(erscheint in kürzerer Fassung im Herbst 2019 im Jahrbuch „exilforschung“)
Wilfried Weinke
Im Turnus von drei Jahren feiert sich die Medienstadt Hamburg auch als Stadt der Fotografie. Seit 1999 findet in der Hansestadt die „Triennale der Photographie“ statt, ein Festival unter Beteiligung der lokalen Museen, diverser Galerien und Veranstalter, ein sich über Wochen erstreckendes Ereignis, das mittlerweile internationale Beachtung gefunden hat. Allein 2018 interessierten sich mehr als 200.000 Besucher für die angebotenen Veranstaltungen. Eine der zentrale Ausstellungen des letzten Jahres wurde in den Deichtorhallen unter dem Titel Street. Life. Photography. gezeigt.
Sowohl die von Sabine Schnakenberg kuratierte als auch der von ihr herausgegebene Katalog widmeten sich der Straßenfotografie. In sieben Kapiteln: „Street Life“, „Crashes“, „Public Transfer“, „Lines and Signs“, „Urban Space“ „Anonymity“ und „Alienation“ wurden Klassiker wie Harry Callahan, Robert Frank, Lee Friedländer, William Klein, Lisette Model und Martin Parr mit jüngeren Vertretern der „streetphotography“ zusammengeführt, allesamt der Frage nachgehend, wie Menschen, Individuen wie (Passanten-) Gruppen den öffentlichen Raum, die Straße bestimmen und erleben.
So niveauvoll wie beindruckend einzelne Fotoarbeiten aufscheinen, stellt sich angesichts des marktschreierischen Kaleidoskops von über 300 Fotografien von mehr als 50 Fotografen/-innen vor allem ein Gefühl der Unübersichtlichkeit ein. Der Eindruck einer beliebigen Mischung von Schnappschüssen oder Photoshop-bearbeiteter Reportagen wird auch nicht durch das deutsch/englische, reich illustrierte Katalogbuch beseitigt, dessen Einleitungstexte sich in Zitat gesättigter Geschwätzigkeit ergehen, viel erzählen, ohne zu erklären. Auch wenn die lokale Presse die Schau zu einem phänomenalen Höhepunkt der Triennale erhob, wiegt schwerer, dass dieses Foto-Festival, vor allem aber die beteiligten staatlichen Institutionen, erneut die Beschäftigung mit der Hamburger Fotogeschichte ausspart und engagierten (Kunst-) Historikern überlässt.
Zu ihnen zählt der in Hamburg lebende Kunsthistoriker Roland Jaeger. Seit seiner Dissertation Block & Hochfeld. Die Architekten des Deutschlandhauses. Bauten und Projekte in Hamburg 1921-1938. Exil in Los Angeles (1996) beschäftigte er sich immer wieder mit dem Architekten Fritz Block (1889-1955). Block war nicht nur ein interessanter Vertreter des Neuen Bauens, sondern als umtriebiger Fotograf dem Stil der Neuen Sachlichkeit und des Neuen Sehens verbunden. Parallel zu einer in der Handelskammer Hamburg gezeigten Präsentation von Originalabzügen, Farbvergrößerungen und Druckbelegen aus der Schaffenszeit von Fritz Block erschien 2018 die voluminöse Monografie zu dem fotografierenden Architekten.
Block hatte nicht nur die Bauausführung und den -fortschritt, den Stahlskelettbau wie die Fassaden des von seinem Partner und ihm entworfenen Deutschlandhauses, einem Gebäudekomplexes mit Büros, Restaurants und dem damals größtem Kinosaal Europas, dem „Ufa-Palast“, fotografisch dokumentiert. Von ihm damals erstellte Bildstrecken erschienen in der illustrierten Presse und in Fachzeitschriften wie Die Form und Bauwelt. Breiten Raum in Jaegers reich illustrierter Darstellung nimmt Blocks Stadt- und Reisefotografie ein, die ihn schon vor 1933 nach Paris, Marseille, an die Côte d’Azur, nach Algerien und Tunesien führten. Rund 4.000 Aufnahmen entstanden allein während einer mehrwöchigen Reise durch die USA.
Block nahm nicht nur markante architektonische Besonderheiten amerikanischer Metropolen in den Fokus. Die von ihm benutzen Leica-Kameras ermöglichten ihm zugleich unmittelbare wie humorvolle Aufnahmen von Alltags- und Straßenszenen, von Passanten und Kindern. Zahlreiche Fotografien erschienen auf Titeln und in doppelseitigen Reportagen des Hamburger Anzeigers, aber auch in Jahrbüchern zur Fotografie.
Mit der Gleichschaltung der Presse nach 1933 endete für Block jede Möglichkeit, seine Fotografien zu veröffentlichen. Im Herbst 1933 erfolgte zudem der Ausschluss aus dem Bund Deutscher Architekten. Eine im Frühsommer 1938 unternommene Weltreise diente zur Vorbereitung der Emigration. Kurz nach der Pogromnacht gelang dem Ehepaar Block die Flucht in die USA. Dort wandte sich Block der Farbfotografie zu; fortan bezeichnete er sich als „color photographer“. Unterstützt von seiner Frau versandte die „Dr. Block Color Productions“ bis 1954 seine Farbdia-Serien zu Architektur, Kunst, Design und Technik. Eine insbesondere im Bereich der Exilfotografie einmalige Leistung!
Grundlage für Jaegers aufwendig layoutete Monografie bildet der Nachlass des Fotografen, der sich sowohl im Besitz der University of California in Santa Barbara sowie im Familienbesitz befindet. Bleibt zu hoffen, dass die auch in englischer Fassung veröffentlichte komplexe wie vorbildliche Dokumentation von Leben und Werk Fritz Blocks trotz des hohen Preises zur bleibenden Erinnerung an den aus Deutschland vertriebenen Fotografen beiträgt. Dem Autor gebührt für seine umfassenden Recherchen und sein kontinuierliches Engagement Respekt!
Wie Fritz Block war auch der in Dresden geborene Fred Stein (1909-1967) kein gelernter Fotograf. Durch das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtengesetz“ nahm das Nazi-Regime dem jungen Juristen die Möglichkeit, seine Dissertation wie das zweites Staatsexamen abzuschließen. Als Jude und Sozialist floh er gemeinsam mit seiner Frau im Herbst 1933 nach Paris. Wie Block gelangte er auf autodidaktischem Weg ins fotografische Handwerk. Wie er es selbst sagte: „Dresden vertrieb mich, so wurde ich Fotograf.“
Nach einer großen Präsentation der Fotoarbeiten Fred Steins im Jüdischen Museum Berlin vor sechs Jahren kehrte sein Werk posthum nach Dresden zurück. Das dortige Stadtmuseum würdigte ihn von April bis Oktober 2018 in einer großen Retrospektive. Schon in Paris, Zufluchtsort deutscher und österreichischer Emigranten, hatte Stein Porträts von Ernst Bloch, Bertolt Brecht, Alfred Kantorowicz, Arthur Koestler, Klaus Mann und Willi Münzenberg erstellt. Für Willy Brandt, mit dem Stein freundschaftlich verbunden war, war er rückblickend „sehr avantgardistisch, ein brillanter Fotograf, … ein echter Visionär, wie die Auswahl der Menschen und Motive, die er fotografierte, eindeutig beweist.“
Doch Stein schuf nicht nur beachtliche Porträts; seine Motive fand er – zuerst in Paris, später in New York – in den Straßen dieser Metropolen. Dank seiner Warmherzigkeit, Zugewandtheit und Vertrauenswürdigkeit gelangen ihm wunderbare Fotos von Straßenarbeitern, Verkäufern und Musikanten, Passanten, vor allem aber von Kindern. Lange bevor sich der Begriff „street photography“ etablierte, schuf Fred Stein dank seiner Sensibilität gelungene Momentaufnahmen und Milieustudien.
Nach Internierung in Frankreich und Flucht aus dem Lager flohen die Eheleute Stein gemeinsam mit ihrer Tochter 1941 in die USA. Auch dort erkundete und dokumentierte er mit der Kamera seine neue Heimat; seine Fotografien fanden ihren gedruckten Niederschlag in seinen New York abbildenden Fotokalendern, vor allem in seinem schon 1947 veröffentlichen Buch Fifth Avenue. Erst eine körperliche Einschränkung führte dazu, dass er sich wieder auf die Porträtfotografie konzentrierte. Kein Manko, denn dank seiner Vorbereitung und Gesprächsführung entstanden brillante Porträts von Martin Buber, Marlene Dietrich, Erwin Panofsky, Arnold Schönberg, Josef von Sternberg u.v.a.
Die von ihm ebenfalls porträtierte Hannah Arendt schrieb ihm 1964, er sei „einer der besten zeitgenössischen Portraitfotografen“. Ihr Porträt als auch ein ebenso gelungenes Porträt von Albert Einstein nutzte die Deutsche Post 2005 und 2006 als Motive bundesdeutscher Briefmarken. All dies, die Straßenfotografie wie die Porträts, beinhaltet das die Ausstellung begleitende Katalogbuch. Die vorzüglich gedruckten Schwarz-Weiß-Fotografien bestechen nicht nur durch ihre handwerkliche Qualität; sie überzeugen durch die von Humanität geprägte Sichtweise des Fotografen, der auch den unbekannten Porträtierten mit gleicher Würde und Respekt begegnete wie den zahlreichen Prominenten. Eine unbedingt empfehlenswerte deutsch-englische Veröffentlichung mit einer ansprechend illustrierten Biografie des Fotografen, einer mehrseitigen Lebensskizze der Frau an seiner Seite, einem persönlichen Blick des 74jährigen Sohnes Peter auf seinen Vater sowie dem lesenswerten Aufsatz „Fred Stein im Spiegel von Emigrationserfahrung und politischer Überzeugung“ von Theresia Ziehe, die die Ausstellung im Jüdischen Museum in Berlin kuratierte.
Ein besonderes Kapitel in Fred Steins fotografischem Schaffen nimmt das im Frühjahr 2019 erschienene Buch „Kinder – Children“ in den Blick. Es widmet sich schwerpunktmäßig seinen Fotografien von Flüchtlingskindern des Spanischen Bürgerkriegs in Frankreich.
Noch vor der militärischen Niederlage der republikanischen Streitkräfte, als durch die „retirada“, den Massenexodus mehr als eine halbe Million Menschen aus Spanien nach Frankreich floh, waren zwischen 1936 und 1939 auch ca. 35.000 spanische Kinder nach Frankreich geschickt und dort in mehr als 150 Lagern untergebracht worden. Um die spanische Regierung in ihrem Bemühen zu unterstützen und die Betreuung der Kinder zu sichern, fotografierte Fred Stein in Bayonne, Colombes, Valence und andernorts. Hunderte von Aufnahmen entstanden.
Wann und wo sie damals gezeigt und gedruckt wurden, ist bislang ungeklärt; nunmehr liegt eine bestechende Auswahl von Motiven vor, eingebettet von weiteren Kinderfotografien Steins aus Paris und New York und kommentiert durch informative Essays der Dokumentarfilmerin Dawn Freer, des Kunsthistorikers Christian Joschke und des Journalisten Michel Lefebvre. Peter Stein, der Sohn des Fotografen, benennt in seinem einfühlsamen Vorwort den Status seines emigrierten Vaters als den eines „Außenseiters“. Er würdigt die Arbeit als eine Art „künstlerischer Anthropologie“. Das vorliegende Buch mit seinen tiefes Gerechtigkeitsempfinden, Toleranz und Humanität ausstrahlenden Fotografien dokumentiert ein jahrzehntelange unbelichtetes und beschwiegenes Kapitel europäischer Geschichte.
Der Arzt und Schriftsteller, der Emigrant und Remigrant Alfred Döblin (1878-1957) sollte allgemein bekannt sein. Weniger bekannt dürfte hingegen Yolla Niclas sein (1900-1977), die von der Literaturwissenschaft lediglich als „Langzeitgeliebte und Muse“ des Schriftstellers beschrieben wurde. Der Frankfurter Literaturwissenschaftler Eckhardt Köhn rekonstruierte mit seiner schon 2017 vorgelegten Veröffentlichung „Yolla Niclas und Alfred Döblin“ die Lebensgeschichte dieser Frau. Denn sie war natürlich nicht hauptberuflich Geliebte, sondern Fotografin. Ihre liberalen jüdischen Eltern ermöglichten ihr eine Ausbildung an der „Photographischen Lehranstalt“ des Berliner „Lette-Vereins“. Zuerst als Standfotografin beim Film, sodann freiberuflich arbeitend, konnte sie Ende der Zwanziger Jahre ein eigenes Atelier am Kurfürstendamm eröffnen.
Niclas, die Alfred Döblin im Februar 1921 auf einem Kostümball kennengelernt hatte und mit ihm eine intensive, keineswegs problemfreie Liebesbeziehung eingegangen war, schuf in diesen Jahren zahlreiche Fotografien des Schriftstellers wie seiner Kinder, die auch Eingang in die 1928 erschienene Festschrift Alfred Döblin. Im Buch. Zu Haus. Auf der Straße fanden. Doch fungierte Niclas nicht allein als Döblinsche Hausfotografin, sondern veröffentlichte in den einschlägigen illustrierten Magazinen der Weimarer Republik. Ausführliches Lob erfuhr sie in der Gebrauchsgraphik vom November 1932.
Nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten und angesichts einer Drangsalierung durch Studenten hatte sie sich zur Emigration entschlossen. In ihren Erinnerungen notierte sie: „Mit einer ganz geringen Summe Geldes… verließ ich für immer mein Elternhaus, das Land meiner Jugend und meiner Begegnung mit D. Aber ich will hier keine Biographe schreiben, obwohl ich glaube, dass sie, wie von fast allen Emigranten, interessant ist.“
Frankreich wurde ihr erstes Exilland, in Paris konnte sie erneut ein eigenes Studio eröffnen und ihren Lebensunterhalt mit Porträt- wie Reklamefotografie bestreiten. Auch sie nutzte das Leben auf der Straße für ihre Motivwahl: „In meiner freien Zeit machte ich Aufnahmen von Straßentypen, die großartig den ‚esprit‘ von Paris wiederspiegelten.“ Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges endete auch die zweite Karriere von Yolla Niclas. Nach Internierung und Flucht verließ sie mit ihrem Mann, dem ebenfalls aus Deutschland geflohenen Rechtsanwalt Rudolf Sachs, 1941 Frankreich und emigrierte in die USA.
Nach anfänglichen Schwierigkeiten veröffentlichte Yolla Niclas ab Mitte der 50er Jahre unter ihrem Namen und mit ihren Fotografien illustrierte Kinderbücher. Alfred Döblin, mit dem sie auch in Paris in Verbindung gestanden hatte, sah sie erst unmittelbar vor dessen Remigration nach Europa im Oktober 1945 in New York wieder.
Eckhardt Köhn erweist sich mit diesem in der Reihe edition Luchs herausgegebenen Buch erneut als Meister akribischer Spurensuche, so wie er es schon 2011 in seiner Monografie zu dem in Hamburg geborenen Fotografen Rolf Tietgens getan hat. Für Döblin-Forscher werden vor allem die seiner Darstellung vorangestellten Erinnerungen von Yolla Niclas an Alfred Döblin von großem Interesse sein, die das Literaturarchiv in Marbach mit der Auflage einer 25 Jahre währenden Sperrfrist archiviert hatte. Dass Köhn mit seiner sorgsam illustrierten Studie Yolla Niclas ein eigenes Gesicht wie Kontur verleiht, darf uneingeschränkt gelobt werden. Angekündigte Veröffentlichungen, z.B. zu Nini und Carry Hess, versprechen dank seiner sorgfältigen Recherchen spannende Neuentdeckungen zu werden.
Jenseits der wenigen Kundigen dürfte die Fotografin Maria Austria (1915-1975) für viele eine wahre Neuentdeckung sein. Zur Präsentation der Ausstellung „Maria Austria. Living for Photography“ im Joods Historisch Museum in Amsterdam von Januar bis September 2018 erschien ein umfassendes, in niederländischer Sprache verfasstes Katalogwerk mit dem Titel Maria Austria. Fotografe. Zur erneuten Eröffnung unter der Überschrift „Maria Austria 1915-1975. Eine Amsterdamer Fotografin des Neorealismus“, gezeigt im Verborgenen Museum in Berlin von Oktober 2018 bis März 2019, erfolgte eine auf 48 Seiten reduzierte, deutschsprachige Publikation. Beide Veröffentlichungen stammen von dem Autor und Verleger Martien Frijns, der die mehr als 700 schwarz-weißen wie farbigen Fotografien in enger Zusammenarbeit mit dem „Maria Austria Instituut“ (MAI) in Amsterdam chronologisch geordnet hat.
Als Marie Oestreicher aus einer jüdischen Familie in Karlsbad stammend, studierte sie von 1933 bis 1936 Fotografie an der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt in Wien. Sie lernte, im Stil der Neuen Sachlichkeit zu fotografieren, in der Dunkelkammer zu arbeiten und eigene Fotoabzüge zu erstellen. Zugleich interessierte sie sich für Porträt-, Dokumentar- und Theaterfotografie. Noch vor dem „Anschluss“ Österreichs emigrierte sie nach Amsterdam, wo schon ihre Schwester Lisbeth lebte. Gemeinsam mit ihr, die am Bauhaus in Dessau Textilgestaltung studiert hat, betrieb sie ein kleines Unternehmen, dem sie den Namen „Model en Foto Austria“ gaben. Als freie Fotografin, seit 1939 unter dem Namen Maria Austria, erstellte sie Porträts. Ihre Fotos erschienen in Zeitschriften wie Libelle und Wij, sogar noch in den österreichischen Zeitschriften Die Bühne und Der Sonntag.
Nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Niederlande konnte Maria Austria nicht mehr als Fotografin arbeiten. Beim Joodsche Raad in Amsterdam fand sie eine Beschäftigung. 1943 musste sie untertauchen. „Due to her professional skills she was able to fake identity cards and other documents, an activity of great importance for the resistance and which saved quite a number of lives.“ schrieben die aus Hamburg resp. Prag stammenden Ruth Liepman und Magda van Emde Boas, die sich wie Maria Austria am Widerstand gegen die deutschen Besatzer beteiligt hatten.
Beide, Liepman wie Emde Boas, hatten das 1976 erschienene, schlicht Maria Austria betitelte Buch zu ihrer lebenslangen Freundin eingeleitet. In seinem nun vorgelegten, 784 Seiten zählenden Katalogbuch würdigt Martien Frijns sie als eine der bekanntesten niederländischen Fotografinnen. Das Buch präsentiert Aufnahmen aus Maria Austrias Versteck in Amsterdams Vondelstraat, wo sie gemeinsam mit Henk Jonker, ihrem späteren Mann, untergetaucht war und das zugleich als Fälscherwerkstatt diente. Nach der Befreiung der Niederlande hatte sie mit ihm und anderen gleichgesinnten Fotografen die Fotoagentur „Particam“ gegründet, eine Wortschöpfung aus Partisanen und Camera. Austrias Fotos dokumentieren die Not der Nachkriegsjahre, aber auch die Freude über den sozialen wie politischen Neuaufbruch, sie erfasst in ihren Aufnahmen Alltagsszenen auf Straßen, auf Märkten wie Spielplätzen.
Eine bemerkenswerte Fotodokumentation entstand 1954. Beauftragt von Otto Frank dokumentierten Maria Austria und Henk Jonker in der Fotoserie „Het Achterhuis“ penibel und bis ins kleinste Detail das Hinterhaus in der Amsterdamer Prinsengracht, in dem die Familie Frank zwei Jahre versteckt lebte. Diese schlichten wie bedrückenden Fotos dienten als Grundlage für das Bühnenbild des Theaterstücks „The Diary of Anne Frank“, das 1955 in New York uraufgeführt wurde. Zudem dienten Maria Austrias Aufnahmen als Grundlage für die authentische Gestaltung des Anne-Frank-Hauses als Gedenkstätte.
Neben unzähligen Porträts, z.B. von Josephine Baker, James Baldwin, Benjamin Britten, Maria Callas, Norbert Elias, Erika und Thomas Mann, Bertrand Russell und Albert Schweitzer, widmete sich Maria Austria vor allem Musikveranstaltungen, Theater- und Operninszenierungen. Ihr Augenmerk galt besonders dem avantgardistischen Theater und Tanz; für das Mickery-Theater, einer wichtigen Bühne für freie Ensemble, arbeitet sie viele Jahre als „Hausfotografin“. Martien Frijns möge es mit seinem Buch gelingen, diese bis an ihr Lebensende engagierte Fotografin auch in Deutschland bekannt zu machen und ihr die gebührende Anerkennung in der Fotogeschichte zu verschaffen.
Auf drei weitere Veröffentlichungen des letzten Jahres sei, auch wenn sie nicht unmittelbar mit der Exilforschung in Verbindung stehen, unbedingt hingewiesen. Zum 80. Jahrestag des Pogroms vom November 1938 legte der renommierte Fotograf Michael Ruetz eine beachtenswerte Foto- und Textdokumentation vor; der Buch zu den reichsweiten durchgeführten Gewalttaten trägt den Titel Pogrom 1938. Das Gesicht in der Menge.
Die Beate Klarsfeld gewidmete und von Christoph Stölzl eingeleitete Veröffentlichung entstand in Kooperation mit der Berliner Akademie der Künste. Dort wurde es in einer Gedenkveranstaltung am 9.11.2018, begleitet von einer Rede des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier und eines Vortrags des Historikers Wolfgang Benz, der Öffentlichkeit vorgestellt.
Ruetz lenkt den Blick, wie es der Untertitel verspricht, auf das „Gesicht in der Menge“. Auf jene, die sich in Straßen und auf öffentlichen Plätze einfanden, um dem gewaltsamen Schauspiel beizuwohnen, neugierig wie schaulustig, hämisch wie schadenfroh, oder, gänzlich ungeniert und skrupellos, an den Plünderungen teilnehmend. Die von Ruetz und seiner Mitarbeiterin Astrid Köppe zusammengestellte Dokumentation belegt insbesondere durch die Vergrößerung von Bildausschnitten die fröhliche Teilhabe der deutschen Volksgemeinschaft an öffentlicher Diffamierung und organisiertem Zerstörungswerk. Das Buch belegt durch Fotos wie begleitende Augenzeugenberichte den, wie Ruetz es ausdrückt, „Landfriedensbruch im ganzen Land“, was 1938 vor aller Augen geschah.
Parallel zu der von März bis November 2018 im Mémorial de la Shoah in Paris gezeigten Ausstellung erschien das dreisprachige Katalogbuch August Sander. Verfolger/Verfolgte. Menschen des 20. Jahrhunderts. Es kann nur auf den ersten Blick verwundern, dass Fotografien von August Sander (1876-1964) an diesem speziellen Ort gezeigt werden, der zentralen Gedenk- und Dokumentationsstätte zur Geschichte der Juden in Frankreich und ihrer Verfolgung. Doch gerade die Aufnahmen Sanders, in denen sich Porträt- und Dokumentarfotografie“ verbinden, liefern, wie es Sophie Nagiscarde, eine der Ausstellungsverantwortlichen, in ihrem Geleitwort schreibt, „einen unverstellten Blick auf die Geschichte“.
Die nunmehr dank des nachdrücklichen Engagements des Enkels August Sanders erstmals öffentlich gezeigten Gesichter von Opfern wie Akteuren nationalsozialistischer Politik müssen dem vom Fotografen betitelten Langzeitprojekt „Menschen des 20. Jahrhunderts“ zugeordnet werden. Diese auf 45 Mappen mit jeweils 12 Tafeln konzipierte Dokumentation erschien 1929 in der von Alfred Döblin mit einem Vorwort versehenen, auf 60 Bildtafeln reduzierten Vorabpublikation Antlitz der Zeit, publiziert im Transmare/Kurt Wolff Verlag. Dieses heute zu den wichtigsten Fotobüchern des 20. Jahrhunderts zählende Buch wurde 1936 aus dem Handel gezogen und von der Gestapo beschlagnahmt; selbst die Druckplatten wurden zerstört.
Schon 1947 arbeitete Sander wieder an seinem Großprojekt. In einem Brief an den Schriftsteller Sarnetzki hieß es: „Wir brachten die Judenmappe zu Papier. Es handelt sich hierbei um solche Personen, die entweder emigriert oder ihr Leben in den Gaskammern ausgehaucht haben; alles hervorragende Köpfe unpolitischer Menschen. Weiter eine Mappe mit politischen Gefangenen und eine dritte Mappe mit Fremdarbeitern“. Dank der Nachforschungen des NS-Dokumentationszentrums Köln konnten die von Sander erwähnten Porträts Kölner Juden mit Informationen zu ihren Lebens- und Leidenswegen versehen werden. Für die vertiefende Lektüre sei besonders auf die Beiträge des Enkels Gerhard Sander sowie von Werner Jung, dem Direktor des Kölner Dokumentationszentrums, hingewiesen. Jung beschreibt die Beziehung des Vaters zu seinem Sohn Erich Sander (1903-1944), der 1935 als Leiter der illegalen Kölner Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) und wegen seiner Beteiligung am Widerstand zu einer zehnjährigen Zuchthausstrafe verurteilt worden war. Auch dank der Unterstützung seiner Eltern konnte er in seiner Funktion als Zuchthausfotograf Aufnahmen politischer Gefangener machen und aus der Haftanstalt herausschmuggeln. All dies dokumentiert das nun vorgelegte Buch in detaillierter Form. Eine Ausstellung und ein Begleitbuch, die unsere Sicht auf den Fotografen August Sander und sein monumentales Werk „Menschen des 20. Jahrhunderts“ um wichtige Facetten erweitert!
Und auch die jüngste Veröffentlichung zur Fotografin und Reporterin Lee Miller (1907-1977) darf nicht unerwähnt bleiben. Denn das Buch Lee Miller. Deutschland 1945 mit seinen 160 schwarz-weiß Abbildungen, von dem amerikanischen Historiker Richard Bessel mit einer Schilderung des historischen Kontextes ihrer Entstehung versehen, liefert einen ungeschönten Blick auf das gerade durch amerikanische Truppen befreite Deutschland.
Viele werden den Namen Lee Miller lediglich mit jenem Foto verbinden, das sie 1945 in Hitlers Badewanne in München zeigt. Doch sie auf diesen provokanten fotografischen Nebenschauplatz zu reduzieren, wäre oberflächlich. Denn seit Dezember 1942 war sie von der amerikanischen Armee als Korrespondentin der Zeitschrift Vogue akkreditiert; seit Mai 1944 arbeitete sie als Kriegsberichterstatterin für die Condé Nast Press. Seit Juli 1944 war sie den vorrückenden Truppen gefolgt, dokumentierte die Befreiung von Paris, besuchte das Konzentrationslager Natzweiler-Struthof kurz nach dessen Befreiung im November 1944.
Erste Aufnahmen auf deutschem Boden machte Lee Miller in den kriegszerstörten Städten Aachen und Köln. Ihre erste Reportage in Vogue trug den Titel „Germany … out of the German Prison“ und zeigte das zerstörte Kölner Gestapo-Gefängnis sowie zwei ehemalige Gefangene. Ihre Fotos aus Buchenwald und Dachau erschienen im Juni 1945 unter der Überschrift „Believe it. Lee Miller Cables from Germany.“ In ihrem Begleittext hieß es: „ Deutschland ist eine schöne Landschaft, die mit Dörfern wie mit Schmuckstücken übersät ist, befleckt mit zerstörten Städten und von Schizophrenen bewohnt… Sie werden das Ende des Krieges und den Verlust des Krieges geheimnisvoll und unerklärlich finden. Das Einzige, was sie davon verstehen werden: die Verlustlisten und die massive Zerstörung ihrer Städte aus der Luft.“
Das Foto in Hitlers Badewanne kann als symbolische Reinigung verstanden werden; tags zuvor hatte Lee Miller Dachau besucht, Tote und Überlebende des Konzentrationslagers fotografiert. Es kann nicht verwundern, dass Lee Miller der deutschen Bevölkerung mit Vorbehalt und offener Ablehnung begegnete, deren Unterwürfigkeit und Liebenswürdigkeit sie als abstoßend empfand. Sie war jenem Nachkriegsdeutschland begegnet, das in seiner Majorität den Nationalsozialismus unterstützt hatte, jedoch umgehend dazu überging, Wissen und Verantwortung zu leugnen.
Lee Millers Fotografien dienten übrigens 1999 als Illustration des Buches Lügendetektor. Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/45 von Saul K. Padover. Sie wären für Hannah Arendts Bericht Besuch in Deutschland genauso nützlich gewesen, in dem die Autorin ein nicht nur äußerlich zerstörtes Deutschland beschrieb.
Literaturhinweise:
Sabine Schnakenberg (Hg.): Street. Life. Photography. Street Photography aus sieben Jahrzehnten. Heidelberg (Kehrer Verlag) 2018. 244 S.;
Roland Jaeger: Foto-Auge Fritz Block. Neue Fotografie – Moderne Farbdias. Zürich (Scheidegger & Spiess) 2018.; 336 S.;
Erika Eschebach, Helena Weber (Hg.): Fred Stein. Dresden. Paris. New York. Dresden (Sandstein Verlag) 2018. 240 S.;
Alexander Atanassow (Hg.): Fred Stein. Kinder- Children. Paris – Spanische Bürgerkriegsflüchtlinge – New York. Paris – Spanish Civil War Refugees – New York. Dresden (Kunstblatt-Verlag) 2019. 176 S.;
Eckhardt Köhn (Hg.): Yolla Niclas und Alfred Döblin. Lautertal (Edition Luchs) 2017. 140 S.;
Martien Frijns: Maria Austria – Fotografe. Enschede/Doetinchem (AFdH Uitgevers) 2018. 784 S.;
Martien Frijns: Maria Austria – Fotografin. Enschede/Doetinchem (AFdH Uitgevers) 2018. 48 S.;
Michael Ruetz: Pogrom 1938. Das Gesicht in der Menge. Wädenswil (Nimbus Verlag) 2018. 156 S.;
August Sander. Verfolgte/Verfolger. Menschen des 20. Jahrhunderts. Herausgegeben mit dem Mémorial de la Shoah, Paris und der August Sander Stiftung. Göttingen (Steidl Verlag) 2018. 240 S.
Richard Bessel: Lee Miller. Deutschland 1945. Köln (Greven Verlag)
2018. 140 S.
Wilfried Weinke
(erscheint in kürzerer Fassung im Herbst 2019 im Jahrbuch „exilforschung“) pdfWilfried WeinkeExilforschungStahlskelettbau Deutschlandhaus. Foto Staatsarchiv Hamburg (Sommer 1929) pdfSeite15RolandJaegerBDA
Fotos 1984 oben und Abriss unten August 2019 Jens Meyer