Stolpersteine
PDF Stopersteine auf der Reeperbahn
Hier werden heute (24.10.2017) zwei Stolpersteine für den jüdischen Kinounternehmer Hermann Urich Sass verlegt.
Hermann Urich Sass hat sich am 27. Januar 1933 das Leben genommen. Er wurde am 30. Januar 1933 auf dem jüdischen Friedhof in Hamburg-Ohlsdorf beerdigt. Der Selbstmord wurde lange Zeit geheim gehalten.
Während meiner Studienzeit von 1970 bis 1974 an der dffb hielt ich mich auch oft in der Bibliothek der Film- und Fernsehakademie auf. Dort gab es die Reichskinoadressbücher, (erschienen im Verlag von Karl Wolffsohn, der LBB LichBildBühne Berlin) sauber geordnet nach Jahren, Städten und Verleihbezirken. Im Bezirk Hamburg/Norddeutschland fiel mir ein Unternehmen auf, das sich „Henschel Film- und Theaterkonzern“ nannte und im Laufe der Jahre 1934 bis 1938 erst den Besitzer und dann auch noch den Namen wechselte. Weitergehende Literatur über den „Henschel Film- & Theaterkonzern“ fand ich nicht. Verwundert war ich über die Bautätigkeit dieses Konzerns und die Größe der Kinos. Sie waren im Krieg alle zerstört worden. Dann hab ich die Sache vergessen.
Erst 1987 habe ich den Faden wieder aufgenommen. Es muss doch herauszubekommen sein, warum so viele Kinos zwischen 1933 und 1938 den Besitzer gewechselt haben, dachte ich, und machte mich über die Mikrofilme her, von denen ich wusste, dass sie in der Bibliothek der dffb (Deutsche Film und Fernsehakademie Berlin) zu finden waren. Es sollten Recherchen für einen Dokumentarfilm werden. Vielleicht verbarg sich hinter dem Verschwinden eine spannende Geschichte, die bisher niemand beachtet hatte.
Ich weiß nicht, ob jemand schon mal längere Zeit vor einem Mikrofilm-Lesegerät verbracht hat. Es ist langweilig, mühselig und in der Sache ermüdend. Besonders dann, wenn man eigentlich nicht weiß, was man sucht. So ging es mir auch, und ich wollte die Sache schon aufgeben. Aus der systematischen Suche von Januar bis Dezember wechselte ich in den Modus der unsystematischen Suche nach bestimmten Tagen in bestimmten Jahren. Also machte ich mich auf die Suche nach den Tagen, die man uns im Geschichtsunterricht als wichtig beigebracht hatte: die Ermordung des Thronfolgers, Kriegserklärung, erster Weltkrieg, Kapitulation, Flucht des Kaisers nach Belgien, Aufstand der Matrosen, schwarzer Freitag, Inflation, Hamburger Aufstand und der Tag der „Machtergreifung“, wie ich diesen Tag damals ebenfalls nannte. (Der Hamburger Aufstand wurde im Unterricht meist vergessen).
In der Lichtbild-Bühne (LBB) fand ich dann die Meldung:
„Am 27. Januar 1933 verstarb in Hamburg der Kinounternehmer Hermann Urich Sass und wurde auf dem jüdischen Friedhof in Hamburg Ohlsdorf am 30. Januar 1933 um 15.00 Uhr beerdigt.“
Das Grab in Ohlsdorf war mits Hilfe des Friedhofswärters schnell gefunden. Anders als andere Religionen, die nur 25 Jahre ihre Steine stehen lassen, sollen die Gräber der Juden dort bis zum jüngsten Tag stehen. Der Friedhofswärter bemerkte die goldene Schrift auf dem Stein und kommentierte trocken: „Da hat er ja die ganze Scheiße nicht mehr miterleben müssen.“ Dem konnte ich zustimmen und war noch neugieriger als vorher. Ich dachte bei mir: Ein klug gewähltes Todesdatum. Ohne dieses Datum hätte ich weder das Eine noch das Andere erfahren. Der Grabstein war gut erhalten, und es sah so aus, als wenn jemand für diese Grabpflege bezahlen würde. Eine erste Spur auf der Suche nach glaubwürdigen Zeugen.
Auf 15 Schreibmaschinenseiten notierte ich meine Recherchen und meine Vermutungen über den „Henschel Film- & Theaterkonzern“ und gab dieses Manuskript bei der Friedhofsverwaltung des Jüdischen Friedhofes Ohlsdorf ab mit der Bitte, dieses Manuskript an diejenigen weiterzureichen, die für die Grabpflege bezahlten. Und habe gewartet. Nach sechs Wochen erhielt ich tatsächlich Antwort. Aus Belo Horizonte in Brasilien. Aus Beverly Hills in den USA. Aus Mexico City. In den Briefen schrieben der Sohn von Hermann Urich Sass – Horst Urich Sass – und die Söhne von Hugo Streit – Rolf Arno Streit und Carl Heinz Streit.
Der Henschel Film- & Theaterkonzern war eine Firma, die ihren Vätern Hermann Urich Sass und Hugo Streit gehört hatte. Auch ihre Großeltern waren schon Kinobesitzer gewesen. James Henschel und seine Frau Frida haben das Gewerbe angefangen.
In der Zwischenzeit war es mir gelungen, das Filmbüro Hamburg e. V. auf meine Entdeckung aufmerksam zu machen. Für ein Filmprojekt stellten sie 80.000 DM zur Verfügung. Eingetroffen in Belo Horizonte und Beverly Hills war die erste Frage der Emigranten: „Warum dauert das so lange, dass mal einer aus Deutschland kommt und fragt, wo die Kinobesitzer von damals geblieben sind?“ Ich hatte keine Antwort. Selbst kannte ich nur unglaubwürdige Zeugen zu Hauf aus Deutschland.
Der Ordnung halber habe ich bestimmte Schubladen in meinem Kopf für ihre Abfälle bereitgestellt. Einen hatten wir mal vor dem Mikrofon, vor das er gar nicht wollte. Doch während wir sein Fotoalbum filmten, das er geschenkt bekommen hatte mit der Widmung „Zur Erinnerung an die guten alten Zeiten“, hatten wir doch glatt vergessen, das eingebaute Mikrofon an der Kamera abzustellen. So konnten wir seinen Lügen von damals auch noch Jahrzehnte später lauschen.
Die Darstellung der Geschichte der deutschen Kinobesitzer, die erst 1933 zu solchen wurden, ist fast immer gleich. Da wird davon geschwafelt, der Vater, der Großvater habe das Kino einem Menschen abgekauft und habe es dann seinem Sohn oder seiner Tochter vererbt. Diese Geschichte wird immer wiederholt und ist ebenso falsch wie verlogen.
Einer hatte während der Nazizeit auch andere, amerikanische Filme gezeigt. Nach dem Krieg war er der einzige Kinobesitzer in Hamburg, der nicht Mitglied der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen gewesen war. Lange nach seinem Tod fand ich dann heraus: Auch er hatte “sein Kino” einem Juden weggenommen. Dieser hatte überlebt und forderte nach dem Krieg sein Eigentum zurück. Aber die deutsche Justiz war nicht auf Seiten der beraubten Juden. Ein “Obernazi”, der in Hamburg maßgeblich die Enteignung der jüdischen Kinobesitzer vorangetrieben hatte, trat gar als Zeuge der “Beklagten” auf und wurde nicht direkt im Gerichtssaal verhaftet, was eigentlich hätte passieren müssen. Am Ende haben sie Manfred Hirschel ein Almosen für sein Waterloo-Kino gegeben. Sie haben es „Vergleich“ genannt.
Billy Wilder hat 1941 den Film „Der Major und das Mädchen“ gemacht. Er kam am 16. September 1942 in die amerikanischen Kinos. Bei uns kam er nicht in die Kinos. Man konnte ihn zum ersten Mal am 7. Januar 1972 im deutschen Fernsehen bewundern. Der Film spielt im New York von 1942. In dem Vorspanntitel ist zu lesen: “Im Jahr 1626 kauften die Holländer den Indianern New York ab. Im Mai 1941 war kein Indianer mehr da, der dies bedauern konnte.“ In der amerikanischen Originalfassung des Filmes lautet der Text so: „The Dutch bought New York from the Indians in 1626, and by May 1941 there wasn’t an Indian left who regretted it“.
Dieser Satz passt auch auf die Situation in Deutschland im Jahre 1945.
Als Billy Wilder als Offizier der amerikanischen Armee nach Deutschland zurückkehrte, war seine erste Tätigkeit, einen Dokumentarfilm aus den Aufnahmen zu machen, die amerikanische Kameramänner in den deutschen Konzentrationslagern gemacht hatten. Den Film „Todesmühlen“ wollte keiner sehen. Nicht zu vergleichen mit den Zuschauerzahlen, die Veit Harlans Film „Jud Süß“ ein paar Jahre zuvor erzielt hatte. Ein Bestseller, obwohl es dieses Wort damals noch nicht gab.
Befragt, ob man in Oberammergau 1947 die Passionsspiele aufführen dürfe, äußerte sich Billy Wilder so:
“Wir hatten nur ein bißchen recherchiert. Da war eins ganz klar geworden: Das Ensemble, ob Römer, ob Juden oder Jünger hatte natürlich so gut wie ausschließlich aus Nazis bestanden. Und am schlimmsten war derjenige, der den Jesus spielen sollte: Anton Lang war in der Waffen-SS gewesen. Durfte er den Jesus spielen? Ich habe meinem Kollegen damals die folgende Antwort diktiert: Sie dürfen spielen, aber nur unter einer Bedingung: dass Sie richtige Nägel benutzen.”
Vielleicht wäre es mit Hilfe solcher Drohungen schneller gelungen, die Täter dingfest zu machen und zu bestrafen. Und der Prozess der Aufarbeitung wäre nicht so unvollständig geblieben. Selbst heute, vierundachtzig Jahre später, suchen wir immer noch nach den Tätern. Nur damit so etwas hergestellt werden kann, das man Gerechtigkeit nennen könnte.
Vor knapp dreißig Jahren habe ich dem Sohn von Hermann Urich Sass, Horst Urich Sass, versprochen, dass ich über den Selbstmord seines Vaters so lange schweige, bis er selber und seine Gattin Ciedra Urich Sass verstorben sind. Ciedra Urich Sass ist 2016 in Beverly Hills gestorben.
Aus den umfangreichen Unterlagen des späteren Staatskonzerns UFA kann man die Beweggründe des Selbstmordes von Hermann Urich Sass genau herauslesen.
Die Herren der UFA wussten bei den Verhandlungen von 1930 bis 1933 mit dem Henschel Film- & Theaterkonzern genau, das die Zeit für sie arbeitete und sie nur ein wenig Geduld haben müssten, bis ihnen der Henschel-Konzern in die Hände fallen würde. Das Material, das uns heute von der UFA vorliegt, belegt dies. Damals waren diese internen Berichte der UFA den Verhandlungspartnern aus Hamburg sicher nicht bekannt. Ich vermute, es gehört eine besondere Gabe dazu, bestimmte Entwicklungen in der Gesellschaft vorauszusehen. Hermann Urich Sass verfügte offenbar über diese besondere Gabe.
Wer die Geschichte von James und seiner Frau Friderica Henschel (geb. Blumenthal) untersucht, wird zu ähnlichen Erkenntnissen kommen. Selbst die Enkelkinder, denen es nicht komisch war, dass sie drei oder mehr Omas und Opas hatten, verfügten offensichtlich über die Gabe, bestimmte Entwicklungen zu erahnen. Oft haben sie ihre Omas, die in den Kinos an der Kasse saßen, besucht, um selbst von den Bildern zu naschen, die dort präsentiert wurden. Und manchmal sind sie mit ihnen nach dem Kino nach Hause gefahren. An die Waschbalje voller Münzen und an die Straßenbahnen haben sie noch Erinnerungen. Alles ist schon mehr als siebzig Jahre her. Auch an die heimlichen Besuche der Tanzlokale, die ihren Eltern gehörten und die man doch erst im Alter von achtzehn Jahren betreten durfte, haben sie noch Erinnerungen. Faun am Gänsemarkt war so ein Tanzlokal, im Haus des Kinos Lessing-Theater.
Einer von ihnen ist letztes Jahr verstorben. (Am 28. Februar 2016). In Australien. Geboren in Hamburg als Hermann Lissauer. In Australien nahm er einen neuen Vornamen an. Von nun an hieß er Mark. Von ihm stammt das Foto vom Thalia Kino, das ihn auf dem Balkon im vierten Stock in der Grindelallee 115 zeigt. Unten war das Kino seiner Oma, die Ranette Salfeld hieß und der das Thalia Kino gehörte – auch ein Haus mit einem Kino, das einer deutschen Jüdin weggenommen wurde.
Text von Jens Meyer, verlesen am 24. Oktober 2017 15.00 Uhr (2018 ergänzt)
Reeperbahn 1 / Ecke Zirkusweg
Anmerkung: In alten Unterlagen tauchen verschiedene Schreibweisen des Namens des Kinounternehmers auf: Meistens mit einem Bindestrich versehen: Hermann Urich-Sass, manchmal taucht die Schreibweise Hermann Urich genannt Sass auf und in vielen Texten taucht eine Schreibweise auf, die eine Namenssuche fast unmöglich macht: Man nimmt dem Menschen den ersten Nachnamen weg und verändert ihn zu einem Vornamen, mithilfe eines eingefügten Ls, so wird aus Urich ein Ulrich.
Nachtrag: David Urich Sass und Anita Urich Sass (Annita Urich Sass)
Peter Offenborn hat es herausgefunden (nach der Kultussteuerkartei der Jüdischen Gemeinde). Ich hatte es nicht bemerkt. Erst vor einigen Tagen fiel es mir wieder in die Hand. Der Vater von Hermann Urich Sass war David Urich Sass, geb. am 05. Mai 1861 in Lemberg (Galizien), das damals zu Österreich gehörte. Gestorben am 24. Januar 1922 in Hamburg (Beerdigt auf dem Jüdischen Friedhof in Hamburg Ohlsdorf). Bevor Herrmann von der >J. Henschel<, die im Kinogewerbe tätig war, war er angestellt bei der Firma Max Blancke & Co . Film- Import / Export, Eimsbütteler Chaussee 112, später Dammthorstrasse 27). Später wurde er (nach den Informationen in den Adressbüchern) Inhaber der Firma Max Blancke & Co. Die Familie wohnte zuletzt in der Schlüterstrasse 1. Später – nach der Emigration der Kinder – wohnte Hedwig Urich Sass (geb. Henschel) in der Grindelallee 23 b. Neumark. Die Mutter von Hermann Urich Sass war Anita Urich Sass, (auch Annita Urich Sass) geb. Italiener, geb. am 17. Juli 1863 in Hamburg. Anita Urich Sass wurde am 17. Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert und am 18.12. 1942 dort ermordet. Im Buch >Hamburger Jüdische Opfer des Nationalsozialismus – Gedenkbuch< wird sie auf Seite 415 genannt.
Hugo Streit (Henschel Film- & Theaterkonzern KG) auf dem Weg nach London. Zur Premiere des Filmes >All quiet on the western front< >Im Westen nichts Neues< von Lewis Milestone. Produzent Karl Lämmle (Carl Lämmle) aus Laupheim bei Ulm, Universal. Nach dem Roman von Erich Maria Remarque, einem Schullehrer und späterem Schriftsteller aus Osnabrück. Die Maschine im Hintergrund von der Deutschen Luft Hansa hatte vier Sitzplätze für Passagiere und zwei für die Piloten. Falls es ein Direktflug gewesen war, konnte die Maschine den Flugplatz von London (aus Hamburg kommend) ohne Zwischenstopp anfliegen. Die Tankfüllung hätte ausgereicht.
Foto Archiv von Jens Meyer. Die Fotos habe ich aus Belo Horizonte in Brasilien mitgebracht. Die beiden Grabsteine habe ich in Hamburg auf dem jüdischen Friedhof in Ohlsdorf fotografiert.