Dem einen das Bein – dem anderen den Wald

Dem einen der Wald – dem anderen das Holzbein

Erinnerungen an einen Deserteur

Zeichen: 18.223. Ich weiß nicht, ob es ihnen manchmal auch so geht wie mir: Beim Aufräumen finde ich einen alten Text wieder und denke, wieso wollte den Text damals niemand veröffentlichen? So ging es mir mit diesem. Damals, das war 1983. Ich war Maschinenschlosser in einer Rüstungsschmiede. Genauer: Auf der Werft von Blohm & Voss. Eine Karriere, die übrigens nach zwei Jahren plötzlich von der Personalabteilung der Firma beendet wurde.

Nicht wie sie vielleicht vermuten. In der Klageschrift vor dem Arbeitsgericht schrieb der gegnerische Rechtsanwalt, daß der Kläger – also ich – dieses Jahr überhaupt noch nicht zur Arbeit erschienen sei, was ich besonders beleidigend fand, weil das Jahr gerade erst 20 Tage alt war. Ich erhielt eine Abfindung von 3.200 D-Mark. Bei Blohm & Voss bauten wir Fregatten für alle Welt: Nigeria, Türkei, Argentinien.

(Hier ein Foto eines Modells. Fotografieren war auf der Werft von Blohm & Voss  streng verboten. Beim >Erwischtwerden< war der Verlust des Arbeitsplatzes garantiert) (Wegen Sabotage!).

Kleine, schnelle, sehr gut bewaffnete, mit Elektronik vollgestopfte Kriegsschiffe. Auf dem gleichen Gelände wurde auch “unser Leo“, wie ihn die Kollegen aus dem Panzerbau liebevoll nannten, gebaut. Diese deutsche Wertarbeit, mit der in aller Welt Kriege gewonnen werden konnten. Für das Betreten der Panzerhalle benötigte man einen Sonderausweis, den sie mir jedoch nie ausstellten.

Bei den Fregatten war man dagegen nicht so zimperlich. Nur die Jugoslawen liessen sie nicht auf die Natoschiffe. Wegen Kommunismus und so. Die Fregatte für Argentinien bekam zwei Antriebsmaschinen. Einen Dieselmotor und für den Fall, daß es mal schneller gehen sollte: Eine Gasturbine. Die Herstellerfirma dieser Gasturbine war die damals staatliche Firma Rolls Royce (GB), die neben den Nobelautos auch eine Gasturbinenproduktion hatte. Wie schnell die Fregatte wirklich war, das haben wir nie erfahren, weil während der Probefahrten immer die Geschwindigkeitsanzeige im Maschinenraum mit einem Lappen verdeckt wurde. Alle Militärs haben immer Angst vor den Spionen. Aber 70 Std/km dürften es schon gewesen sein. Für ein Schiff dieser Größe ganz schön schnell. Ein Düsenjägerschiff.

Während wir also die Fundamente für die königlich-englische Rolls Royce Turbine in die argentinische Fregatte einbauten, begannen beide Staatsführungen einen Krieg um die Falklandinseln vor Argentinien. Pikant an der Angelegenheit war: Während britische Soldaten vor Argentinien für den Erhalt der britischen Kolonien kämpften, war die andere Abteilung von Frau Thatcher gerade dabei, die Waffen für den Gegner zu schmieden, um es mal etwas blumig auszudrücken.

Die extra aus England angereisten Monteure der Firma Rolls Rocye machten dann, so will ich es mal nennen, eine “Höflichkeitspause“ von zwei Wochen bei der Montage der Gasturbine. Doch dann mußten sie weiter zusammen schrauben, was da in Kisten verpackt auf der Werft stand. Schließlich ging es um bares Geld. Verluste hatte Rolls Royce schon genug. Deshalb war der Konzern ja verstaatlicht worden. Während wir also im Akkord das argentinische Kriegsschiff fertigstellten, obwohl ohnehin jedem klar war, daß es für diesen Krieg nicht mehr rechtzeitig fertig werden würde, dachte ich an einen entfernten Verwandten, den ich auf dem Friedhof begegnet war. Ludwig Averdieck. Ein kleiner Stein auf einem Massengrab aus dem zweiten Weltkrieg.

Ob er wirklich das war, was ich vermutete, das habe ich nie mit letzter Sicherheit herausbekommen. Ein Deserteur in dieser angesehenen Familie? Die Averdiecks hatten jedenfalls nie von Ludwig erzählt. Der Stein auf dem Bergedorfer Friedhof war ihnen geradezu peinlich.

Noch zwanzig Jahre nach seinem vermutlichen Tode. Es war die Zeit, als mit großer Intensität und erheblichem Werbeaufwand unter der Jugend für die Instandsetzung der deutschen Kriegsgräber in aller Welt geworben wurde. Die Zeit, in der Deutsche vom Motorrad auf Kleinwagen umstiegen. Unbequeme Menschen waren lange vergessen. Nur einige Schriften auf den Grabsteinen waren noch zu lesen. Halb vergammelt, mit Moos und Schimmel bedeckt. Buchsbaumhecken und Heldengedenksteine. Auf dem Friedhof in Hamburg Bergedorf: Wilhelm Schloicka und Karl Schloicka; “Unsere Ehre heisst Treue“. Das Motto von Hitlers Elite Mördern.

Friedhof Bergedorf 1

Zwei auf einem Stein sind billiger. Dazwischen ich, mal grad zwölf Jahre alt. Beim Sonntagsbesuch meines Vaters zu seinem Vater. Stinkiges Blumenwasser und alte Frauen. An den Heldengedenksteinen hatte ich das Buchstabieren gelernt. Einschulung 1953. Zwei Meter hohe Feldsteine, oben den Soldatenhelm, unten das Wort “gefallen“. Darunter konnte ich mir als Zwölfjähriger gar nichts vorstellen. Zumindest nicht, warum man deswegen einen Stein mit Inschrift bekam. Auch ich war schon oft gefallen und hatte mir das Knie aufgeschlagen. Besonders im Sommer mit kurzen Hosen waren meine Beine wüst verschrammt. Aber ich hätte nie gedacht, daß man für verschrammte Knie einen Gedenkstein bekommt, das hätte ich nicht mal im Traum gedacht. Gefallen für das Vaterland bei Stalingrad. Unten auf dem Stein das Motto der Massenmörder von Treue und Ehre, das verstehe ich heute noch nicht. Niemand konnte oder wollte dem Zwölfjährigen sagen, was das ist Stalingrad? Erst Jahre später erfuhr ich von General Paulus und der deutschen sechsten Armee, die dort in Rußland krepiert war. Heute ist dieser Ort in Rußland schon wieder umbenannt.

Wichtige und unwichtige Tote findet der 12-jährige, also ich, auf dem Bergedorfer Friedhof. Schon bald interessieren mich mehr die unwichtigen Toten. Die, mit den kleinen Grabsteinen. Die, auf denen die Worte “vermisst“ und “unbekannt“ eingemeisselt waren. Die, auf denen kein Todestag, sondern “Februar 1945“ oder “Juli 1943“ stand. Mein Onkel, angesehener Rechtsanwalt in Bergedorf, Dr. Otto Averdieck, soll ein “Nazi“ gewesen sein. Als Zwölfjähriger kann ich mit diesem Begriff gar nichts anfangen und bringe deshalb alles durcheinander. Nazi, was soll das sein? Schließlich waren die Kommunisten überall die Bösewichter, wo man auch hinhörte. Irgendwie waren sie an allem schuld. Als die Russen das zweite Eisenbahngleis nach Berlin demontierten; als Berlin ausgehungert werden sollte und aus der Luft versorgt wurde; als man erste Bilder von halbverhungerten Kriegsgefangenen sieht, die aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückkehrten.

Als Zwölfjähriger denke ich lange Zeit, daß Adolf Hitler ein Kommunist gewesen sein muss. Schließlich hat er den Krieg angefangen und dann auch noch verloren. Mein Vater sagt immer: “Alles Sabotage“. Doch in alle Welt sind sie gekommen, die Väter, die bei der Wehrmacht waren. Die Wehrmacht, das große deutsche Touristikunternehmen des “Führers“, wie sie ihn manchmal noch nennen. Das CinemaScope Format hat sich 1954 so schnell im Kino durchgesetzt, weil es “im Format dem Sehschlitz des deutschen Panzers so ähnlich war“, lese ich in einem Text von Harun Farocki. Diese Erkenntnis mache ich ein paar Jahre später.

Meinen Onkel – den Rechtsanwalt – kannte ich nicht als Nazi, sondern nur als Vorsitzenden des Briefmarken- und des Bürgervereins. Er ist – merkwürdiger Weise – für mich damals der einzige gewesen, der bezüglich der “dunklen Zeit, die für immer hinter uns liegt“, der wenigstens ehrlich seine Meinung sagt und zugibt dabei gewesen zu sein. Mit Überzeugung dabei gewesen zu sein. Er ist auch der einzige, der überhaupt etwas davon mitbekommen hatte, was in Deutschland zwölf Jahre lang passiert war.

Nicht so ein plötzlicher Demokrat, wie all die anderen, die Europa in Schutt und Asche gelegt hatten und selbst davon gar nichts bemerkt haben wollten. Wir Kinder spielten Kaiser, König, Edelmann. Wir sangen, wir wollen unseren alten Kaiser Wilhelm wieder haben, aber nur mit Bart, aber nur mit Bart!

Das mit dem Bart fand ich als Kind immer besonders spannend. Erst viel später habe ich dann herausgefunden, welcher Kaiser das in dem Lied gewesen sein muss.

Heute sitzt er noch überall rum, auf seinem Pferd. Jedenfalls nicht der, der den ersten Weltkrieg verloren hatte und dann auch noch einfach hinterher abgehauen ist. In dem Krieg, in dem mein Onkel noch selbst dabei gewesen war. Auf dem Pferd. Ludwig Averdieck war sein Bruder. Von dem erzählt er nie etwas.

Nur dieser kleine Stein auf dem Bergedorfer Friedhof bringt den Zwölfjährigen auf Ludwigs Spur. Da steht: Ludwig Averdieck, 1.8. 1882, Juli 1943, und das Kreuz der Wehrmacht. Fußballer sind mit vierzig zu alt, das weiß ich über Fritz Walther, dem “Ehrenspielführer der deutschen Fußballnationalmannschaft“. Auf einer Schallfolie des Kickers wirbt er für die Fußballzeitschrift “Kicker“. Er spricht: “Meine Damen und Herren, liebe Fußballfreunde. Der Spruch, wer den Ball liebt, liebt den Kicker, der ist nicht nur wahr, sondern er stimmt.“

Wie alt dürfen Soldaten sein? Die, die die Arbeit erledigen, im Panzer sitzen und am Flak Geschütz stehen? Nicht die Generäle, die hinter der Front mit den Zirkeln auf Landkarten herum malen. Die werden oft ganz alt. Ein General, der an der Front stirbt, hat den Beruf verfehlt. Das kommt aus dem Kino, der Sonntagsmatinee mit dem Film “Fanfan, der Husar“, den ich mit meiner Mutter zusammen ansehe. Sind 52 Jahre für den zweiten und 32 Jahre für den ersten Krieg zu viel für das Bajonett oder das Maschinengewehr?

In einem Massengrab in Nordfrankreich finde ich, vier Jahre später, mit 16 Jahren noch einen zweiten Verwandten.

Oder besser gesagt: Ich finde seinen Namen in einer Liste. Es ist ein Friedhof aus dem ersten Weltkrieg. Zweiundzwanzig Jahre alt ist er alt, als er “fällt“.

Aber der Kaiser, der ihn in diesen Grabenkrieg geschickt hatte, schickt auch eine Urkunde an meine Tante Buddi. Wahrscheinlich nicht selbst. Dafür waren es zu viele Urkunden, die da zu verschicken waren. Ein Schmuckblatt. So wie später die Schmuckblatt Telegramme der Bundespost.

Eine Germania ist drauf mit Flügeln, die den deutschen Krieger nach oben trägt. Wahrscheinlich in den Himmel. Aber der Kaiser hat die Urkunde selbst unterschrieben. Sie kam mit der Feldpost. An die damals schöne, junge Ehefrau, die sich dann “nach dem Tode im Feld“ ins Bett gelegt und offensichtlich beschlossen hatte, dieses Bett nie wieder zu verlassen. Das muss ihr auch geglückt sein.

Die wohlhabende Familie hat ihr eine kleine Kammer im Dachgeschoss freigeräumt. Essen wird gebracht. Wir Kinder haben den Eindruck, sie wäscht sich nie. Wir merken es an dem strengen Geruch in der Kammer. Manchmal übergießt sie sich mit Kölnisch Wasser 4711. Das Paradies. Wir Kinder lernen sie kennen, da liegt sie schon seit 37 Jahren im Bett und füllt es ganz aus.

Eigentlich ist es verboten zu Tante Buddi zu gehen. Aber wir sitzen fast jeden Tag hier. Die einquartierten Flüchtlingskinder und ich. Erst später stellt sich heraus, die Flüchtlingskinder sind gar keine. Es sind Verwandte. Die Familien sind ausgebombt.

Was das ist “ausgebombt“, wußte ich als Kind nicht. In Hammerbrook, wo die englischen Bomberpiloten, oder waren es amerikanische Bomberpiloten? Wo sie mit ihren Phosphorstäben 1943 diese Grillfeste veranstaltet haben.

Das hatte mir ein Vetter erzählt, der mit 17 Jahren aus einer Autoschlosserlehre herausgenommen und nach Rußland geschickt worden war; dem dort die Füsse erfroren sind, während seine Mutter zur selben Zeit in der Wohnung in der Eiffestrasse “gegrillt“ wurde, wie er sich ausdrückte.

1949 hat er deshalb dieses Land fluchtartig in Richtung Australien verlassen.

Es waren keine einquartierten Flüchtlingskinder. Nur ein ungeliebter Zweig der Familie. Besonders angezogen sind wir Kinder von Tante Buddis anzüglichen Zeitschriften und ihren Süßigkeiten, die sie den ganzen Tag in sich hineinstopft hatte und uns davon welche abgibt. Wöchentlich einmal besorgt sie sich, und uns, die Zeitschrift Praline. Ein schönes Leben, denke ich. Halbnackte Frauen und Pralinen.

Tante Buddi erzählt auch von Ludwig und von ihrem Verlobten. In St. Quentin in Frankreich verscharrt. Die Kriegsgräberfürsorge führt mich ein paar Jahre später dort hin. Eine erschwingliche Ferienreise für meine Eltern. Ein halber Tag Arbeit auf dem Soldatenfriedhof, die andere Hälfte des Tages mit französischem Rotwein hinter Grabsteinen versteckt, die Kontakte zu dem weiblichen Teil des französischen Erbfeindes aufzunehmen. Versöhnung über den Gräbern, lautet die Losung für das Jugend Ferien Lager.

Wir nehmen die Losung ernst und werden prompt erwischt. Das Absingen öbszöner Lieder hinter dem Ehrenmal der deutschen Soldaten führt zu einem schweren Verweis der Lagerleitung. Geschlechtliche Verfehlungen konnte man uns nicht vorwerfen. Dafür hatten wir viel zu viel Angst vor Mädchen. Aber das Trinken von Alkohol in Anwesenheit von toten deutschen Helden führt zu der Androhung der Lagerleitung, uns auf Kosten der Eltern vorzeitig nach hause zu schicken. Dabei hatten wir nur Rotwein getrunken und gesungen. Die da im Kalkstein lagen, hatten sich damit nicht zufrieden gegeben. Wir tranken in Zukunft wo anders.

Später habe ich dann folgende Geschichte über Ludwig immer wieder gedacht: Der ist abgehauen. Die Familie hat ihn, obwohl sie nicht seiner Meinung waren, sondern im Gegenteil der Meinung waren, daß man seine “Pflicht für sein Vaterland tun muss“, versteckt. Schließlich waren sie verwandt.

In den letzten Kriegstagen ist er dann aufgegriffen und erschossen worden. In den drei Nächten im Juli 1943 sind in Hamburg so viele Menschen verbrannt, da fiel es weiter gar nicht auf, wenn auf dem Stein von Ludwig ein falsches Datum stand. Im November, an das Jahr kann ich mich nicht mehr erinnern, war ich noch mal bei seinem Stein und habe dort gelbe Blumen abgelegt. So was tue ich sonst nicht. Vielleicht hat der Nebel mir das eingeben. Gelbe Blumen passen gut zum Nebel.

Das Interesse bei mir an Ludwig Averdieck kommt vor allem durch das eisige Schweigen zustande, das mir bei Fragen nach Ludwig von den Verwandten entgegen schlägt. Vielleicht stimmt auch das Geburtsdatum nicht, das da auf dem Stein steht. In Ludwig suche ich mich selbst. Als ich im wehrpflichtigen Alter war und die Musterung erfolglos sabotiert hatte: Stanniolkugeln, Rückratverkrümmung, Alkohol, Schwulsein; damit war meine Palette erschöpft: tauglich, Ersatzreserve eins, meinte das Kreiswehrersatzamt.

Wofür Ersatz? Meine Einberufung war nur eine Frage der Zeit. Verweigern? Ersatzdienst? Kein Gedanke. Das war mir zu politisch, zu anstrengend. Ludwig war kein Widerstandskämpfer, ich wollte auch keiner sein. Ich hatte nur keine Lust. Drei Einberufungsbefehle habe ich bekommen. Das erste Mal wars einfach. Eine Bestätigung der Howaldtswerke, das ich im zweiten Lehrjahr sei und erst in 1,5 Jahren auslernen würde, das genügte für das Kreiswehrersatzamt Sophienterasse.

Das zweite Mal wars schon schwieriger. Aber Schiffsingenieursassistenten wurden bei den deutschen Reedereien gebraucht. Mit einem Heuerschein und einer Bescheinigung der Ing. Schule war die “UK“ Stellung so gut wie sicher. Doppelte Sicherheit verschaffte die beim deutschen Konsulat von Casablanca erfolgte Einklarierung. Erst dort wurde ich in die Besatzungliste eingeschrieben. So lang ich als Assi auf diesem Schiff blieb, konnte mir vorerst nichts mehr passieren.

Dann das Studium. Durch einen Bewußtseinswandel, hervorgerufen durch die Reederei OPDR “Ohne Proviant durch Russland“ wie die Besatzung sie nannte, die korrekte Bezeichnung der Reederei war “Oldenburg-Portugiesische-Dampfschiffs-Rehderei“ traf die Sache aber viel weniger, verabschiedete ich mich von der geplanten Laufbahn zum Schiffsingenieur.

Zutörnen“ hieß das beliebte Wort bei der Reederei. Das bedeutete bei einem Vier-Wachen-Schiff, täglich zwei Schichten von jeweils vier Stunden, einmal von mittags um 12 bis nachmittags um vier, einmal von nachts um 12 bis morgens um vier und davor und danach zutörnen. Dafür gabs im Monat eine Überstundenpauschale von 100 Mark (DM).

Das hatte mit Turnen nichts zu tun. Das Wort hatten uns die Engländer geschenkt von to turn = drehen und bedeutete für die Offiziersanwärter, so lange sich irgend was auf dem Schiff dreht, musst du arbeiten. Je mehr, desto besser, denn es spart der Reederei die teuren Werftarbeiten und die langen Liegezeiten im Hafen.

Das Wort “törnen“ benutzten wir für alle möglichen Sachen. Kam z. B. der Smutje – auch Schiffskoch genannt – aus dem Hafen mal wieder mit einem Tripper an Bord, dann war er wieder mal ohne Präser “eingetörnt“. Es gab die obligate Penicillin Spritze vom zweiten Offizier und den guten Rat für zukünftige Häfen.

Als der zweite Einberufungsbefehl kam, war ich bereits im zweiten Semester an der Ingenieurschule und lernte alles über Dampfmaschinen.

Mein Vater stiefelte selbst mit meiner Studienbescheinigung zur Sophienterrasse und traf dort – oh glückliche Fügung – einen “alten Kriegskameraden“, wie er es nannte, mit dem zusammen er die französischen Weinkeller, lange vor meiner Zeit auf dem Heldenfriedhof, leer gesoffen hatte.

Sie wurden sich handelseinig, obwohl es nicht schaden könne, wenn man mir mal “die Hammelbeine lang ziehen würde.“

Ich wurde zurückgestellt.

Die dritte Einberufung kam, da war ich bereits verheiratet. Ich schrieb der Bundeswehr, ich würde gerne kommen, aber leider müsste ich schließlich für meine Frau sorgen. Das wäre für 80,00 Mark (DM) Wehrsold im Monat nicht zu machen. Wieder wurde ich zurück gestellt, die Angelegenheit war “Vater Staat“ offensichtlich zu teuer geworden.

Als es dann wieder mal knapp an Rekruten war, schickte ich meinen Wehrpass zurück und meldete mich nach Berlin West ab.

Damals eine von der Bundeswehr freie Stadt. Hier waren viele Bundeswehr Flüchtlinge. Ich befand mich unter Gleichgesinnten und schraubte bei einer Gleisbaufirma “Max von Knoblauch GmbH“. Auch die Arbeitskollegen hatten alle nicht verweigern wollen.

Die Art, wie die zuständige Kommission das Gewissen der Verweigerer prüfte, war auch oberdämlich. Noch zwanzig Jahre später hörte ich die gleiche Geschichte von meinem Neffen. Von dem bewaffneten Iwan, manchmal auch Ami, der sich an meiner Freundin vergreifen will und was ich dann täte, wenn ich eine MP dabei hätte.

Die richtige Antwort lautete damals und auch noch zwanzig Jahre später: “Ich werfe meine Waffe weg und bitte den Iwan, mit der Vergewaltigung aufzuhören“.

In der “Gewissenskommission“ saßen Leute, die selber keines hatten, die aber alle auf ihre eigene Vergangenheit in den fernen Ländern so stolz waren, die immer nur auf Befehl gehandelt hatten und die sich auch gar nicht erklären konnten, wie es zu diesen “Auswüchsen“ gekommen sei und wenn ihnen dann doch mal die Sache peinlich wurde, dann gab es den Standardsatz “schließlich war doch Krieg“.

Das hörte sich immer so an, als wenn sie so gar nichts damit zu tun gehabt hätten. Schicksal eben. Ganz Deutschland lauscht dem Führer am Volksempfänger.

Die Nazis, eine Bande von durchgeknallten Irren, die alle Gespräche belauschten und jeden ins KZ brachten, der nicht von Anfang an ihrer Meinung war.

Aber von den KZs hatten sie ja gar nichts gewußt. Wie ging das zusammen? Gar nicht. Doch wenn einer wie Ludwig abgehauen war, nicht mitmachen wollte bei ihren Mordgeschäften, dann ist er ein Verräter, wie sie sich ausdrückten. Schade, dass es so wenig Verräter gegeben hat bei uns , denke ich.

Immerhin werden Deserteure heute bei uns nicht mehr erschossen, sondern landen nur für fünf Jahre im Knast. Fahnenflucht nennen sie das. Und wer damals vor der Hakenkreuzfahne floh, ist heute ein Verbrecher, meint unser demokratisch gewähltes Parlament.

Das tut man einfach nicht. Auf der Fregatte haben wir mit einer Luftbohrmaschine gearbeitet – Konus 4 – wenn ihnen das was sagt – , die war so schwer, dass sie nur mit zwei Mann zu tragen war. Und die war so alt “mit der haben sie schon das Schlachtschiff Bismarck gebaut“, bemerkte mein Kollege bei Blohm & Voss..

Hitlers unverwundbares Vorzeigeschiff, das dem Feind nicht in die Hand fallen sollte und deshalb mit Mann und Maus versenkt wurde, als es die Rudermaschine getroffen hatte. Wars nicht so?

Gebaut bei Blohm & Voss in Hamburg. Ich befand mich also in “guter“ deutscher Tradition. Schon zu Beginn meiner Lehrzeit auf der Werft war ich von den älteren Kollegen ermahnt worden, nicht so schnell zu laufen, wenn ich beauftragt wurde, etwas aus dem Lager zu holen. Ihr Hinweis: “Wer läuft, wird erschossen“.

Auf der Werft versuchte ich mich zu wehren, so gut ich konnte.

(Hier bricht das Manuskript ab. Es fehlen zwei Seiten. Vermutlich wollte ich lieber nichts darüber schreiben)

Dann der Schluss: Das Arbeitsamt bezahlte dem angeworbenen Maschinenschlosser mit der Lohnsteuerermäßigung. Einmal im Vierteljahr einen Flug von Berlin nach Hamburg. Damit man, weil man der “Wehrüberwachung“ unterlag, nicht mit dem Zug durch die “Ostzone“ fahren musste, sondern mit der BEA oder Pan Am über die DDR hinweg fliegen konnte.

Mit dem Zug dauerte die Fahrt von Hamburg nach Berlin, die Russen hatten das zweite Gleis nicht wieder zurückgebracht und an den beiden Kontrollpunkten wurde lange gehalten, sieben Stunden. Für eine Strecke von 289 km.

Einmal saß in meinem Abteil ein älterer, schweigsamer Mann. Als der Zug im Sachsenwald den Bahnhof Friedrichsruh passierte, schaute er aus dem Fenster und bemerkte trocken: “So hat jeder sein Holz vom Kaiser bekommen: Der eine den Wald, der andere das Bein.“ Das war was dran. Er war im ersten Weltkrieg gewesen und der, das Holzbein vom Kaiser bekommen hatte. Dem anderen hatte man in Hamburg ein großes und viele kleine Denkmäler gebaut.

Lange, nach dem dieser Text geschrieben wurde, haben Kletterer dem Bismarck Denkmal einen Ziegenbock verpasst. Auch nicht schlecht. Jens Meyer 1983 leicht korrigiert 2019, Fotos Rudolf Heinrich Meyer1904 – 1979, Werner Hensel 1893 – 1986,  Jens Meyer 1946 – noch unbekannt.

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