Führungszeugnis 1938 für die Kinobesitzerin Rosa Hirschel

Es wäre komisch, wenn es nicht so ernst wäre: Im März 1938 beantragt die enteignete Hamburger Kinobesitzerin Rosa Hirschel (»Neues Reichstheater« im Neuen Steinweg 70/71 enteignet (arisiert) 1934 und des »Theater am Nobistor«, Reeperbahn 161) bei dem »Polizeipräsident in Hamburg« ein polizeiliches Führungszeugnis.

Dieses benötigt sie für ihre Ausreise, für die Flucht aus Deutschland nach Brasilien. 1938 ist die Polizei fest in den Händen der Nazi Mörder. Und die Nazi Mörder bestätigen ihr auch noch (unter Punkt 2) dass sie “sich nicht an Bestrebungen beteiligt, welche die Änderung der zur Zeit bestehenden sozialen und politischen Ordnung bezwecken, noch dass sie – zu Parteien oder Gruppen gehört, die diesen Zweck verfolgen“. Der Generalkonsul von Brasilien in Hamburg hat dieses Führungszeugnis offensichtlich verlangt, sonst hätte er am 10.08.1938 sicher nicht seinen VISTO (GRATIS) darunter gesetzt.FührungszeugnisRosaHirschelkleinMarcusHirschelRosaHirschel1934ManfredHirschelArgentinien2

Von links nach rechts (Marcus Hirschel 1910, gest. am 17. Juli 1911) ,   (Rosa Hirschel 1934),   (Manfred Hirschel,  Sohn von Marcus und Rosa Hirschel, Foto von 1937 in Argentinien aufgenommen)

Marcus und Rosa Hirschel betrieben seit 1910 in Hamburg das »American Kino«, Reeperbahn 161. Es wurde 1907 von Wilhelm  Peters und Theodor Demuth in die ehemalige Cigarrettenfabrik von Martin Zwickel eingebaut.                                                                                                               

Das Gebäude hat eine lange Geschichte.  Von 1888 – 1893 ist hier  die Firma Gründahl & Müller, die ein »Lager von Leinen, fertig  Wäsche, Weisswaren und Bettfedern hat. Inhaber ist: Johann Jacob Gründahl. Die Anschrift  lautet:  Langereihe (St. Pauli) Nr. 89. In Hamburg gibt es 1888 zwei Strassen desselben Namens: 1.)  Langereihe (St. Georg) und 2.) Langereihe (St. Pauli). 1900 wird die Langereihe in St. Pauli umbenannt und  der Reeeperbahn zugeschlagen.  Weil sich die Reeperbahn dadurch verlängert, bekommen die Häuser in der ehemaligen Langereihe neue Hausnummern.  Und so wird aus der »Langereihe No. 89« die Reeperbahn 161.                                                            

1894 wird das Gebäude an Martin Zwickel vermietet, der hier eine Cigarrettenfabrik einrichtet, die er dort bis 1906 betreibt.  Dann kommen neue Mieter: Die »Lebende Photographien« von Wilhelm Peters und Theodor Demuth.  Ab 1910 kommt ein neuer Pächter, dem es offensichtlich wichtig ist, das sein Vorname in den Anschriftenverzeichnissen der Adressbücher nicht auftaucht. Also gibt es drei Jahre lang (1910-1912) nur den Eintrag: »Werner, A. leb. Photogr.«. 

Aus anderer Quelle kommt der  Hinweis, das Marcus Hirschel  1910 der Pächter dieses Kinos war.  Nach dem Tod von Marcus Hirschel  am 17. Juli 1911 übernahm Rosa Hirschel das »American« Kino an der Reeperbahn. 1913 ist sie als »Witwe Frau Rosa Hirschel« im Strassenverzeichnis der Reeperbahn unter der No. 161 eingetragen. Sohn Manfred, geb. am 16. August 1892, ist grade volljährig geworden, als sie das Kino fortführt. Manfred und sein jüngerer Bruder Hans Hirschel helfen Mutter Rosa Hirschel im Geschäft. Eine Kinobesitzerfamilie.                                                  

Am 1. August  1922 gründet Manfred Hirschel,  zusammen mit Hermann Urich die »Norddeutsche Film=Theater=Komm. Ges. Hirschel & Co«, die am 16. September 1922 ins Hamburger Handelsregister eingetragen wird. So meldet es der Preussische Reichsanzeiger am 23. 09.1922. Im gleichen Jahr wird das »Waterloo Filmtheater« in der Dammtorstrasse 14 von dieser Firma übernommen. 1927 kommt noch das »Neues Reichstheater« im Neuen Steinweg 70/71 dazu. 

Rosa Hirschel hatte ihr »American« Kino  bei Kriegsende (1918)  in »Theater am Nobistor«  umbenannt. 

1933 wurde Rosa Hirschel dann gezwungen, das Kino an der Reeperbahn zu »verkaufen«. An einen »Arier«. Am 18. Oktober 1933 wurde es an Frau  Erna Vogt und Oscar Vogt »verkauft«, natürlich, wie es unter der Herrschaft der  Nazis üblich war, weit unter Wert. Immerhin hatte Rosa Hirschel dieses Kino über zwanzig Jahre lang  gemacht. Von 1911  bis zum Zwangsverkauf  1933.

Stutzig macht dabei nur nur, wie die Seite des Hamburger Filmmuseum mit diesen Vorgängen  umgeht. Das die ursprüngliche Besitzerin des »American« Kinos auf ihrer Seite gar nicht genannt wird. Genannt wird nur die sog. »Nachfolgerin«, die das Kino nur zehn Jahre lang von 1933 – 1943 betrieben hatte. Das ist schon eine merkwürdige Erinnerungskultur, die sich hier auftut. Am 14. September 1950 schrieb der Sohn von Rosa Hirschel aus Saõ Paulo: „Gegen Herrn resp. Frau Vogt haben wir keine Ansprüche im  Wiedergutmachungsverfahren gestellt, da erstens das Theater nicht mehr existiert (Ausgebombt) zweitens das Ehepaar niemals versucht hatte, aus unserem Unglück Sondervorteile zu ziehen und sich stets einwandfrei und korrekt benommen haben, trotzdem der gezahlte Preis weit unter Wert war.“ 

Bezuglich der Arisierung des »Waterloo Filmtheater« noch eine Anmerkung: Erst die sog. »Wiedergutmachungsakte« hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass auch die beiden sog. “Nachfolger“ (Heinz B. Heisig und Clara Esslen/Klara Esslen) das Kino einem Juden weggenommen hatten. Damit hatte sich auch die letzte Vorzeigefigur des Hamburger Kinogewerbes als nicht mehr vorzeigbar entlarvt. (Heinz B. Heisig war 1945 als einziger Hamburger Kinobesitzer nicht Mitglied der NSDAP und seiner verschiedenen Organisationen gewesen).

Die sog. »Wiedergutmachungsakte« konnten wir nur ansehen und fotografieren, weil uns der damals der 81 Jahre alte Sohn von Manfred Hirschel »Günther Hirschel« eine Vollmacht zur Einsicht der Akte gewährt hat. Die ist in ihrem Inhalt kein Ruhmesblatt für die beiden „Arisierer“ Heinz B. Heisig und Clara Esslen. Am Ende des sog. »Wiedergutmachungs-prozesses« hat es eine Abfindung von 50.000,00 DM (In Worten = Fünfzigtausend DM) gegeben. Eine lächerliche Summe, ein Fliegenschiss, wenn man den heutigen Wert dieses Grundstückes berücksichtigt. VollmachtGüntherHirschel2kleingeschwärztVollmachtGüntherHirschelkleingeschwärztManfredHirschelmitEvaBy-nc-sa_colorNilpferd7Der Kinobesitzer Manfred Hirschel mit seiner Tocher Eva Hirschel (1936) in Hamburg.IMG_1335UrlaubvonostlKriegschauplatz13.August1917Urlaub vom östl. Kriegsschauplatz 13. August 1917. Manfred Hirschel und andere.

Wie ich mir dieses Foto angesehen habe, da habe ich gedacht, gehört noch unbedingt ein Text drunter. Und da man bei Tucholsky inzwischen klauen darf, habe ich dies getan. Auf Seite 1159 im Band 1 – (1907 – 1924 meiner dreibändigen Gesamtausgabe) gibt es zwei Texte >Wie uns aus< und >Sechzig Fotografien<. In dem zweiten Text geht es um sechzig Fotografien über den Weltkrieg (1), die man in Paris kaufen kann. Der Text ist von 1924. Da wurde der Weltkrieg noch nicht numeriert. Am Ende schreibt Tucholsky: (Seite 1162 im Band 1)

Du schießt drüben immer den Kamerad Werkmeister tot – niemals den einzigen Feind, den du wirklich hast. Dein Blut verströmt für Dividende. Dein bißchen Sterben, dein armseliges Verrecken wird mühsam mit einer Gloriole von Romantik umkleidet, erborgt aus den Emblemen von Jahrhunderten, entliehen aus verschollenen Zeiten. Wirf deine Flinte weg, Mensch! Es wird immer Kriege geben? Solange du willst, wird es sie geben. Nagle dir diese Bilder an die Wand, zeig deinen Kindern, was das für eine Schweinerei ist: der Krieg; was das für eine Lüge ist: der Krieg; was das für ein Wahnsinn ist: der Krieg! Und dann setze dich mit deinen Arbeitsgenossen auf der anderen Seite hin, vertraue ihnen, denn es sind dieselben armen Luder wie du – und gib ihnen die Hand. Nieder mit dem Staat! Es lebe die Heimat!“ Nilpferdeinauge

v.l.n.r. Hugo Streit, Sophie Streit (geb. Henschel), Frida Henschel (geb. Blumenthal), Hans Hirschel (Bruder von Manfred Hirschel – American Kino), Alice Hirschel (Ehefrau von Hans Hirschel). Aufgenommen vor dem Spielcasino in Baden Baden 193o
Alte Postkarte An der Grenze von Altona: American Kino 1907 (linke Straßenseite)

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