VOM NACHTTISCH GETRÄUMT von Stinki Müller
Da gibt es zwei Bücher, auf die ich gerne hinweisen will. Das erste ist ein Kinderbuch, das ich gestern im Buchladen um die Ecke gefunden habe. Es ist aus Amerika für die Kinder der kommenden Daumenwischgeneration.
Erschienen ist es im Hanser Literatur Verlag und kostet 6,90 €. Ein Bilderbuch zum Vorlesen. Auf der Rückseite ist geschrieben, um was es geht. >Kann man damit simsen?< >Bloggen?< >Scrollen?< >Twittern?< Nein . . . das ist ein Buch.
Das zweite Buch kann man vermutlich nicht mehr kaufen. (Korrektur: Doch. Bei Antiquariat.de habe ich drei Angebote dieses Buches gefunden). Es wurde ursprünglich, wie ein kleiner Aufkleber hinweist, in dem Buchladen Behn & Eckers, in Hamburg am Steindamm 24 gekauft. Den Buchladen gibt es nicht mehr. Das wird 1908 gewesen sein, als dieses Buch gekauft wurde. Jemand hat eine Widmung vorne reingeschrieben. In einer Schrift, die heute kaum noch verwendet wird. Das Album von Hamburg ist ein Fotobuch. Erschienen in Berlin W 9 – im Globus Verlag G.mb.H.
Es enthält “1 grosses Panorama und 30 Ansichten nach Naturaufnahmen im Photographiedruck.“ Die “Naturaufnahmen“ zeigen den Hauptbahnhof (ohne Autos, aber mit Strassenbahn und Pferdedroschken), den Jungfernstieg mit der Binnenalster (ebenfalls ohne Autos, aber mit Pferdedroschken und Strassenbahn). Den Jungfernstieg mit Alsterpavillon (auch ohne Autos), die Anlegestelle der Fährboote, den Dammtor-Bahnhof (ohne Autos), die Ober-Postdirektion (Hauptpostamt), das Rathaus mit Kaiser Wilhelm Denkmal, die Börse, den Hopfenmarkt mit der Nikolaikirche, den Großen Burstah, Steckelhörn, den Fleet bei der Reimersbrücke, den Freihafen, Sandtorkai und Freihafenlagerhäuser, die Elbbrücke. den Segelschiffhafen, den Strandhafen, die Pennslvania,Getreide löschend, den neuen Riesenschnelldampfer “Kaiserin Auguste Viktoria“, Blick vom Afrikakai, das neue Bismarckdenkmal von Hugo Lederer, die Helgoländer Allee und Deutsche Seewarte, St. Pauli Fährhaus und Deutsche Seewarte, St. Pauli Landungsbrücken und Blankenese. Die eigentliche Geschichte, die ich schreiben will ist eine andere.
Wie das Buch (Format 345 mm x 270 mm) zu mir gelangt ist: Wie schon geschrieben, wurde es im Buchladen Behn & Eckers am Steindamm 24 in Hamburg gekauft. Von dort gelangte es (vermutlich über eine Zwischenstation) zu einer Tante von mir, die ich selber gar nicht mehr kennengelernt habe. Ihr Sohn, mein Vetter Wölfi, hat es bei seiner Auswanderung nach Australien mitgenommen. Wölfi, der eigentlich Wolfgang Johann Wilhelm Eikens hieß, war am 24. November 1924 in Hamburg geboren worden.
Er war grade 17 Jahre alt und in einer Lehre zum Autoschlosser, als man ihn als Soldat nach Russland schickte, wo ihm die Füße erfroren sind. Seine Mutter, Dorothea Leonie Eikens (geb. Hirte), Arbeiterin, war Witwe. Ihr Mann war ein paar Jahre vorher verstorben. Während dem 17jährigen Wölfi in Russland die Füße erfroren (das konnte man später noch sehen, die Haut war ganz glatt) wurde seine Mutter, so hat er sich immer ausgedrückt “in Hamburg in ihrer Wohnung gegrillt“. Sie wohnte in der Eiffestrasse 505. Wölfi meinte das wörtlich, das mit dem Grillen. Als Kind habe ich das lange nicht verstanden, was er damit meinte. Seine Mutter Leonie war 48 Jahre alt, als sie in der Wohnung “gegrillt“ wurde, während ihm in Russland die Füße erfroren sind.
Der Text der Todesanzeige war: “Dorothea Leonie Eikens (geb. Hirte), Arbeiterin, Eiffestrasse 505, (geb. am 10. 1. 1894), am 28. Juli 1943 um 1.00 Uhr und 40 Minuten in Hamburg, da selbst in Folge Fliegerangriffe gefallen.“ Wölfi hat es dann irgendwie geschafft, trotz erfrorener Füße, nach Hamburg zurückzukommen. Dieses Land wollte er auf jeden Fall verlassen. Das hat er dann auch gemacht. So weit, wie es geht, wollte er hier weg.
Mit dem Schiff nach Australien. Wie das Buch in seine Hände gelangt ist, wo doch die Wohnung seiner Mutter ausgebrannt war, konnte er mir nicht erzählen. Einmal habe ich in Sydney besucht, weil ich als Kind schon auf seinem Schoß gesessen hatte. Dann hat er mich auch in Hamburg besucht und dieses Buch mitgebracht. Hier wäre es besser aufgehoben als in Sydney, meinte er.
Wir haben in Hamburg zusammen viele Spaziergänge gemacht, um nachzusehen, ob er bestimmte Ecken in Hamburg wiedererkennt. Das war oft nicht der Fall. Wölfi ist vor ein paar Jahren gestorben. Dieses Land ist nicht gut mit ihm umgegangen. Der Hass auf die Konservativen und die Nazis ist nie mehr weggegangen. Ein paar dieser Fotos aus dem Album habe ich auf den Scanner gelegt. Stinki MüllerWer diese Fotos gemacht hat, ist in dem Buch nicht vermerkt. Aber vermutlich ist der oder die Fotografin schon länger als 70 Jahre tot. Insofern sind sie jetzt frei zugänglich