterpavillon, Karl Muck Platz in Richtung Innenstadt, rechts das Hochhaus des DHV. [Deutschnationaler Handlungsgehilfen Verband] 

In der Mitte die Kaiser Wilhelm Straße. Die heißt heute noch so. Der Karl Muck Platz wurde vor einigen Jahren umbenannt in: Johannes Brahms Platz. Das Gebäude des DHV wurde auch umbenannt in »Johannes Brahms Kontor«. Vermutlich dachte man bei der Umbenennung daran, so kriegt man endlich die braune Farbe runter, die vom DHV.

Die Geschichte der jüdischen Kinobesitzer  in Hamburg begann im Jahre 1895 in Paris und endete in Brasilien, Mexiko, USA und Australien. Überall dort, wohin die geflohen waren, denen man in Deutschland ihre Kinos geraubt hatte und die auch noch nach dem Krieg ihre Stimme erheben konnten, weil sie den deutschen Mördern entkommen waren.

Eine erste Spur fand ich auf dem Jüdischen Friedhof in Hamburg Ohlsdorf. Der Grabstein von Hermann Urich Sass.

Grabstein Hermann Urich Sass, Jüdischer Friedhof Hamburg Ohlsdorf. Foto Henning Scholz

Meine Suche begann – eher zufällig – 1970 in Berlin. Während meines Studiums an der Deutschen Film- und Fernsehakademie (dffb): Ich interessierte mich auch für die Geschichte der Kinos. Hier gab es die Tageszeitungen des deutschen Films: die »Licht Bild Bühne« (LBB) und den »Kinematograph«. In Hamburg waren diese Zeitungen zu der Zeit nicht vorhanden, bzw. nicht zugänglich.

Wer einmal längere Zeit vor einem solchen Mikrofilm Lesegerät gesessen hat, kennt die Langweiligkeit dieser Arbeit. Diese vielen Nachrichten, die man alle nicht braucht. Ich hatte natürlich Vermutungen. Aber eigentlich wußte ich nicht, was ich suchte. Die Licht Bild Bühne erschien täglich, sechs mal in der Woche. Sie  hatte viele Seiten. Gezählt habe ich nicht. Aber dann half mir der Zufall. Der Zufall hieß Paul von Hindenburg.

Jener Mann, der Adolf Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt hatte. Sehr schlecht für die deutsche Geschichte. Aber gut für mich. Ohne diesen Zufall hätte ich die Meldung vom Tode des Kinounternehmers Hermann  Urich Sass niemals gefunden. Sie steht in der selben Ausgabe, in der auch von der Machtübertragung an Adolf Hitler berichtet wird.  Ein paar Jahre später bekomme ich darüber Kenntnis, das beide Meldungen in einem Zusammenhang stehen.

Am Sonnabend, den 28. Januar 1933 erscheint eine 13 Zeilen Meldung, die mit folgenden Worten endet: . . . dass “ . . . Herr Urich Sass, eine leitende Persönlichkeit im Henschel Konzern in Hamburg, am 27. Januar im Alter von 45 Jahren, einem Herzversagen erlegen“ sei.

Wäre er an einem anderen Datum verstorben, hätte ich die Suche nach dem Henschel Film- und Theaterkonzern vermutlich abgebrochen. Die Beerdigung soll am Montag, d. 30. Januar 1933 auf dem Jüdischen Friedhof in Hamburg Ohlsdorf um 3 Uhr stattfinden, so wird es angekündigt.

Die Geschichte der Kinobesitzerfamilie Henschel begann mit Frida und James Henschel und ihrer Reise nach Paris.

Ursprünglich war Jeremias Henschel in die Fußstapfen seines Vaters getreten und hatte sich im Verkauf von Stoffen und Herrengarderobe versucht. Erfolglos. Heute nennt man es modern Insolvenz.

Mit dem selbstgewählten Vornamen James begann eine neue Episode im Leben der Familie Henschel. Eigentlich sollte es ein Laden mit Schallplatten werden. Aber dann entdeckte Frida in Paris eine lange Schlange. Dort wurden zum ersten Mal diese beweglichen Bilder gezeigt, die sie damals »Lebende Photographien« nannten. Frida erkannte als erste die ungeheuren Möglichkeiten, die ein solches Geschäft in Hamburg haben würde.

Europäischer Hof Baden Baden v. l.: Sophie Streit, Frida Henschel, James Henschel, Hugo Streit. Fotograf unbekannt.

[Das Foto entstand am 18. Oktober 1930 vor dem Hotel Europäischer Hof in Baden-Baden in Deutschland. (v. l. n. r.  Frida (Frederica) Henschel (geb. Blumenthal), James Henschel und ihre Tochter Bianca Henschel (Bianca Kahn, die am 5. Mai 1931 den portugiesischen Konsul Dr. Isidor Kahn in Den Haag heiratete und nach Holland auswanderte].

Das Foto stammt von Rolf Arno Streit (Enkel von Frida und James Henschel) aus Belo Horizonte, (Brasilien).

Wann Frida und James Henschel nach Paris gefahren waren, das konnten die Enkelkinder  (in Mexiko und Brasilien) von James Henschel nur vermuten. Es könnte am 28. Dezember 1895 gewesen sein, als die Brüder Lumiere im Grand Cafe im Boulevard des Capucines zum ersten Mal ihren Projektor vorgestellt haben.

Verbürgt ist der Besuch der Brüder Skladanowsky in Paris am 28. Dezember 1895. Ein paar Tage vorher (Im November 1895 waren sie mit ihrem Projektor in Hamburg gewesen). Sie hatten eine Einladung nach Paris, ihren Projektor im Folies Bergère vorzustellen und haben dafür ein Honorar verlangt und bekommen. (Die Angaben schwanken zwischen 2.500,00 und 4.500,00 französischen Franc). Aber zu einer Vorstellung ihres Projektors in Paris ist es nicht mehr gekommen. Frida und James Henschel haben damals erkannt, welches Potential in dieser neuen Technik der Lebenden Photographien steckt.

Sie eröffneten im Dezember 1905 in der Bergstrasse (große) Nr. 11 in Altona ihr erstes Kino: Das Helios Theater mit 500 Sitzplätzen. Einen Monat später im Januar 1906  begann der Mietvertrag des »Belle-Alliance-Theater Vorführung lebender Photographien« an der Ecke Eimsbütteler Str. 2 / Schulterblatt 115. Das Kino wurde in den ehemaligen Ballsaal des Belle Alliance eingebaut, hatte 1.400 Sitzplätze und spielte von 15.00 Uhr Nachmittags  bis 1.00 Uhr in der Nacht.

Die Eröffnung des Kinos war am 1. Mai 1906. (Aus: James Henschel erzählt Hamburgs Kino Geschichte. Artikel  von Hermann Lobbes in der Licht Bild Bühne, Beilage vom Sonnabend, d. 16. August 1930).

Theater lebender Photographien
Belle Alliance 1906

Vor dem Kino war eine Haltestelle der elektrischen Straßenbahn. Der Licht Bild Bühne berichtete James Henschel im August 1930, dass der Tag mit den geringsten Einnahmen (56,00 RM) der Tag war, an dem die Zuschauer des Kinos sich lieber den Brand der Michaelis Kirche angesehen hatten, als ins Kino zu gehen. Das war Dienstag, der 3. Juli 1906.

Frida und Jeremias hatten fünf Kinder: Hedwig, Sophie, Bianca, Hanns und Gretel, die zwischen 1888 – 1895 geboren werden. Hanns meldete sich als Freiwilliger und „fiel“ am 31. Oktober 1916 als Unteroffizier an der Front in Frankreich (?). Jürgen Sielemann, Experte in Sachen jüdischer Geschichte, gibt einen anderen Ort an.

Zitat: „Ihr Bruder  (Bianca Henschel) Hans Henschel (geb. 21. September 1893) fiel am 31. Oktober als Unteroffizier in einem Gefecht in Siebenbürgen.“

(Aus Liskor-Erinnern Heft 14, Seite 26).

Als Quelle nennt Jürgen Sielemann: 332-8 Meldewesen, A 30 Toten- und Verzogenenkartei 1892-1925, Mikrofilm K 6238, Karte Hans Henschel.

Da war Hanns Henschel 23 Jahre alt. Wie ich mir die Fotos angesehen habe, habe ich gedacht, zwischen die Bilder gehört noch unbedingt ein Text. Und da man bei Tucholsky inzwischen klauen darf, habe ich dies getan.

Auf Seite 1159 im Band 1 – (1907 – 1924 meiner dreibändigen Gesamtausgabe) gibt es zwei Texte »Wie uns aus« und »Sechzig Fotografien«. In dem zweiten Text geht es um sechzig Fotografien, über den Weltkrieg (1) die man in Paris kaufen kann.

Der Text ist von 1924. Da wurde der Weltkrieg noch nicht nummeriert. Am Ende schreibt Tucholsky: (Seite 1162 Band 1)

Du schießt drüben immer den Kamerad Werkmeister tot – niemals den einzigen Feind, den du wirklich hast. Dein Blut verströmt für Dividende. Dein bißchen Sterben, dein armseliges Verrecken wird mühsam mit einer Gloriole von Romantik umkleidet, erborgt aus den Emblemen von Jahrhunderten, entliehen aus verschollenen Zeiten. Wirf deine Flinte weg, Mensch! Es wird immer Kriege geben? Solange du willst, wird es sie geben. Nagle dir diese Bilder an die Wand, zeig deinen Kindern, was das für eine Schweinerei ist: der Krieg; was das für eine Lüge ist: der Krieg; was das für ein Wahnsinn ist: der Krieg! Und dann setze dich mit deinen Arbeitsgenossen auf der anderen Seite hin, vertraue ihnen, denn es sind dieselben armen Luder wie du – und gib ihnen die Hand. Nieder mit dem Staat! Es lebe die Heimat!“

Hanns Henschel Grabstein

Grabstein auf dem Friedhof für die “Gefallenen“ des ersten Weltkrieges in Hamburg Ohlsdorf. Die Inschrift im Grabstein ist schwer lesbar. Unteroffz. (Unteroffizier) HANNS HENSCHEL, GEB. 21. September 1893, 5654 (Geboren), GEF. 31. Oktober 1916 5677 (Gefallen/Gestorben), INHABER (Inhaber) DES EIS. KREUZES (des Eisernen Kreuzes) UND DES (und des) HANSEAT. KREUZES (Hanseatischen Kreuzes).

Hanns Henschel wurde nur 23 Jahre alt. Bei Kriegsende (am 11. 11. 1918) war James Henschel 55 Jahre alt und die neu gegründete UFA (Gründung am 18. Dezember 1917) trat an ihn heran und unterbreitete ihm ein Kaufangebot für seine acht Kinos.

Eine Reihe von Kinos hatte das Ehepaar Henschel auf eigenen Grundstücken neu bauen lassen. So das Waterloo Theater in der Dammtorstrasse 14, das Lessingtheater am Gänsemarkt 46/48, das Palast Theater in der Wandsbeker Chaussee (bei späteren Recherchen stelle ich fest, dass die Ortsangabe falsch ist – das Palast Theater war nicht in der Wandsbeker Chaussee sondern in der Hamburger Strasse 5/7/9), die Harvestehuder Lichtspiele am Eppendorfer Baum 15.

James Henschel setzte die Bedingungen für den Verkauf an die UFA. Am 21. Februar 1918 wandelte er seine Kino Firma »J. Henschel« in die »J. Henschel GmbH« um. Der Vertrag sah vor, das seine beiden Schwiegersöhne Hermann Urich Sass (verheiratet mit Hedwig Urich Sass, geb. Henschel) und Hugo Streit (verheiratet mit Sophie Streit geb. Henschel) Geschäftsführer der »J. Henschel GmbH« wurden. Der Vertrag sah weiterhin vor, das alle Angestellten von der neu gegründeten Firma »J. Henschel GmbH« übernommen wurden. Weiterhin enthielt der Vertrag einen Passus, daß Hermann Urich Sass und Hugo Streit zu Direktoren der UFA für Norddeutschland ernannt wurden. 

Ein »Organ Vertrag« wurde am 29. November 1919 zwischen James Henschel und der UFA geschlossen. Danach wurde die »J. Henschel GmbH« eine 100 %ige Tochtergesellschaft der UFA. Die »J. Henschel GmbH« blieb weiterhin Eigentümer der Grundstücke, auf denen die Kinos: »Palasttheater« (Hamburger Straße 5/7/9), »Lessingtheater« (Gänsemarkt 43), »Harvestehuder Lichtspiele« (Eppendorfer Baum 35), »Zentral Theater« (Wandsbeker Chaussee 162) standen, die an die UFA verpachtet wurden.

Das »Waterloo Theater« in der Dammtorstrasse 14 verkaufte James Henschel an Manfred Hirschel, der mit einer Schwester seines Schwiegersohnes Hugo Streit verheiratet war.

Manfred Hirschel mit seiner Tochter Eva Hirschel in der Bebelallee in Hamburg.

James Henschel erhielt aus diesem Vertrag einen Barerlös, der ausreichte, vierzehn Wohnhäuser mit über 100 Wohnungen zu kaufen.

Weiterhin sah der Vertrag eine Beteiligung auf 25 Jahre vor, in denen er mit 5 % an den Bruttoeinnahmen der verkauften Kinos und mit weiteren 2,5 % an den später erworbenen oder neu erbauten Kinos der UFA beteiligt ist.

1921 + 1926 verließen Hermann Urich Sass und Hugo Streit die UFA und gründeten die offene Handelsgesellschaft, den »Henschel Film- und Theaterkonzern«.

Acht Kinos wurden neu gebaut. Im Februar 1927 wurde an der Ecke Zirkusweg Reeperbahn 1 ein Neubau mit einem Kino mit 1556 Sitzplätzen eröffnet.

Der erste deutsche Tonfilm »Ich küsse ihre Hand Madam« mit Marlene Dietrich und Harry Liedtke wurde hier am 23. Januar 1929 gezeigt.

Architekt war Carl Winand. Die Baukosten betrugen etwa 500.000,00 RM. Hugo Streit und Hermann Urich Sass nannten das Kino »Schauburg am Millerntor«.

Hugo und Sophie Streit mit der Schauburg Zeitung

Die Tonpassage im Film war nur zwei Minuten und 12 Sekunden lang. Hugo Streit, Sophie Streit (geb. Henschel) mit der Schauburg Zeitung. Die Schlagzeile:  Prominente sehen dich an: Lil Dagover, Emil Jannings

In der »Schauburg Millerntor» war am 21. Oktober 1929 Sergej Eisenstein mit »zwei Akten« aus dem Film »Panzerkreuzer Potemkin«, dem »ersten Akt« aus dem Film »Generallinie« und »zwei Akten« aus dem Film »Zehn Tage, die die Welt erschütterten« zu Gast.

Der dunkle Teil der Geschichte, der von Selbstmord, Mord, Enteignung, Vertreibung und Zerstörung  handelt. Und der Verdrängung all dieser Verbrechen. Der vom Reinwaschen und der angeblichen »Wiedergutmachung« handelt. Und wie bereitwillig alle bei den Ausplünderungen geholfen hatten. Die Geschichte der Täter, Opfer und der Zuschauer. Glaubwürdige Zeitzeugen waren in Hamburg, in Deutschland, nicht zu finden. In Brasilien, Mexiko und in Los Angeles wurde ich gefragt, warum das alles so lange gedauert hatte, bis endlich jemand kam und diese Fragen stellte. Mir fehlte damals eine Antwort.

Die Täter waren schon lange tot. Inzwischen waren auch die Erben der Täter gestorben. Und dennoch gibt es immer wieder Menschen, die das Unrecht von damals verstecken wollen. Es fällt ihnen nicht einmal auf. Im Gegenteil. Das vorhandene Material ist inzwischen auf zwölf Leitz Ordner, fünfzig CDs mit kopierten Akten und einem kurzen Film von der Eröffnung der Schauburg am Millerntor, Ecke Zirkusweg, angewachsen.

Dazu gehört ein kleiner Film mit den Interviews der Söhne, (Horst Urich Sass, Rolf Arno Streit, Carl Heinz Streit) die damals aus Deutschland fliehen konnten. Aus Belo Horizonte kommt dieses Bild vom »Palast Theater« von Frida und James Henschel in der Hamburger Strasse.

Palast Theater Hamburger Straße 5/7/9

Wann dieses Foto entstanden ist, konnten mir die Enkelkinder von James Henschel (Die Brüder Rolf Arno Streit und Carl Heinz Streit) nicht mitteilen. Vermutlich ist das Foto nach der Eröffnung des Neubaus entstanden.

(Text: Jens Meyer, bearbeitet Mai 2024)

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Foto Grabstein Hanns Henschel Jens Meyer. Foto Palast Theater Rolf Arno Streit.

Als die Kinos noch Paläste waren

Leider hat die Taz von diesem Artikel von Otto Meyer, der am Sonnabend, d. 10. Februar 1990 in der Taz Hamburg erschienen ist, nur die Überschrift auf ihre Seite gestellt. Der Text fehlt. Diesem Uebelstand wollte ich schon lange mal abhelfen und habe dies nun getan und zwar ohne jemanden zu fragen, worauf ich aber gar nicht stolz bin: (Seite 28 Kulturmagazin taz Hamburg Samstag, 10. Februar 1990)

Als die Kinos noch Paläste waren

Am Freitag, den 27. Januar 1933 stirbt im Alter von 45 Jahren an Herzversagen ein Mann, der in Hamburg Kinogeschichte schrieb: Hermann Urich-Sass. Die Stadt hat ihn heute beinahe vergessen. In der Tageszeitung Licht Bild Bühne fand sich damals ein kurzer Nachruf, der mit den Worten endet: „Ein vergängliches Menschenleben ist nicht mehr – aber sein Werk lebt!“

PDF Abschrift Als die Kinos noch Paläste waren

Der Autor irrte. Dafür sorgten die neue Zeit und die neuen Herren, die am Tage der Beerdigung des Toten die Macht übernahmen. Aber noch darf die „Illustrierte Tageszeitung des Films“, wie sich das in Berlin erscheinende Blatt selbst nennt, in der Montagsausgabe vom 30. Januar 1933 über den Mann berichten, der in nur sieben Jahren Norddeutschlands größten Kinokonzern aufgebaut hatte. Mit einem Jahresumsatz von 6 Millionen Reichsmark gehörte die offene Handelsgesellschaft des Hermann Urich-Sass und seines Teilhabers Hugo Streit zu den größten Steuerzahlern der Stadt Hamburg.

„Henschel Film- und Theaterkonzern“ nannte sich das Unternehmen – ein Name mit Tradition. Denn Hermann Urich-Sass und Hugo Streit hatten sich eingeheiratet in eine Familie von Kinobesitzern. Schwiegervater James Henschel gehörte zu den Kinopionieren in Hambrug.

Seit 1908 (1906) betrieb er im Belle-Alliance-Theater (Schulterblatt 115) die „Vorführungen lebender Photographien“. Der 1.100 Quadratmeter große Saal war mit seinen 1.200 Sitzplätzen zeitweise das größte Kino beider Städte Hamburg und Altona. Ebenfalls zur Henschel-Familie gehörte das Lessing-Theater am Gänsemarkt – am selben Ort steht heute der Ufa-Schachtelpalast. Auch das Passage Theater und das –Waterloo-Theater in der Dammtorstraße 14 wurden von James Henschel betrieben.

Die neuen Familienmitglieder hatten das Gewerbe bei der Ufa gelernt. Urich-Sass und Streit waren dort bis 1926 als Direktoren in Norddeutschland angestellt, noch unter Hugenbergs Leitung. Ihr erstes eigenes Kino war die Schauburg am Hauptbahnhof (nach dem Krieg: „Die Barke“).

Der Raum war noch gemietet, doch schon kurz darauf begann der Henschel-Konzern Kinos neu zu bauen, die alle bisherigen Dimensionen weit hinter sich lassen. Im Februar 1927 wird an der Ecke Circusweg/Reeperbahn ein Haus mit 1.556 Sitzplätzen eröffnet. Architekt Carl Winand, Baukosten: etwa 500.000 Reichsmark, Bauzeit 4 Monate. „Ein geräumiger Vorraum führt zur Empfangshalle. Von hier aus ist der Zuschauerraum zu betreten. Breit angelegte Treppen führen zum Ranggeschoß. Notausgänge in genügender Anzahl nach dem Circusweg. Zu beiden Seiten der Bühnenwand ist eine Oskalyd Orgel mit Fernwerk von der Firma Furtwängler und Hammer aus Hannover eingebaut. Die Bühnenwand zeigt vor der Bildfläche einen Raum für Vorspiele“ – so ist in der Festschrift nachzulesen, die 1937 „unseren Besuchern“ überreicht wird.

Ein Jahr später folgen weitere Neubauten: die Schauburg Hammerbrook mit 1.100 Sitzplätzen, die Schauburg Wandsbek mit 1.100 Sitzplätzen, die Schauburg Nord mit 975 Sitzplätzen und die Schauburg Hamm mit 1.520 Sitzplätzen .

Neben den neuen Häusern, die Eigentum des Henschel Konzerns sind, werden weitere Kinos (City-Theater, Burg Theater, Helios Theater in Altona) angemietet und unter dem Markennamen „Schauburg“ weitergeführt. 1933 ist der Henschel-Kozern vor der UFA und der Hirschel-Gruppe mit 12 Filmtheatern, 10.731 Sitzplätzen Hamburgs größter Kinobesitzer.

Nie wieder wird es in der Geschichte der Hansestadt die etwa 50.000 Sitzplätze geben, die Hamburgs Kinos im Jahre 1933 anbieten.

Zum Vergleich: Heute (1990) verfügt die Zwei-Millionen-Stadt nur noch über knapp 20.000 Kino Plätze.

In den Henschel Schauburgen laufen nicht nur die neuen Chaplin-Filme, auch der Hochbaum-Film Brüder , der den Streik der Hafenarbeiter 1897 zeigt, wird hier uraufgeführt; von der Zensur zugelassene Filme aus der Sowjetunion („Russenfilme“) sind ebenfalls zu sehen. Der Regisseur Eisenstein hält am 21. Oktober 1929 in der überfüllten Schauburg am Millerntor einen Vortrag und zeigt zwei Akte aus Panzerkreuzer Potemkin und zwei Akte aus Zehn Tage, die Welt erschütterten .

Aber nicht nur im Programm, auch in der technischen Entwicklung sind die Schauburgen Vorbild. Am 23. Januar 1929 „nachmittags präzis 13 Uhr“ wird am Millerntor zum ersten Mal in Hamburg ein Tonfilm gezeigt: Ich küsse ihre Hand Madam mit Marlene Dietrich und Harry Liedke. Die Tonpassage des Films dauerte allerdings nur zwei Minuten und zwölf Sekunden.

Die Licht-Bild-Bühne lobt nicht nur den Kino-Unternehmer, sondern auch den Menschen Urich-Sass: „Seinem bescheidenen Charakter lag es nicht hervorzutreten und nach außen hin eine Rolle zu spielen. Um so mehr trat sein Können in den Auswirkungen seiner Arbeit in Erscheinung. Streng in der Pflichterfüllung gegen andere und vor allem gegen sich selbst. Der korrekte Hamburger Kaufmann. Voll Ausdauer und Ehrgeiz und voller Vitalität, der er die Verwirklichung seiner Pläne verdankte. Ein Charakter voll Zuverlässigkeit. Ein Mann von untadeliger Gesinnung. Einer, dem Hochschätzung und Sympathien bis über das Grab hinaus bei allen sicher ist, die ihm wie wir in langen Jahren näher treten durften.“

Nach seinem Tode gründen die Erben zusammen mit Hugo Streit die Henschel KG , die die Schauburgen weiterführt. Doch eine weitere Gesellschaft wird 1933 gegründet: die Schauburg Lichtspielbetriebsgesellschaft mit beschränkter Haftung. Sie haftet nur mit 20.000 Reichsmark, ihr Geschäftszweck ist die Pacht von Lichtspieltheatern. 1934 übernimmt diese Gesellschaft elf von zwölf Schauburgen.

In der Reichsprogromnacht werden die ehemaligen Henschel-Kinos von den Nazis demoliert, Joseph Goebbels hatte inzwischen als selbsternannter „Schirmherr des Deutschen Films“ festgelegt, was ein deutscher Film sei:

Deutsche Filme sollen künftig nur von Deutschen hergestellt werden. Deutsch aber ist, wer deutscher Abstammung, deutschen oder artverwandten Blutes ist. Seitdem können allein Filme als deutsche Filme anerkannt werden, die von einer deutschen Gesellschaft in deutschen Ateliers mit deutscher Idee, deutschem Autor, deutschen Komponisten und deutschen Filmschaffenden hergestellt sind. Durch jene Begriffsbestimmung des deutschen Films wird es möglich, in verhältnismäßig kurzer Zeit die jüdischen Einflüsse in der der Produktion, dem Verleihgeschäft wie dem Filmtheaterwesen auszumerzen.“

In diesem Sinne war die Henschel KG nicht mehr deutsch. Ein Nazi-Kinobesitzer aus Kiel treibt die Arisierung voran. (2022 wissen wir, wie der Nazi hiess: Richard Adam)

Auch das Waterloo-Theater entgeht ihr nicht: Dem Kino direkt gegenüber liegt ein Büro der geheimen Staatspolizei.

Hugo Streit und der Sohn von Urich-Sass verlassen das Deutschland der Nazis. Doch die neuen Besitzer haben nicht lange Freude an dem Geschenk des Führers: Nur ein einziges der Kinos hat den Krieg überstanden. Alle anderen fielen den Bomben zum Opfer. Aber auch die heutigen (1990) Hamburger Kinokaufleute denken nicht mehr gerne an diese Zeit zurück. An Hermann Urich-Sass erinnert nur noch ein Gedenkstein auf dem jüdischen Friedhof in Ohlsdorf – gewidmet, so die Inschrift „dem Pionier des Kinos, gestorben am 27. Januar 1933 – im Jahr 5693 der jüdischen Zeitrechnung.“ Otto Meyer

Hermann Urich Sass, geb. am 18. Juni 1887- gest. am 27. Januar 1933. Im Artikel wird das Alter mit 48 Jahren angegeben, das habe ich mal stillschweigend geändert, damit die Verwirrung nachläßt

Quellen: Licht Bild Bühne, Illustrierte Tageszeitung des Films, Berlin. Hamburg und seine Bauten, Hamburg 1929 Festschrift des Henschel Film- und Theaterkonzerns zur Eröffnung der Schauburg am Millerntore, Februar 1927 Hans Traub: Die Ufa, Berlin 1943 Bericht von Horst Urich-Sass (Sohn von Hermann Urich-Sass, Mexiko 1989 Bericht der Brüder Streit (Söhne von Hugo Streit), Brasilien 1989.

Belle Alliance Schulterblatt 115 vor dem 5. März 1894

Das Foto vom Haus Belle Alliance, Schulterblatt 115, stammt von der Landesbildstelle Hamburg (Belle-Alliance mit Pferdebahn). Daher kommt die Annahme, daß dieses Foto vor dem 5. März 1894 entstanden sein muß. An diesem Tag wurde die Pferdebahn von einer elektrischen Straßenbahn abgelöst. Mit anderen Worten: In dem Haus Belle Alliance war zu jener Zeit noch gar kein Kino.

PDF Als die Kinos noch Paläste Seite 1

Das Foto von der Aussenfassade des Barke Filmtheater mit der Filmankündigung von Theo gegen den Rest der Welt stammt von Roland Scheikowski. Es ist nach dem Start des Filmes am Freitag, den 26. September1980 entstanden. Erst am 8. August 1985 wurden die Filmstarts, die bis dahin immer Freitags stattfanden, auf den Donnerstag vorverlegt.

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