Vom Nachttisch geträumt
Heute Nacht habe ich von einem Buch geträumt, das ich sehr liebe. Zuletzt habe ich den Trödler, den ich auch sehr liebe, in der Marktstrasse vor dem Laden im Sonnenlicht getroffen, der sich mit einem anderen Buch, das ich auch sehr liebe, sehr abmühte, und, obwohl er schon auf der letzten Seite war, mir zu verstehen gab, daß er wenig verstanden hätte.
Ich habe ihm gesagt, daß ich glaube, daß man nicht alles verstehen muß und manches versteht man eben erst später. Ich habe ihm dann das andere Buch genannt, das ich auch erst viel später gefunden habe.
>Gefunden habe<, ist vermutlich der falsche Ausdruck. Meine Freundin hat es gefunden und mir zum Geburtstag geschenkt. Eigentlich hasse ich dicke Bücher. Dieses hat immerhin 991 Seiten. (Aber im Dünndruck ist es gar kein dickes Buch mehr). Tatsächlich ist es nur 38 mm dick, was die Angst des Lesers – also meine – etwas lindert. Meine Freundin hatte das Buch, ohne es vorher zu Lesen, von einem “Altlinken“ (was immer das auch ist) empfohlen bekommen.
Es handelt sich um das Buch von Albert Vigoleis Thelen >Die Insel des zweiten Gesichts – Aus den angewandten Erinnerungen des Vigoleis<. Der Trödler, der mir die alte >Ideal< Schreibmaschine verkaufte, hatte allerdings ein anderes, das von Michael Bulgakow >Meister und Margarita< gerade bis zur letzten Seite gelesen. Und gab zu, wenig verstanden zu haben. Dennoch war der Reiz des Buches auf ihn übergesprungen.
Und da ist mir die >Insel des zweiten Gesichts< wieder eingefallen. Immer wenn mir eine Dünndruck, oder Dickdruckausgabe in die Hände gefallen ist, habe ich es gekauft und verschenkt. Manchmal konnten sich die Beschenkten erwärmen. Manchmal waren sie hinterher einfach sprachlos.
Und wenn eine Frau sprachlos ist, dann redet sie auch nichts. Das Buch ist erstmalig in Deutschland im Eugen Diederichs Verlag erschienen. 1953. Da war ich mal grade sieben Jahre alt. Als ich davon Kenntnis nahm, war ich 40 Jahre alt. Ich habe es nicht bereut und nehme es immer wieder in die Hand. Im ersten Buch gibt es einen Vorspruch von Don Quijote de la Mancha.
“Gepriesen sei der Himmel nebst allen Heiligen, der uns endlich ein Abenteuer beschert hat, das etwas einträgt!“
Vor dem Abenteuer kommt noch eine >EINE WEISUNG AN DEN LESER<
>Alle Gestalten dieses Buches leben oder haben gelebt. Hier treten sie jedoch nur im Doppelbewußtsein auf, der Verfasser einbegriffen, weshalb sie weder für ihre Handlungen noch auch für die im Leser sich erzeugenden Vorstellungen haftbar gemacht werden können. Im gleichen Maße, wie die Spaltung der ich-verlorenen Gestalten größer oder kleiner zu werden scheint, unterliegt auch der chronologische Ablauf der Geschehnisse einer Umschichtung, die bis in die Aufhebung des Zeitgefühls gehen kann.
>In Zweifelsfällen entscheidet die Wahrheit< Damit die Enkelkinder aus der Daumenwischgeneration es auch so finden können und darüber hinaus um einen Grund zu finden, es nach meinem Ableben nicht einfach wegzuschmeissen, was schade wäre. Obwohl es mir ja eigentlich egal sein könnte.
Zunächst einmal ist es die Biografie zweier Menschen, die aus Deutschland vor dem dritten Reich eine Kurve kratzen. Zusammen mit seiner Frau Beatrice, wird er auf die Insel >Mallorca< gelockt. Dort hat ein Bruder von Beatrice signalisiert, dass er dem Tode nahe sei.
Was gar nicht stimmt. Sie finden ihn wohlbehalten, mit langen Fingernägeln in Mallorca. Dort leitet er ein Hotel. Mit diesen langen Fingernägeln. Im Laufe der Zeit kommen immer mehr Nazis auf die Insel. Und im Laufe der Zeit verlieren die beiden immer mehr von ihren Ersparnissen.
Seite 573 aus >Die Insel des zweiten Gesichts<. „1933. In einem südlichen Lande lebt der am besten, dem es gelingt, den Sinn für die Zeit ganz und den für das Räumliche nach Möglichkeit auszuschalten.
Manchmal ist es schon der morgige Tag, und man meint, es sei immer noch gestern oder vorgestern oder, in glücklichen Fällen völliger Zeitverwahrlosung: überhaupt nicht. Das Heute scheidet immer aus; es ist nur eine philosophische Abstraktion. Der iberische Mensch, und um den geht es hier, steht aber mit beiden Füßen auf seiner Wolkenerde . . . “ (. . .)
„. . . Es war also soweit, wir hatten es nur nicht gemerkt. Während wir unseren Inselschlaf gehalten mit der sich so laut gebärdenden Tagtraumwelt der Mamús, Patucos und Ululas, der streunenden Suredas und des immer besser malenden Pedro; mit Porras und Putas Pilar; Toten, die nicht tot, Lebendigen, die ums Verrecken nicht tot sein wollten – da war Deutschland erwacht. Und da zu einem erwachenden Deutschland ein verreckendes Juda gehörte – es gibt kein Heldentum ohne Opfer – scharte sich das Volk der Dichter und Denker, das auch Hagens Volk ist, um den Führer.
Wieviele mochten das wohl sein, die da mit starr von sich gestreckten Gliedmaßen sterben sollten? Es ginge gewiß in die Millionen. Zwei konnten von vornherein von der Liste gestrichen werden, um die brauchte sich der Führer nicht mehr zu kümmern: Adele Gerstenberg und ihr Sohn ruhten vom eigenen Tode auf dem Cementerio in Alicante. Millionen weniger zwei, macht das denn etwas aus? Wo eine Million verrecken, spielen da zwei noch eine Rolle? Wenn alle tüchtig mitmachen, schafft es das Volk im Handumdrehen. Sie müssen eben alle mitmachen. Alle! Keiner darf sich ums Morden herumdrücken, sonst wird er selber abgemurkst. So wollen es Hitler und die Geschichte. Und da behauptet Vigoleis noch, nicht an die Geschichte zu glauben. Nur nicht die Toten zählen. Don Patuco und Hölderlin sagen es auch. Nach Jahren der vaterländischen Schmach, der völkischen Erniedrigung, der nationalen Umdunkelung: endlich die Morgenröte, die Götterdämmerung, der Aufbruch mit Kind und Kegel und Mann und Maus. O, da konnte man sich wieder geschlossen freuen, in Reih und Glied zum Jux angetreten; und je mehr man mordete, je freudiger wurde einem ums Herz. Und da aus Freude Kraft erwächst, nannte man die so gewonnene Kraft die Kraft durch Freude; und mit dieser Kraft durch Freude bestieg man Kraft/durch/Freude/Schiffe und segelte in die Welt hinaus, denn war man nicht ein Volk ohne Raum? So kamen die Erwachten auch nach Mallorca, das Ende der Welt, die Hinterwelt, die Unterwelt, aber immerhin noch Welt. Das wollte man sich einmal ansehen, Freude schöpfen aus dem Anblick des Niedrigen, gegen den das eigene Hohe um so ragender steht: Bei uns ist alles viel besser! Aber das wird natürlich bald ganz anders werden. So eine totale Schweinerei, nicht mal Bier hat dieses Volk – >Herr Führer, im Namen des Führers, sagen sie mal, wo kann man hier anständig . . . < Doch ehe ich als Herr Führer dieser Volksgenossen den Protest annehmen und an den Führer weiterleiten kann, muß ich selbst erst wissen, woran wir sind . . . „
(Aus: Albert Vigoleis Thelen: Die Insel des zweiten Gesichts – Aus den angewandten Erinnerungen des Vogoleis, Seite 573 – 574. Copyright 1953. G. A. VAN OORSCHOT, AMSTERDAM, Dritte Auflage/Eugen Diederichs Verlag)
Sie verarmen. Aber sie verlieren bei keinem ihrer Umzüge in ein schlechteres Quartier ihren Humor. Erleben manche Abenteuer und sind auch am Ende noch Menschen. Sie widerstehen. Und das macht die Sache lesenswert. Das schönste an dem Roman ist eigentlich, daß der Autor immer wieder abschweift, sodaß man Ende gar nicht weiss, wo er jetzt eigentlich ist.
Stinky Miller
(Ps: Ich war eben auf der Seite von Antiquartiat.de, dort gibt es Angebote von >Die Insel des zweiten Gesichts< im Preisbereich von 8,00 – 190,00 € für dieses Buch. Und Bücher sind ja zum Lesen und nicht zum Sammeln da)