Erfahrungen vererben sich nicht – Erfahrungen vererben sich selten von Peter Panter

GEBRAUCHSANWEISUNG    Erfahrungen vererben sich nicht – jeder muß sie allein machen. Jeder muß wieder von vorn anfangen . . .

Nun fängt ja keiner ganz von vorn an, weil in jedem Menschen vielerlei Erfahrungen aufgestapelt sind: zwei Großväter, vier Urgroßväter, achtzehn alte Onkel, dreiundzwanzig Tanten, Ur-Ur-Ur-Ur-Ahnen . . . das trägst du alles mit dir herum. Und manchmal, wenn du grade einen Entschluß faßt, dann entscheidet in Wahrheit dein im Jahre 1710 gestorbener Ur-Ur-Ur-Ur . . . Adolf Friedrich Wilhelm Panter, geb. 1675 in Bückeburg – der entscheidet, was du tust. Du gehst nachher herum und sagst: »Ich habe mich entschlossen . . . «

    Erfahrungen vererben sich selten. Die katholische Kirche hat da so eine Art Erfahrungsschatz aufgespeichert, den sie ihren Adepten, mehr oder minder symbolisch, abgibt – sie profitiert sehr davon. Man kann da viel lernen, wenn man da etwas lernen kann. Aber zum Beispiel bei der Erziehung . . .

     Da haben unsre Väter gesagt: >Hör auf mich – ich bin ein alter erfahrener Mann .  . . < Nun, wir haben nicht gehört. Ob zum Schaden oder zum Nutzen, ist eine andre Sache – aber gehört haben wir nicht. Jeder will sich seinen Schnupfen allein holen.    

   Das kann ihm aber auch keiner verdenken. Es gibt so wenig gute Anleitungen

. . . Da haben wir nun Bücher, wie man das Autofahren lernt, wie man Bienen züchtet und Küchenpetersilie zieht; wie man sich zum Gewerbeschullehrer-Examen vorbereitet . . . für alles das gibt es sehr brauchbare und handliche Werke. Nur, wie man sich mit seinen Mitmenschen am besten verhält – da gibt es weniger brauchbare Bücher.

    Es gibt ganze Waschkörbe voll – aber das Zeug ist meist nicht zu brauchen. Diese Bücher moralisieren; sie sagen, wie es sein sollte – nicht: wie es wirklich ist. Das ist sehr schade – hier fehlt etwas.

   Die deutsche Literatur ist in diesem Punkt merkwürdig schwach. Oder kenne ich diese verborgenen Schätze nicht . . . ? Ich lasse mich gern belehren. Im Französischen gibt es da sehr schöne Sachen – besonders aber im Englischen, das sind ja Leute von großer praktischer Lebensweisheit. Wir haben viel Theoretisches, sehr viel Moralistisches – aber wenig gute klare und kurze Kompendien darüber, wie es so im menschlichen Leben ist.

    Da liegt nun so ein Neugeborenes  . . .  Ja, wie soll denn das arme Wesen wissen, wie es sich hienieden verhalten soll, wenn man ihm nicht einen Fahrplan in die Hand gibt –? Sagen Sie selbst.

    Und dabei gäbe es doch so viel, so unendlich viel Einfaches zu sagen. Und zwar lauter Sachen, die für eine mittlere Ewigkeit hinreichen – denn die Natur des Menschen ändert sich nicht, nur ihre Formen ändern sich. In Balthasar Gracians Handorakel (vom alten Schopenhauer übersetzt) stehen so einige Dinge – wenn man die beherzigt, kommt man schon ein ganz gutes Stück weiter.

    Warum schreibt zum Beispiel nicht einmal ein alter gehauter Fuchs, dessen Fell das Leben gegerbt hat, was man alles mit dem Menschen nicht tun darf! Wie verletzlich sie sind; wie man sie niemals necken soll; wie man immer so tun muß, als höre man zu (Zuhörenkönnen ist überhaupt die halbe Lebensweisheit) – keiner schreibt einem das auf. Und da machen denn die Leute einen Haufen Dummheiten und wundern sich, daß sie nicht Regierungsrat werden, und wenn sie alt sind und es bei weitem zu spät ist, dann kommen sie langsam hinter den Dreh und halten ihren Kindern lange Vorträge, wie man es machen müsse, um etwas zu erreichen. Und die guten Kinder denken: »Wenn du so klug bist – warum hastn du dann nicht selber . . . ?« und wenden sich ab und hören nicht zu.    Sie wissen das nicht, daß vom Zuhören . . .

     Keiner schreibt es ihnen auf. So ein Büchlein müßte die konzentrierteste Lebensweisheit enthalten, mit einer Aphorismensammlung hat das gar nichts zu tun, beileibe nicht. Es müßten wirklich so goldene Regeln sein, wie etwa die, die der Weltreisende Richard Katz einmal gegeben hat: >Vor jeder großen Reise sich die Zähne reparieren lassen.< Das ist kein Aphorismus – das ist eine (schmerzlich) gewonnene Erfahrung. So ein Buch müßte das sein.

>Sagen Sie . . . Herr Panter . . . was ich sagen wollte: Warum schreiben Sie denn das nicht?<– >Ich? Als wie ich? Werter Herr . . . haben Sie schon mal einen Pokerspieler gesehen, der vor dem Spiel und während des Spieles Ihnen genau erzählt, wie er blufft? Na, also?<

Erstveröffentlichung unter dem Namen P.P. (Peter Panter) in Voss. (Vossische Zeitung, Verlag Ullstein) 10. Oktober 1930. Zitiert nach der Gesamtausgabe. Dünndruck. Drei Bände. Band III. 1927 – 1932. Seite 552 – 554. Tieresehendichan3

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert